Im Jahr 2015 steht das Ende des Zweiten Weltkrieges im Zentrum der öffentlichen historischen Debatten. Zahlreiche Veranstaltungen, Presseartikel oder TV-Dokumentationen widmen sich den Ereignissen vor 70 Jahren. Das Interesse am Jahr 1945 ist im Vergleich zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, der vor einem Jahr ebenfalls ein rundes Gedenkjubiläum zu verzeichnen hatte, deutlich höher. Diese Asymmetrie könnte zu der Annahme führen, dass es viel schwerer fällt, an den Anfang des Krieges als an dessen Ende zu erinnern. Die Konferenz „Der Zweite Weltkrieg. Kulturtourismus und Politik“ nahm die Erinnerung an den ganzen Krieg in den Blick und bettete sie in den heutigen Kulturtourismus ein. Im Vordergrund stand die Frage nach der Möglichkeit einer Vernetzung von lokalen und regionalen Erinnerungsorten, auch jenseits der Staatsgrenzen. Daher wurden Vertreter von Orten der Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg aus Deutschland, Polen, Russland, Weißrussland und der Ukraine zur Teilnahme eingeladen. Bei der Konferenz ging es um sowohl um Kulturlandschaften nach dem Krieg als auch auf die Ideologien folgend, die bis zum Umbruch 1989/90 das geschichtliche Narrativ weitgehend geformt hatten. Die Veranstaltung wurde im Rahmen des deutsch-polnischen Projektes „Geschichte, Erinnerung und Tourismus. Der Zweite Weltkrieg in kulturtouristischen Angeboten und der Politik der Grenzregion“ durchgeführt. Die Einbeziehung der osteuropäischen Perspektive stellte eine Plattform zum Austausch dar.
In der Einführung erläuterte OLGA KURILO (Frankfurt an der Oder) die Hauptlinien der aktuellen Erinnerungspolitik in Deutschland, Polen und in Russland. Dabei wies sie auf die Unterschiede in der Bewertung von einzelnen Ereignissen hin, z.B. am Beispiel der Rolle der Roten Armee als Befreier oder Besatzer. Darüber hinaus sprach sie von der Europäisierung der Erinnerung. Der Zweite Weltkrieg sei als eine europäische Erfahrung zu verstehen und deshalb solle man die Erinnerungsorte an diesen Krieg ebenfalls als europäische Orte betrachten. Die Einführung von Gedenktagen am 23. August und am 27. Januar seien wichtige Schritte zur Entnationalisierung der Erinnerung. In diesem Sinne könne man bei allen bekannten Schwierigkeiten die in der deutsch-polnischen Oder-Region liegenden Museen und Gedenkstätte dazu anregen, von einem gemeinsamen Narrativ über den Zweiten Weltkrieg auszugehen. Es ging hier um die Gedenkstätte Seelower Höhen in Seelow, das Museum der Festung Küstrin in Kostrzyń und das Museum für die Märtyrer in Słońsk, welches der Geschichte des Zuchthauses und des Konzentrationslagers Sonnenburg gewidmet ist. Ihrer Meinung nach haben diese Erinnerungsorte eine überregionale, eben europäische Bedeutung und sollten in gemeinsamen Aktivitäten einen Beitrag zur Wissensvermittlung und Erinnerung an die Ereignisse 1939-1945 leisten.
Einen Blick in die museale Erinnerung in Brandenburg warf SUSANNE KÖSTERING (Potsdam). Sie konzentrierte sich auf die Militärgeschichte in dieser Region und konstatierte, dass es große Schwierigkeiten gibt, diese in den Museen zu behandeln. Lange Zeit betrachtete man sie als Herrschafts- und Gewaltgeschichte. Erst seit den letzten zwei Dekaden sieht man in diesem Bereich auch soziale Aspekte, was dazu führte, dass man die Militärgeschichte immer mehr als Gesellschaftsgeschichte versteht. Die brandenburgischen Museen setzten sich deshalb verstärkt mit den Ideologien und Strategien der Kriegsführung auseinander. Jedoch ist es nach wie vor schwer, Themen wie Aufrüstung und Hochtechnologie zu präsentieren, da sie gewisse Berührungsängste erzeugen. Große Bedeutung kommt den lokalen Museen zu, die oft aus erfahrungsgeschichtlicher Perspektive kritische Fragen aufwerfen. Zum Schluss erwähnte die Referentin ein dezentrales Projekt zur Sicherung lokaler Spuren des Jahres 1945 in der brandenburgischen Region, im Rahmen dessen von Jugendlichen Zeitzeugen befragt und Familienerinnerungen untersucht werden.
Im Impulsvortrag von KATARZYNA WONIAK (Berlin) wurde der Kontext um die Gedenkstätten an die ehemaligen Konzentrationslager erweitert. Am Beispiel von Auschwitz stellte die Referentin die touristische Wahrnehmung des Ortes durch die zahlreichen Besucher dar. Für viele Menschen sei das ehemalige Vernichtungslager ein Ausflugsziel, worauf die Pietätlosigkeit und das freizeitliche Verhalten hinweist. Die gesuchte Authentizität werde durch die spontanen Besucher kaum reflektiert. Es gehe vornehmlich darum, „Auschwitz gesehen zu haben“. Der authentische Ort verliert damit seinen geschichtlichen Wert und gewinnt dafür an kommerziellem Interesse. Diese Entwicklung sei bedenklich und stelle die Gedenkstätten vor neue Herausforderung. Die Referentin betonte, dass es beim „Dark Tourism“ oder „KZ-Tourismus“ mehr um eine kulturelle Praxis als um einen Lernprozess geht.
Nach den drei einführenden Vorträgen erfolgte die Vorstellung von konkreten Einrichtungen aus fünf Ländern, deren Vertreter anwesend waren: das Kriegs-Museum „OfLag II C Woldenberg“ in Dobiegniew (Polen), das Museum Platkow, das Museum der Festung Küstrin in Kostrzyń (Polen), das Museum für Geschichte und Kunst in Kaliningrad (Russland), das Museum der Festung Brest (Weißrussland) und das Regionale Staatliche Museum für Volksarchitektur und Brauchtum in Czernowitz (Ukraine). Diese Einrichtungen widmen sich zwar unterschiedlichen geschichtlichen Themen und korrespondieren mit differenzierten Geschichtsbildern, sehen aber alle im Zweiten Weltkrieg den Schwerpunkt ihrer Tätigkeit. In der anschließenden Diskussion wurden die Erfahrungen der Mitarbeiter in der Vermittlungsarbeit ausgetauscht. Man betonte, dass man ein gewisses Wissen vom Publikum voraussetzen, aber in der Praxis sich auf bestimmte Bereiche konzentrieren solle. Vor allem die lokalgeschichtlichen Themen sollten einbezogen werden. Zum Schluss erfolgte eine Führung durch die Gedenkstätte Seelower Höhen, die sowohl die Ereignisgeschichte als auch die Rezeptionsgeschichte thematisierte.
Der zweite Konferenztag wurde mit einem Impulsvortrag von PETRA HAUSTEIN (Potsdam) über Tourismusmarketing an historischen Orten begonnen. Die Gedenkstätten öffnen sich langsam für neue Besuchergruppen, wie Wanderer und Radfahrer und verstehen sich immer mehr als Stätte der historischen und politischen Bildung. Dabei warnte sie davor, Kulturtourismus mit Massentourismus zu verwechseln. Beim Kulturtourismus gehe es um Besucher, die auch andere Interessen mitbringen und sich über geschichtliche Vorgänge in der Region informieren wollen. In Ihrem Fazit sprach die Referentin über eine lernende Gesellschaft, die sich aus freiwilligen Besuchern zusammensetzt. Sie sei Ausdruck für eine veränderte Wahrnehmung, gewandelte Motivationen und für die Suche nach individuellem Gedenken. Die Gedenkstätten sollen nicht bloß erinnern, sondern auch zur Auseinandersetzung mit der Geschichte auffordern.
Über die Erinnerungskultur in der deutsch-polnischen Grenzregion referierte KARL-KONRAD TSCHÄPE (Frankfurt an der Oder). An beiden Seiten der Oder gab es bis zum Umbruch 1989/90 ideologisch beladene Erinnerungsorte. In Polen wurden die Territorien an dem Grenzfluss als „Wiedergewonnene Gebiete“ verklärt. Deshalb entstanden Orte, die symbolisch einerseits an die mittelalterliche Herrschaft der Polen und anderseits an den polnischen Kampf im Zweiten Weltkrieg erinnern sollten. In der DDR wurde der Krieg im öffentlichen Raum ebenfalls nach politischen Richtlinien thematisiert. Nach 1990 konnte sich diese Region zu einer offenen Kulturlandschaft entwickeln. Die Erinnerungsorte erzählen immer mehr die deutsch-polnische Geschichte. Damit verwandelt sich die Grenzregion in einen kommunikativen und kulturübergreifenden Grenzraum.
WIESŁAW SKROBOT (Słubice) sprach über Erinnerungskultur im ehemaligen deutschen Ostpreußen, heute Masuren und Ermland. In Anlehnung an das Projekt der deutsch-polnischen Erinnerungsorte, das am Zentrum für Historische Forschung Berlin der Polnischen Akademie der Wissenschaften realisiert wurde, betonte der Referent, wie wichtig es sei, die Geschichte eines Ortes in transnationaler Perspektive zu betrachten. Er analysierte die Wandlung der lokalen Erinnerungskultur am Beispiel von Denkmälern und stellte fest, dass die kommunistische Ideologie durch neue Narrative ersetzt wurde bzw. wird. An vielen Stellen entstehen Orte, die der Erinnerung an die deutschen Einwohner der früheren Provinz Ostpreußen gewidmet sind. Dieser Beitrag ermöglichte einen Vergleich der Kulturlandschaften der Oder-Region mit der an der polnisch-russischen Grenze. In beiden Fällen geht es um eine Aneignung und Miterbschaft des fremden Kulturerbes.
Am Nachmittag erfolgte die Exkursion zum Museum der Festung Küstrin in Kostrzyń und zum Martyrium Museum in Słońsk. Die erste Einrichtung wurde 2008 eröffnet und widmet sich der Geschichte der Stadt und der Festung. Das Museum umfasst das so genannte „Küstriner Pompeji“, die Ruinen der Altstadt mit einem urwüchsigen Netzwerk von Straßen. In der Bastion Philip befindet sich eine Dauerausstellung. In Słońsk wird im Museum der Opfer des Zuchthauses und des Konzentrationslagers gedacht. In den Jahren 1933-1945 wurden dort politische Gefangene interniert, darunter auch viele polnische. Im Jahr 2014 erfolgten die Sanierung des seit 1974 bestehenden Museums und die Eröffnung einer neuen Dauerausstellung, die im Rahmen eines grenzübergreifenden EU-Projektes finanziert wurde. Beide Orte liegen direkt an der deutsch-polnischen Grenze und bilden eine Plattform zum Dialog und Austausch über die regionale Geschichte unter besonderer Berücksichtigung des Zweiten Weltkrieges. Vor diesem Hintergrund scheint die Idee einer Erinnerungsroute Seelow-Kostrzyń-Słońsk plausibel und notwendig zu sein.
Am dritten und letzten Tag der Konferenz gab es Beiträge aus der kulturtouristischen Praxis. IMKE FREIBERG (Fürstenwalde) sprach über die Arbeit des Netzwerkes „Kulturtourismus Seenland Oder-Spree“. Sie betonte, dass der Kulturtourismus auch ein Wirtschaftsfaktor für die Region sei. Das Netzwerk unterstützt das Engagement der Akteure durch Fortbildungen. Des Weiteren trägt es zur Stärkung der kulturellen Identität der Einwohner bei. Die deutsch-polnische Grenzregion verfügt über kulturtouristisches Potenzial, das in gemeinsamen Aktivitäten genutzt werden soll.
Ebenfalls einen praktischen Schwerpunkt hatte der Vortrag von MATTHIAS DIEFENBACH (Frankfurt an der Oder). Am Beispiel seines Unternehmers „HeimatReise“ stellte er die Chancen und Probleme des grenzübergreifenden Tourismus dar. Die wirtschaftliche Vermarktung einer kulturhistorischen Reise ohne Subventionen sei eine Herausforderung. Zwar gäbe es eine touristische Erwartung, aber diese betrifft vor allem die Festungsbauten, die ein beliebtes Ziel darstellen. Die Reisen sollten den Spuren der Geschichte und der Mythen nachgehen. Es geht um Vermittlung der verschiedenen Perspektiven auf eine durch den Zweiten Weltkrieg gebrochene Region.
Über eine lokale erinnerungskulturelle Initiative auf polnischer Seite sprach ZBIGNIEW CZARNUCH (Witnica). Er erläuterte die Konzeption des von ihm vor 15 Jahren gegründeten Wegweiser-Parks in Witnica (dt. Vietz). Der Pfad ging auf die Rettung und Sammlung von historischen Gegenständen im öffentlichen Raum zurück. Im Park werden unterschiedliche Themen angesprochen. Den Zweiten Weltkrieg erklärt der Pfad der Totalitarismen. Er zeigt den Krieg und sucht Antworten auf die Frage, warum Polen im Jahr 1945 in die ehemaligen deutschen Gebiete gekommen sind. Mit dieser Initiative wird unterschiedlichen Zielgruppen die Geschichte der Region mit Hilfe von historischen Objekten präsentiert. Der Referent konstatierte, dass die Menschen auf beiden Seiten der Oder viel zu wenig voneinander wissen.
Den letzten Vortrag hielt GERD-ULRICH HERMANN (Seelow). Er plädierte für den Aufbau eines Netzwerkes für gemeinsame erinnerungskulturelle Aktivitäten in der Oder-Region. Den Kulturtourismus unterteilte er in Militärtourismus und Gedenktourismus. In beiden Bereichen müsse man Alleinstellungsmerkmale ansprechen. Die Praxis zeige, dass Seelow, Kostrzyń und Słońsk die Menschen anziehen. Daher seien die bildungstouristischen Angebote für unterschiedliche Besuchergruppen sehr wichtig. Der Referent betonte, dass es hier um eine ländliche und strukturschwache Region gehe, die aber einen gemeinsamen Kulturraum darstelle. Gesellschaftliches Interesse gibt es auf der deutschen und polnischen Seite. Es fehlt eine Leitstelle, die strategische Entwicklungen koordinieren würde. Darüber hinaus mangele es an zweisprachigen Ausschilderungen, Reiseführern und qualifiziertem Personal.
In der Abschlussdiskussion wurde noch einmal deutlich, wie wichtig die Zusammenarbeit zwischen Polen und Deutschen in der Grenzregion ist. Die anwesenden polnischen kommunalen Vertreter und Mitarbeiter des brandenburgischen Ministeriums für Wissenschaft, Forschung und Kultur tauschten Erfahrungen mit der Einwerbung von Drittmitteln und mit Öffentlichkeitsarbeit aus. In beiden Ländern gibt es andere Strukturen, zwischen Ihnen Sprachbarrieren und eine finanzielle Asymmetrie. Eine Chance für die Region bildet die touristische Vernetzung der Erinnerungsorte, die auch zur wirtschaftlichen Entwicklung viel beitragen würde. Durch die Gründung einer Koordinationsstelle an der Universität Viadrina in Frankfurt (Oder), die notwendige Kapazitäten und Ressourcen besitzt und Interesse an der regionalen Entwicklung zeigt, könnte die Vernetzung regionaler Akteure, die Initiierung neuer touristischen Angebote sowie die Durchführung grenzüberschreitender Projekte angemessen realisiert werden – so das Ergebnis der Konferenz. Die Partner aus Russland, Weißrussland und der Ukraine können wertevolle Impulse für die Gestaltung der Erinnerungskultur in einer Grenzregionen leisten. Alle bei der Konferenz thematisierten Länder stellen Kulturlandschaften dar, die vom Zweiten Weltkrieg stark geprägt worden sind und die Teilnehmer der Tagung wollen diese Erfahrung in pädagogischen und touristischen Aktivitäten an eine breitere Öffentlichkeit vermitteln. Die wachsende zeitliche Distanz zu den Ereignissen macht diese Zusammenarbeit umso notwendiger.
Konferenzübersicht:
Olga Kurilo (Frankfurt an der Oder)/Gerd-Ulrich Hermann (Seelow), Begrüßung / Einführung
Olga Kurilo (Frankfurt an der Oder), Erinnerungsorte in Osteuropa – Bruch und Kontinuität
Susanne Köstering (Potsdam), Museen halten die Erinnerungen wach. Militärhistorische Themen in den Museen Brandenburgs
Katarzyna Woniak (Berlin), KZ als Erinnerungs- und Tourismusort
Diskussion: Museen und Gedenkstätten stellen sich vor – Gedankenaustausch
Thematische Führung: Die Seelower Höhen. Schlachtfeld und Erinnerungsort
Petra Haustein (Potsdam), Geschichte vor Ort: Erinnerungskultur im Land Brandenburg für die Zeiten von 1990-1993
Karl-Konrad Tschäpe (Frankfurt an der Oder), Die Grenzregion als Kulturraum
Wiesław Skrobot (Słubice), Kulturtourismus in der Grenzregion
Exkursion „Erinnerungsroute – Słońsk-Küstrin-Seelow“
Imke Freiberg (Fürstenwalde), Management und Marketing von kulturtouristischen Angeboten
Matthias Diefenbach (Frankfurt an der Oder), Aspekte des Marketings von kulturtouristischen Angeboten aus der Sicht eines privaten Unternehmens
Zbigniew Czarnuch (Witnica), Wegweiser-Park in Witnica und der Zweite Weltkrieg
Gerd-Ulrich Hermann (Seelow), Erfahrungen zur Erweiterung von grenzüberschreitenden Produkten zur Bewahrung des kulturhistorischen Erbes und der Stärkung des ländlichen Raums
Diskussion
Olga Kurilo (Frankfurt an der Oder)/Gerd-Ulrich Hermann (Seelow), Auswertung der Konferenz