4. Tagung des Zentralinstituts „Anthropologie der Religion(en)“

4. Tagung des Zentralinstituts „Anthropologie der Religion(en)“

Organisatoren
Zentralinstitut „Anthropologie der Religion(en)“ (ZAR) Erlangen
Ort
Erlangen
Land
Deutschland
Vom - Bis
29.09.2014 - 30.09.2014
Url der Konferenzwebsite
Von
Marion Steinicke, Forschungsschwerpunkt „Kulturelle Orientierung und normative Bindung“, Universität Koblenz-Landau

Die vierte vom Zentralinstitut „Anthropologie der Religion(en)“ (ZAR) Erlangen ausgerichtete Konferenz zielte darauf ab, die thematisch zentralen Begriffe „Perfektion“ und „Perfektibilität“ unter theoretischen wie praxisbezogenen Gesichtspunkten vor dem Hintergrund eines weitgespannten historischen Spektrums zu diskutieren. Nach der Begrüßung durch den Sprecher des ZAR, Jürgen von Oorschot, eröffnete CHRISTOPH HENNING (Erfurt) die Tagung mit einer grundlegenden Analyse der perfektionistischen Ethik, die sich in seinen Augen keineswegs auf theologische Fragestellungen reduzieren lässt, da sie bereits in der antiken Philosophie als zentrales kulturelles und anthropologisches Problem verhandelt worden sei. Auch aus diesem Grund scheint es unzulässig, wie einige ihrer Kritiker, namentlich John Rawls oder Isaia Berlin, versucht haben, jeder perfektionistischen Ethik prinzipiell paternalistische und sektiererische oder sogar totalitäre Tendenzen zu unterstellen. Die Schriften des britischen Perfektionisten T.H. Green basieren zwar auf dem Gedanken eines „göttlichen Prinzips“ von zweifelhafter Autorität und Ausschließlichkeit; andererseits wird John Dewey versuchen, die von T.H. Green inspirierte perfektionistische Ethik unter den Prämissen einer extremen Diesseitigkeit im Sinne eines fortlaufenden Vervollkommnungsprozesses weiterzudenken. Da für Dewey die Perfektibilität des Menschen „ein permanentes Provisorium“ darstellt, das in sich selbst begründet ist, bedarf sie keiner metaphysischen Instanz.

ULRIKE LUDWIG (Dresden/Erlangen) begann ihren Vortrag mit einer – auch und gerade für die heutigen Bildungspolitiker – höchst aktuellen Anekdote, der zufolge die sächsischen Universitäten im 16. Jahrhundert einer drohenden Mittelkürzung nur aufgrund einer geomantischen Befragung des Kurfürsten entgehen konnten. Bei dieser Orakelpraxis, die im Verlauf des 12. Jahrhunderts über Nordafrika nach Europa gelangte, werden unter Ausschaltung des Bewusstseins punktierte Linien erzeugt, die anschließend zu spezifischen Figuren zusammengestellt werden, um aus den unterschiedliche Konstellationen Antworten auf zuvor gestellte Fragen abzuleiten. Im Unterschied zur Astrologie galt die Geomantie als eine eher simple Wissenschaft, für deren Ausübung keine hochbezahlten Experten notwendig waren. Das erklärt möglicherweise die mangelhafte Dokumentation dieser speziellen Divinationspraxis, wenngleich die Referentin zugleich betonte, dass noch zahlreiche Quellen der Entdeckung respektive Auswertung harren dürften. Geomantische Praktiken waren keineswegs nur am Dresdener Hof bekannt und lassen sich daher nicht durch besondere Vorlieben des Landesherren, August von Sachsen, erklären, der als bekennender Lutheraner strenge Verbote gegen die Ausübung schwarzer Magie erließ. Indessen diente ihm die Geomantie zur systematischen Kontrolle der landesweiten Berichterstattung wie zur Überprüfung seiner Beamtenschaft. Allerdings wurde in allen Fällen die Geomantie nur ergänzend und nicht als ausschließliches Erkenntnis- und Entscheidungsinstrument eingesetzt. Die Referentin sah darin eine „divinatorische Variante der Vervollkommnung“: der Blick in die Zukunft sollte offenbar den Herrscher dazu befähigen, die für die Gegenwart bestmögliche, mithin „perfekte“ Entscheidung fällen zu können.

Der zweite Konferenztag begann mit einem Vortrag von FLORIAN HESSDÖRFER (Leipzig), der sein Thema an einem signifikanten Foto veranschaulichte: Es zeigt den experimentellen Psychologen Alfred Binet mit einem kleinen Probanden, der gebannt und zugleich wie abwesend auf ein großes Messgerät blickt. Das 19. Jahrhundert, so der Referent, nahm das „bessere Leben“ buchstäblich in den Blick, um Ressourcen zu messen und auszuschöpfen. Wie die systematischen Untersuchungen eines Francis Galton zeigten, würden – um den Menschen und vor allem Kindern „ins Herz blicken“ zu können – Statistiken eine immer wichtigere Rolle spielen. Die Erkundung und Erfassung seelischer Aspekte vor dem Hintergrund der Individualisierungsmaxime der zeitgenössischen Pädagogik zielte darauf ab, eine möglichst ungestörte Entwicklung des Kindes zu gewährleisten. In dieser Tradition stand auch der amerikanische Pädagoge Henry Goddard, der Kinder in „feeble minded“, „average“ oder „gifted“ kategorisiert und entsprechende Gebrauchsanweisungen zur effizienten Nutzung der menschlichen Intelligenz als gesellschaftlicher Ressource entwickelt hat. Die zunehmende Ökonomisierung in der „Geistbewirtschaftung“ manifestierte sich auch in der von William Stern 1912 entwickelten Formel zur Berechnung eines „Intelligenzquotienten“ zur präzisen Kalkulation menschlicher Potentiale. Unter Berufung auf Adornos „Minima Moralia“ und dessen durchweg kritische Einschätzung einer ständigen Perfektibilität des Lebens beschloss Heßdörfer seinen Vortrag mit der Bemerkung, dass sich das „bessere Leben“ nicht als Steigerung, sondern als Operationalisierung des „guten Lebens“ verstehe, die den Überschuss des als jenseitiges Desiderat darin angelegten Ideals „einkassiere“.

STEFAN L. SORGNER (Erlangen) war in seinem Vortrag um eine Bestimmung des Begriffs „Transhumanismus“ bemüht, der von dem Eugeniker Julian Huxley eingeführt worden ist. Als „Vater des Transhumanismus“ gilt der australische Philosoph Nick Bostrom, der die generellen Ziele des Transhumanismus auf der Grundlage eines – wie auch Sorgner einräumt – überholten Geschichtsbildes unter dem Begriff des „Renaissance-Ideals“ subsumiert hat: entsprechend sei der Mensch dazu aufgerufen, alle erdenklichen Technologien zur Anwendung zu bringen, um sich dem „klassischen Menschenideal“ entsprechend als „Renanaissance genius“ zu vervollkommnen. Für den australischen Eugeniker Julian Savulescu, der bei dem einflussreichen Hirnforscher Peter Singer studiert hat, erstrecke sich die moralische Verpflichtung zur Vervollkommnung bereits auf eine Selektion bei der Befruchtung. Gute Gesundheit, gesundes Fortpflanzungspotenzial, insbesondere Ausschluss von Behinderung seien Voraussetzung für die allgemeine Steigerung von Intelligenz, Gedächtnis und Empathie. Zur Vervollkommnung der menschlichen Spezies (die sich allerdings nicht notwendig an einem „klassischen Schönheitsideal“ orientieren müsse) sei es zwingend geboten, sich moderner enhancement-Methoden zu bedienen. Abschließend betonte Sorgner seine persönliche Abwendung von jeder normativ ausgerichteten Ethik, wobei er die philosophische Notwendigkeit eines rigorosen Pluralismus anführte, der im Rahmen gesetzlicher Bestimmungen dem Einzelnen je nach individueller Ausrichtung und Interesse Wege zu einem „besseren Leben“ eröffnen solle.

Unter literaturwissenschaftlichen Gesichtspunkten untersuchte AGNES BIDMON (Erlangen) das im frühen rabbinischen Judentum geprägte Konzept des „tikkun olam“. Gemeint ist eine von Gott etablierte Ordnung, die es nicht zu verbessern, sondern zu erhalten gilt, da die Vervollkommnung der Welt allein Gott und nicht dem Menschen zusteht. Diese Auffassung wird im Kontext der lurianischen Kabbala modifiziert, die das liturgische Gebet und somit die Teilhabe der Gläubigen als Voraussetzung für eine „Wiederherstellung“ Gottes ansieht und damit tikkun olam als einen aktiven Vorgang begreift. Im 18. Jahrhundert führte die jüdische Emanzipation zu einer Säkularisierung des Messianismus und einer allgemeinen gesellschaftlich-politischen Entwicklung, die das Heil zunehmend im Diesseits suchte. Mit dem Postulat eines ewigen Fortschritts, dessen „Machbarkeit“ als lineare Entwicklung gedacht wird, vollzieht sich eine paradigmatische Richtungsänderung, die auch das tikkun olam affiziert und ihm zunehmend die Bedeutung einer sozialen Verantwortung für die Weiterentwicklung der Gesellschaft zuschreibt. Im Denken von Adorno und Judith Butler manifestieren sich die beiden wirkungsmächtigsten Ausdeutungen, die das Konzept des tikkun olam im 20. Jahrhundert erfährt: kontemplative Wiederherstellung der geistigen sowie konkrete Verbesserung der materiellen Welt. Adornos „Reflexionen aus dem beschädigten Leben“ interpretierte die Referentin als einen implizit in Sprache und Duktus messianisch bestimmten Versuch einer Reparatur eben dieser „Beschädigung“; dagegen verweist Butlers Kritik gegenüber der Politik Israels explizit auf das Konzept tikkun olam als eine dem Judentum eingeschriebene Verpflichtung, für das einzustehen, was „gutes Leben in einer heutigen Welt“ sei, und Widerstand zu leisten gegen das, was jenes verhindere.

Das Paradox einer „(Un-)Vollendeten Perfektion“ bildete den thematischen Ausgangspunkt des nachfolgenden Beitrags, der – wie es im Untertitel heißt – eine „narrative Ausdeutung des Begriffes tam anhand der Jakobsfigur“ intendierte. Es erscheine merkwürdig, so die Referentin MARTINA WEINGÄRTNER (Erlangen), dass gerade Jakob, der sich nach seinem intrauterinen Kampf mit Esau auf dubiose Weise das Erstgeburtsrecht zu sichern weiß, als „tam“ und daher mit einem Begriff aus der Weisheitstradition bezeichnet wird, der sonst eine Person von richtigem Lebenswandel charakterisiert: mithin einen gelingendes oder „perfektes“ Leben verkörpernden Gerechten oder Weisen. Aus den unterschiedlichen Episoden der Jakobserzählung, den Aussagen der „Psalter“ und den „Sprüche Salomos“ wird ein spannungsreicher Prozess der Perfektion abgeleitet, in dem Jakob, der seiner Ungeduld und Maßlosigkeit wegen zunächst als das Gegenteil von tam erscheint, schließlich zur personalisierten Konkretion des Weisheitsideals avanciert. In der narrativen Logik des Texts, so die Referentin, nehme die langsame Vervollkommnung Jakobs ihren Anfang in der Vision der Himmelsleiter, die ihn – ein Charakteristikum des „Weisen“ – Furcht vor den Herrn empfinden und ein erstes Heiligtum stiften lässt, während der mit Jacobs Flucht eingeleitete Persönlichkeitswandel zu einem tam in seinem Kampf mit dem Engel und dem nachfolgenden Identitätswechsel – „Du sollst nicht mehr Jakob heißen, sondern Israel“ – seinen beredeten Ausdruck findet. Jakobs Sieg geht dabei konsequent einher mit seiner Verwundung; seine demütige Aussöhnung mit Esau wird im Modus eines Perfektionsprozesses eingeleitet, der das Imperfekte impliziert.

Mit dem Vortrag von RÜDIGER BRAUN (Erlangen) wurde auch das Fach der Islamischen Theologie, das in der Türkei an zahlreichen Hochschulen gelehrt wird, in die Tagungsdiskussion einbezogen. Anhand des aufgeladenen Begriffs der „Menschenwürde“ entwarf der Referent eine fachspezifische „Typologie der Diskurse“, wobei er zugleich betonte, dass sich der Topos von der Würde des Menschen nur in einem gespannten Verhältnis zu einer Religion denken lasse, die sich – wie der Islam – als Religion der Perfektibilität par excellence verstehe. Braun unterschied erstens einen „Ethico-Zentrismus“, der in der Nachfolge von al-Satibi die Universalität des Islam postuliere und Zugänge einer kritischen Theologie oder Texthermeneutik grundsätzlich ablehne. Mit „abgrenzender Perspektive“ wird ein zweiter Diskurstypus bezeichnet, der generell antiwestlich geprägt sei und auch die Diskussion um Menschenrechte als „List“ eines säkularisierten Westen verwerfe. Der dritte Typus der „redaktiv-adaptiven Perspektive“ zeichne sich durch den Versuch einer „Indigenisierung“ der Menschenwürde aus: Indem Frömmigkeit als oberster Wert und die Ausübung des Glaubens als generelle Befreiung verstanden werden, konstatiere man eine „doppelte Würde“ des Islam, die gleichermaßen dem Individuum wie auch der Gemeinschaft zukomme. Narrative Unterscheidungen würden zwar generell anerkannt, letztlich aber nur dem Islam Erlösungspotential zugeschrieben; entsprechend werde die Dynamik der Religionsgeschichte als Entwicklungsprozess von lokalen zu universalen Kriterien verstanden. Mit „Intertextueller Koranhermeneutik“ verwies der Referent schließlich auf einen vierten Diskurstypus, der für eine kontextbezogene Exegese des Koran plädiere und dessen Historizität als mündliche Quelle anerkenne. Das Interesse richte sich dabei vornehmlich auf die Art und Weise, wie im Koran biblische Stoffe verarbeitet werden. Eine allgemeine Würde des Menschen werde zwar zugestanden, nicht aber als Würde vor Gott. Dabei unterstrich Braun seine Auffassung, dass sich der interreligiöse Dialog mit Vertretern dieser vierten Diskursrichtung zwar leichter gestalten lasse. Da auch hier der Koran als unbedingte moralische Direktive gelte, würde es dennoch keinen gemeinsamen Nenner, keine „shared values“ und somit auch keine wirkliche Grundlage für eine Diskussion um eine säkulare Menschenwürde geben, die – so das Fazit – sich aus dem Korantext auch nicht herleiten lasse.

Zweifellos war nicht beabsichtigt, im Rahmen dieser Tagung einen auch nur annähernd vollständigen Überblick über die vielfältigen Konzepte des „guten“ und/ oder „besseren“ Lebens zu vermitteln. Statt dessen sind dank der sorgfältig überlegten Zusammenstellung der Beiträge originelle und in diesem Kontext bislang nur unzureichend berücksichtigte Aspekte schlaglichtartig beleuchtet und damit die fachübergreifenden Fragestellungen zur Perfektibilität auf bedenkenswerte Weise bereichert worden. Darüber hinaus hat die Tagungsdiskussion explizit ein allgemein wieder auflebendes Forschungsinteresse an der Frankfurter Schule deutlich gemacht, das sich in den letzten Jahren auch in anderen Diskussionszusammenhängen abzeichnet und wissenschaftsgeschichtlich als aufschlussreiches Signal verstanden werden könnte. Es wird interessant sein, welchen Stellenwert die prominenten Begriffe des „Guten“ und des „Besseren“ in ihrem spannungsreichen komparativen und damit auch interrelationalen Bezugsverhältnis in der künftigen, nicht nur akademischen, sondern auch gesellschaftspolitischen Diskussion spielen werden.

Konferenzübersicht:

Jürgen von Oorschot (Erlangen), Begrüßung

Christoph Henning (Erfurt), Vom absoluten Geist zum permanenten Provisorium. Die Wandlung des Perfektionismus zwischen T.H. Green und John Dewey

Ulrike Ludwig (Dresden/Erlangen), Mit magischen Mitteln zur richtigen Entscheidung. Die geomantischen Fragestücke Kurfürst Augusts von Sachsen (1526/53-1586) als Instrumente der Herrschaftsoptimierung

Florian Heßdörfer (Leipzig), Die Perfektion des Möglichen. Optimieren und Messen als pädagogisches Projekt um 1900

Stefan L. Sorgner (Erlangen), Drei transhumanistische Arten der (post)humanen Perfektion

Agnes Bidmon (Erlangen), „Heal the world“ – Das jüdische Perfektionierungskonzept Tikkun Olam und seine geistesgeschichtliche Transformation von rabbinischer Zeit bis zur Gegenwart

Martina Weingärtner (Erlangen), (Un-)Vollendete Perfektion. Eine narrative Ausdeutung des Begriffes tam anhand der Jakobsfigur

Rüdiger Braun (Erlangen), Würde, Defizienz und Perfektibilität – Intertextuell-dialogische Zugänge zum Adam-Mythos in der zeitgenössischen türkischen Theologie