Wertewandel in Wirtschaft und Arbeitswelt? Arbeit, Leistung und Führung in den 1970er und 1980er Jahren in der Bundesrepublik Deutschland

Wertewandel in Wirtschaft und Arbeitswelt? Arbeit, Leistung und Führung in den 1970er und 1980er Jahren in der Bundesrepublik Deutschland

Organisatoren
Historisches Seminar, Neueste Geschichte, Johannes Gutenberg-Universität Mainz
Ort
Mainz
Land
Deutschland
Vom - Bis
26.03.2015 - 28.03.2015
Url der Konferenzwebsite
Von
Sebastian Seng, Dortmund

Just als die Mainzer Tagung über „Wertewandel in Wirtschaft und Arbeitswelt?“ zu Ende ging, erläuterte sueddeutsche.de in einem Artikel über Demokratie am Arbeitsplatz die neuesten Erkenntnisse deutscher Führungskräfte: „So, wie wir im Moment arbeiten, geht es nicht weiter. Linien-Hierarchie, in der alles auf Befehl und Gehorsam beruht, und Management nach Zahlen helfen in einer unübersichtlicher werdenden Welt nicht mehr weiter. […] Die Chefs merken, „Ich gegen den Rest“ funktioniert nicht mehr und suchen immer öfter einen kooperativen Führungsstil.“1 Solche regelmäßig wiederholten Diagnosen eines Wertewandels von „neuer“ Qualität müssen Historiker/innen suspekt erscheinen, unterscheiden sie sich doch kaum von Feststellungen aus den 1970er- und 1980er-Jahren. Daher bot sich der Anlass, im Rahmen einer Tagung den Wertewandel in Wirtschaft und Arbeitswelt aus historischer Perspektive zu beleuchten. Ziel der Tagung war es, den Wandel von „Arbeitsethos, Leistungsvorstellungen und Führungskonzepten im Verhältnis zu ökonomischem und gesellschaftlichen Wandel“ zu untersuchen. Dadurch sollten die Ergebnisse der älteren sozialwissenschaftlichen Wertewandelsforschung hinterfragt und Hintergründe, Mechanismen und öffentliche Verhandlungen von Werteverschiebungen besser verstanden werden.2

Den Tagungszielen entsprechend betonte JÖRG NEUHEISER (Tübingen) in seiner Einführung, dass die Beschäftigung mit Wertewandel für die Zeitgeschichtsforschung impliziere, sowohl die in der Zeitgeschichtsforschung vorgebrachten Thesen zu den Zäsuren und Brüchen der Zeitgeschichte seit 1965/75, zeitgenössische Gesellschaftsdiagnosen und die sozialwissenschaftliche Forschung zum Wertewandel in den 1980er- und 1990er-Jahren empirisch zu überprüfen und in den letzten beiden Fällen zu historisieren, wie auch Wertewandel als Bestandteil zeitgenössischer Konflikte zu untersuchen. In diesem Zusammenhang bekräftigte BERNHARD DIETZ (Mainz) unter Bezugnahme auf die Debatte über den Umgang der Geschichtswissenschaft mit sozialwissenschaftlicher Forschung Andreas Rödders Vorschlag, zwischen Wertewandel als wissenschaftlichem Gegenstand (Beobachtung erster Ordnung) und Wertewandel als diskursivem Phänomen (Beobachtung zweiter Ordnung) zu unterscheiden.3 Über diese Unterscheidung hinaus forderte er dazu auf, gezielt die Interdependenzen zwischen Wertewandel-Phänomenen und dem Diskurs-Phänomen Wertewandel zu untersuchen, um auf diese Weise die Frage nach den Zäsuren des Wertwandels in einer neuen Perspektive zu bearbeiten.

Beide Beiträge der ersten Sektion „Arbeit und Arbeitsethos“ relativierten sogleich die in den Jahren 1965/75 angesetzte Zäsur des „Wertewandelsschubs“. PETER-PAUL BÄNZIGER (Basel) verdeutlichte anschaulich anhand von Ego-Dokumenten, dass bereits in den 1920er-Jahren im Zuge des Entstehens der modernen Konsum- und Arbeitsgesellschaft Subjektivierungstypen sichtbar wurden, die materielle und postmaterielle Elemente verknüpften. Wichtige Anregungen Bänzigers für die Wertewandelsforschung sind der empirische Gehalt von Ego-Dokumenten sowie die Nutzung von Subjektivierungstypen als Begriffsmittel, um langfristige Transformationen seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts zu analysieren. Während Bänzinger also die Notwendigkeit von Perspektiven langer Dauer demonstrierte, relativierte JONATHAN VOGES (Hannover) den „Wertewandel“ im Hinblick auf seinen Ort und seine Richtung, indem er das Phänomen des Do it yourself in der Bundesrepublik zwischen den 1950er- und 1980er-Jahren erkundete. Er veranschaulichte dabei die Fruchtbarkeit einer praxeologischen Herangehensweise für die Untersuchung von Wertewandelsphänomenen. Mit ihrer Hilfe zeigte er, dass sich in der Praxis des Heimwerkens traditionelle Arbeitswerte wie Fleiß, Selbständigkeit, Ganzheitlichkeit, handwerkliches Arbeiten und Stolz auf das Geleistete mit Werten wie Selbstentfaltung und Selbstverwirklichung amalgamieren konnten und aus dem Arbeits- in den Freizeitbereich übertragen wurden, wodurch es letztendlich zu einer Privatisierung arbeits- und leistungsbezogener Werte kam.

Die Sektion „Unternehmen und Unternehmer“ gab Anlass, sich stärker mit Faktoren und Triebkräften des Wertewandels zu beschäftigen. FRIEDERIKE SATTLER (Frankfurt am Main) identifizierte das 1968 nach dem Vorbild der Harvard Business School gegründete Universitätsseminar der Wirtschaft (USW) als Akteur des „Wertewandelsschubs“ der Jahre 1965/75. Indem es sozial- und wirtschaftswissenschaftliche Theorie und Praxis verbindende Lehrinhalte aufgriff, vermittelte es den Manager/innen die Bedeutung der Unternehmensorganisation als eigene ökonomische Ressource. Gleichzeitig zeigten die internen Konflikte um das Profil des USW in den 1970er-Jahren, dass Selbstentfaltungswerte lediglich als Sekundärtugenden zur Verbesserung der Effizienz von Verfahren und Methoden der Unternehmensführung angesehen wurden. In diesem Fall scheinen folglich wirtschaftliche Erfolgskriterien Wertewandel induziert zu haben. Mit Blick auf die Führung westdeutscher Großunternehmen stellte CHRISTIAN MARX (Trier) ebenfalls die Bedeutung wirtschaftlicher Rahmenbedingungen für die Veränderung unternehmerischer Werthaltungen heraus. Zwischen 1966 und 1982 führten Wettbewerbsdruck und Konkurrenzsituation zur Einführung stärker am Markt orientierter Unternehmensstrategien, die wiederum die sozialen Praktiken der Unternehmensführung veränderten, indem Unternehmensberaterinnen zu festen Bestandteilen der Unternehmensführung wurden und so das Denken, Reden und Handeln der Managerinnen beeinflussten. Demgegenüber lösten sich die Unternehmen zwischen 1984 und 1995 durch die zunehmende Bedeutung von Shareholderinteressen von traditionellen Ideen sozialer Verantwortung und ihrer Gebundenheit an „paternalistische Interessen“.

Mit dieser Argumentation müssen die Ergebnisse MARKUS RAASCHs (Mainz) kontrastiert werden. Er nahm am Beispiel der Bayer-Werke in Leverkusen und Dormagen die vier zentralen Narrative der Unternehmenspolitik von Bayer von seiner Neugründung bis in die 1990er-Jahre in den Blick („Familie Bayer“, das Unternehmen als Trutzburg, das Unternehmen als Patron und die Vorstellung der Schicksalsgemeinschaft mit den Umlandgemeinden). Im Gegensatz zu den beiden vorhergehenden Beiträgen zeigte er, dass die klassisch bürgerlich-konservativen Unternehmenswerte von Bayer trotz wirtschaftlicher Brüche und Herausforderungen bis in die 1990er-Jahre weitgehend erhalten blieben. Der Zusammenhang zwischen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen und dem Wandel von Wertediskursen und Werten ist also nicht einseitig und muss daher unternehmensspezifisch eruiert werden. Das Beispiel Bayer zeigt außerdem, dass die These von den 1970er- und 1980er-Jahren als Phase des Übergangs zu relativieren ist.

Trotz unterschiedlicher thematischer Schwerpunkte stellte das Verhältnis von Wertewandel als diskursivem Phänomen und Wertewandel als Gegenstand der Beobachtung die implizite thematische Klammer der Sektionen „Neue Leitbilder des Kapitalismus“ sowie „Presse und Wertewandel“ dar. So konnten BERNHARD DIETZ (Mainz) und MAXIMILIAN KUTZNER (Gießen) überzeugend darlegen, dass sich seit dem Ende der 1960er-Jahre die mediale Verhandlung von Werten wesentlich veränderte. Dietz wies nach, dass die sich verändernde Interaktion von öffentlichkeitsoffensiveren Unternehmern, publikumsnahen Management-Magazinen und der neuen Zielgruppe der leitenden Angestellten auf einen Wertewandel in der Wirtschaft seit Ende der 1960er-Jahre verweise, weil sich im Rahmen von Diskussionen über Führungskonzepte der alte Begründungszusammenhang von Leistung löste und Führung, Autorität und Hierarchie neu verhandelt wurden. Ein ähnliches Ergebnis erzielte Kutzner, der die Diskussion um Werte in der bundesdeutschen Presse zwischen 1950 und 1990 anhand der Wirtschaftsteile der FAZ, des „Spiegel“ und der „Zeit“ untersuchte. Während in diesen Zeitungen bis Ende der 1960er-Jahre traditionelle Werte wie Fleiß und Sparsamkeit betont wurden, diskutierten sie Arbeit seitdem nicht nur unter wirtschaftlicher Perspektive, sondern thematisierten zunehmend auch Selbstentfaltung. Die Spannung von Arbeit und Freizeit blieb anschließend bis in die 1980er-Jahre der grundlegende Verhandlungsgegenstand.

In diesem Zusammenhang ist der Beitrag SINA FABIANs (Potsdam) zu beachten, da sie mit dem Phänomen der Yuppies eine soziale Gruppe einer eingehenden kulturhistorischen Überprüfung unterzog, die in den 1980er-Jahren die Medienaufmerksamkeit beanspruchte. In der diskursiven Darstellung der Yuppies identifizierte Fabian Wertorientierungen, die quer zur Inglehartschen Wertewandelsthese lagen, da Yuppies sowohl als karriere- als auch konsumorientiert dargestellt wurden. Gleichzeitig schienen sie durch ein hohes Maß an Identifikation mit ihren Arbeitgebern geprägt zu sein, was auf ein um Mitbestimmung erweitertes Arbeitsethos hindeutete. Vor dem Hintergrund von Fabians Ergebnissen scheint also – wie in der Diskussion festgestellt wurde – die Wertewandelstypologie von Helmut Klages der historischen Realität eher zu entsprechen, während die Inglehartschen Wertewandelstypen als zu holzschnittartig und verkürzend erscheinen.

Seit der 1975 einsetzenden Wertewandelsdebatte, spätestens aber seit Beginn der 1980er-Jahre, lässt sich der Wertewandel nach Kutzner als medialisierter Prozess beschreiben, da die Diskussion über Arbeitswerte und über „den Wertewandel“ in Wirtschaft und Arbeitswelt untrennbar mit dem Pressediskurs verflochten waren. Diese Beobachtung bestätigte Dietz, indem er nachwies, dass „der Wertewandel“ zu Beginn der 1980er-Jahre als unhinterfragt hingenommenes Faktum Eingang in die Berichterstattung von Wirtschaftsmagazinen fand, aus Sicht der Unternehmen für Personalführung und Marketing unter dem Stichwort „den Wertewandel managen“ als sehr bedeutend eingeschätzt und durch seine scheinbare Evidenz selbst Teil eines neuen kapitalistischen Überzeugungs- und Legitimationsmodells geworden sei. CAROLA WESTERMEIER (Gießen), die den Blick auf das Wechselverhältnis von Werbung und Werbekritik in den 1970er-Jahren richtete, stellte in Einklang mit Dietz fest, dass nach dem moralischen Wiedererstarken der Werbung Ende der 1970er-Jahre das Marketing breite Akzeptanz gefunden habe. Folge der engen Orientierung des Marketing an den Bedürfnissen spezifischer Konsumentengruppen war, dass es die im „Wertewandel“-Diskurs zur Verfügung gestellte Selbstverwirklichungssemantik aufnahm und dadurch den Eindruck eines Wertewandels noch verstärkte.

Für weitere Untersuchungen zum Wertewandel ergibt sich daraus erstens die Erfordernis, die mediale Selbstreflexivität des Wertewandels und deren Folgen für Untersuchungsansatz und Ergebnisse stets zu reflektieren. Zweitens verstärken diese Befunde die Notwendigkeit, den diskursiven Wandel mit sozialen Praktiken und institutionellen Rahmenbedingungen in Beziehung zu setzen, um die Auswirkungen des medialisierten Wertewandels auf Werthaltungen einzubeziehen und die angesprochene Selbstverwirklichungssemantik nicht zu überschätzen.

Diese Notwendigkeit führte JÖRG NEUHEISER in der Sektion „Alternative Ökonomie“ deutlich vor Augen. Denn während die Forschung das alternative Milieu und dessen Betriebe als Ausdruck eines Trends zum Postmateriellen und -industriellen sowie als antikapitalistische Experimente deutete, die ganz im Sinne des „neuen Geistes“ des Kapitalismus zu „utopischen Schulen unternehmerischer Tugenden“ wurden, zeigte Neuheiser anhand der Diskurse und sozialen Praktiken alternativer Betriebe, dass ihr Arbeitsverständnis vielfach dem Traum von guter alternativer Arbeit in staatlich regulierten Arbeitsverhältnissen entsprach, in dem aber auch klassische bürgerliche Arbeitsideale wie Arbeitsethos, Stolz auf das eigene Tun und die eigene Qualifikation zum Tragen kamen. Daher lassen sich alternative Betriebe weniger als Schulen für das „unternehmerische Selbst“ oder Manifestationen des Postmateriellen, sondern als Orte der Realisierung von Selbstentfaltungswerten und des Strebens nach guter Arbeit im Rahmen eines klassischen Arbeitsethos verstehen. Während sich alternatives Wirtschaften und Arbeiten also nicht mit den klassischen Wertewandelstheoremen fassen lässt, entsprach die Selbstbeschreibung von Freiwilligen des 1963 gegründeten Deutschen Entwicklungsdienstes (DED), wie sie in deren Erfahrungsberichten zum Ausdruck kam, eher der im klassischen Wertewandelsparadigma postulierten Entwicklung. BENJAMIN MÖCKEL (Köln) wies nach, dass die Freiwilligen sich in ihren Selbstdarstellungen von dem primär durch Lohn motivierten und für eine hyperrationale Moderne stehenden Entwicklungsexperten absetzten und stattdessen Flexibilität, Kooperation und flache Hierarchien betonten. In ihren Berichten manifestierten sich einerseits die Verflüssigung von Arbeit und Freizeit und das Verschwimmen von Arbeits- und Sozialbeziehungen, andererseits idealistische Erwartungen und Abenteuerdrang.

BRIGITTA BERNETT (Zürich) griff in ihrem Vortrag über den Umbau der Personallehren in den 1970er-Jahren in der Sektion „Wissenschaftliche Beobachtung und Beratung“ die Frage nach den Triebkräften des Wertewandels wieder auf. Im Gefolge einer über die Unternehmen hinausgehenden zeitgenössischen Kritik an der Politökonomie der Nachkriegszeit kam es zu einem Umbau der Personallehren. Diese stellten zunehmend Partizipation und Kooperation in den Mittelpunkt des Führungsverhaltens und wollten über ein besseres Verständnis des Menschen eine Humanisierung der Arbeit erreichen. Diese Modifikationen führte Bernett einerseits auf die Arbeitsmarktlage und den Strukturwandel zurück, die die Heterogenisierung der Arbeit förderten und zur Suche nach Wegen der kollektiven Einbindung von Angestellten anregten. Andererseits ließen staatliche Eingriffe und Mitbestimmung Unternehmen als Kostenverursacher und Belastung für die Umwelt erscheinen.

Im Gegensatz zu Bernett widmete sich LUKAS HELD (Zürich) ausschließlich der Ebene der gesellschaftlichen Selbstbeschreibung und analysierte die bundesdeutsche Höhenkammdebatte um den Begriff der „Leistungsgesellschaft“. Er interpretierte die seit 1963 geführte Diskussion als sozialintegrative Strategie und Selbstverständigungsdiskurs angesichts gesellschaftlicher Fragmentierung, Ausdifferenzierung und Verwissenschaftlichung am Ende der Hochmoderne. Zwar trafen sich die linke Kritik an Leistung und Leistungsgesellschaft mit affirmativen konservativen Stimmen in der Suche nach personaler Ganzheitlichkeit. Während linke Kritiker der Leistungsgesellschaft vorwarfen, die gesellschaftliche Unterdrückung des Menschen zu rechtfertigen, bekräftigten konservative Stimmen traditionelle Arbeitstugenden. Daraus ließ sich bezogen auf den Wandel von Werten jedoch lediglich die fortdauernde Gültigkeit traditioneller Werte ableiten, was immerhin die These eines einheitlichen und linearen Wertewandels relativiert. Auf dieses Ergebnis liefen auch die Ausführungen von SEBASTIAN SENG (Mainz) hinaus, der sich in der Sektion zum Thema „Migration“ anhand der medialen Repräsentation japanischer Bergarbeiter zwischen 1957 und 1965 sowie türkeistämmiger Jugendlicher Ende der 1970er-/ Anfang der 1980er-Jahre mit der Selbstbeschreibung der bundesdeutschen Gesellschaft beschäftigte. Während einerseits die Einbindung von Bergarbeitern in organische Kollektive sowie die Referenz auf vorindustrielle Arbeitsweisen und gemeinschaftsbildende Traditionen an Bedeutung verloren, blieb die Relevanz individueller Leistung, daran geknüpften Aufstiegsstrebens, handwerklichen und beruflichen Könnens weiterhin hoch.

WERNER PLUMPE (Frankfurt am Main) leitete die Abschlussdiskussion mit einigen kritischen Überlegungen zu den Inhalten der Tagung ein. Er wies erstens auf das Problem hin, den Wandel von Diskursen über Werte, Arbeit und Wirtschaft mit dem historischen Wandel von Werten in Beziehung zu setzen, ohne der Gefahr von Zirkelschlüssen zu erliegen. In diesem Zusammenhang schien den Diskutant*innen eine schärfere Unterscheidung zwischen Wertewandel und diskursivem Wandel sowie eine stärkere Rückbindung von Diskursen an soziale Praktiken notwendig, um Aussagen über Wertveränderungen machen zu können.

Offen blieb für Plumpe zweitens das Erklärungspotenzial von Werten für individuelles Verhalten, da zwischen Motiven und den am Sagbaren ausgerichteten artikulierten Verhaltensgründen unterschieden werden müsse. Fruchtbarer erschien es ihm drittens, Prozesse der Institutionengestaltung zu untersuchen, da Institutionen sowohl ihr Verhalten als auch Änderungen ihrer Gestaltung begründen müssten. Aus den entstehenden Begründungszusammenhängen ließen sich Rückschlüsse auf Werte ziehen wie auch die Rückwirkungen von in Institutionen gegossenen Werten auf Entscheidungsverhalten beobachten. Viertens drängte sich Plumpe die Frage auf, ob das Verblassen von Werten automatisch zu neuen Begründungszusammenhängen führe oder ob Werte gerade in Institutionen durch die Prozeduralisierung von Deliberation ersetzt würden.

Im Laufe der Abschlussdiskussion trat erneut die Frage hervor, inwieweit sich Wertewandel in der Wirtschaft letztendlich einzig aus der Funktionslogik des wirtschaftlichen Systems – also aus der Wirksamkeit von Leistungs- und Erfolgsgesichtspunkten – heraus ergebe. Wo also kommen (neue) Werte in Wirtschaft und Arbeitswelt her und wo sind sie zu verorten? Rein systemtheoretisch betrachtet, scheint die Antwort eindeutig zu sein. Wenn Wirtschaft aber nicht nur als „Rechenmaschine“ angesehen wird, sondern als kommunizierendes und interdependentes System, dann eröffnet sich die Möglichkeit, mit der nötigen Ergebnisoffenheit im Sinne des Wertewandelsdreiecks konkrete Wechselverhältnisse zwischen Diskursen, sozialen Praktiken und institutionellen Rahmenbedingungen zu untersuchen, in deren Spannungsfeld sich erst von Werten sprechen lässt. Gerade Markus Raaschs Beitrag verdeutlichte, dass die Frage nach den Triebkräften des Wertewandels fallspezifisch zu beantworten ist.

Ebenso wenig kann sich die historische Wertewandelsforschung der Frage nach dem Ort von Werten im Rahmen wirtschaftlichen Handelns entziehen. In den Diskussionen der Tagung gab es verschiedene Antworten auf diese Frage. So wurde vermutet, dass Werte besonders bei der Begründung von Unternehmensentscheidungen oder in der Art und Weise, wie Unternehmen Marktentwicklungen angepasst würden, zum Tragen kämen. Ein weiterer Lokalisationspunkt könnte die Organisation praktikabler Arbeitsbeziehungen sein, so dass sich Werte in der Vermittlung zwischen Unternehmensführung und Beschäftigten finden ließen.

Da der schillernde Begriff „Werte“ durch seine allgegenwärtige wissenschaftliche und alltägliche Verwendung die Gefahr der Uneindeutigkeit und Normativität mit sich bringt, stellten die Tagungsteilnehmenden wiederholt die Frage nach einem gemeinsamen Begriffsverständnis. Es wurde vorgeschlagen, dass Werte sich als informelle Regeln des Erwartungsabgleichs, die gesetzlich und moralisch sanktioniert seien, oder als Rationalitätskriterien verstehen ließen. Diese Vorschläge lassen sich durchaus mit dem Definitionsvorschlag vereinbaren, den die Mainzer Wertewandelsforschung in Anlehnung an den Kulturanthropologen Clyde Kluckhohn vorgelegt hat.4

Ein weiteres wichtiges Ergebnis der Diskussion bildete die Feststellung, dass sich Wertveränderungen vornehmlich durch Untersuchungsperspektiven langer Dauer – mindestens von den 1920er-Jahren bis in die 1990er-Jahre – ihrer häufig postulierten Neuheit entkleiden und in ihrer Spezifität verstehen lassen. Daraus ergibt sich umgekehrt die Herausforderung, den Einfluss der Zeitdimension auf die Untersuchungsergebnisse zu reflektieren. Als Leerstelle der Tagung kristallisierte sich der drastische Wandel der Geschlechtercodierung von Arbeit heraus. Auch wenn dieser in Vorträgen immer wieder punktuell angedeutet wurde, fehlte doch eine systematische Betrachtung dieses Aspekts.

Soweit sich bereits Ergebnisse einer historischen Wertewandelsforschung abzeichnen, hat diese Tagung erneut verdeutlicht, dass die Jahre von 1965 bis 1975 zwar eine Zeit beschleunigten Wandels gewesen zu sein scheinen, sie sich aber langfristig betrachtet bei weitem nicht als so einschneidend erweisen, wie dies die sozialwissenschaftliche Werteforschung, aber auch das Strukturbruch-Paradigma suggerieren. Wie gerade die Vorträge zum Wertewandel in Unternehmen zeigten, lässt sich schwerlich von einem Wandel zu postökonomischen, sondern eher zu postautoritären Werten sprechen.

Konferenzübersicht:

Bernhard Dietz (Mainz), Jörg Neuheiser (Tübingen):
Begrüßung und thematische Einführung

Arbeit und Arbeitsethos

Peter-Paul Bänziger (Basel):
Auf der Suche nach dem Wertewandel in der langen Mitte des 20. Jahrhunderts
Jonathan Voges (Hannover):
(Arbeits-)Ethos der Freizeit? Do it yourself und Heimwerken und der Wertewandel der Arbeit

Unternehmen und Unternehmer

Friedericke Sattler (Frankfurt am Main):
„Harvard“ in Schloss Gracht: Das „Universitätsseminar der Wirtschaft“ (USW). Wertewandel durch Management-Schulung?
Markus Raasch (Mainz):
Unternehmenskultur und soziale Praxis. Ein Beitrag zur Wertewandeldiskussion am Beispiel der Firma Bayer und ihrer Anliegerkommunen
Christian Marx (Trier):
Vom nationalen Interesse zum shareholder value? Wertewandel in den Führungsetagen westdeutscher Großunternehmen in den 1970er und 1980er Jahren

Neue Leitbilder des Kapitalismus

Carola Westermeier (Gießen):
Selbstentfaltung statt Sparen – Werber über Wertewandel in den Siebzigern
Sina Fabian (Potsdam):
Der Yuppie – Verkörperung oder Gegenbeispiel des Wertewandels?

Presse und Wertewandel

Maximilian Kutzner (Gießen):
Vom Überfluss zum Müßiggang? Die Wertewandel-Debatte in der bundesdeutschen Presse zwischen 1950 und 1990
Bernhard Dietz (Mainz):
Der „Wertewandel“ und die Veränderungen in der bundesdeutschen Wirtschaftspresse

Alternative Ökonomie

Benjamin Möckel (Köln):
Zwischen Aktivist und Arbeitnehmer: Selbstdarstellungen und visuelle Inszenierungen der Arbeit im „humanitären Feld“ in den 1960er bis 1980er Jahren
Jörg Neuheiser (Tübingen):
Utopische „Schulen unternehmerischer Tugenden“? Arbeit, Leistung und Qualität als Problem des Alternativen Wirtschaftens in den 1970er und 1980er Jahren

Wissenschaftliche Beobachtung und Beratung

Brigitta Bernet (Zürich):
Das „Peter-Prinzip“. Der Umbau der Personallehren in den 1970er Jahren
Lukas Held (Zürich):
Leistung zwischen Kritik und Lob: Die Leistungsdebatte der 1970er Jahre als Selbstverständigungsprozess am Ende der Hochmoderne

Migration

Sebastian Seng (Mainz)
Ausbildung im Bergbau: Die Repräsentation japanischer Bergarbeiter (1957-1965) und türkeistämmiger Auszubildender (Ende der 1970er Jahre) im Vergleich

Schlussdiskussion
Moderation: Werner Plumpe (Frankfurt am Main)

Anmerkungen:
1 Catherine Hoffmann, Wir sind die Firma. Demokratie am Arbeitsplatz, in: sueddeutsche.de, URL: <http://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/demokratie-am-arbeitsplatz-wir-sind-die-firma-1.2413112> (abgerufen: 02.04.2015). Ein weiteres Beispiel ist die mutmaßlich nach Selbstverwirklichung strebende „Generation Y“. Vgl. Klaus Hurrelmann / Erik Albrecht, Die heimlichen Revolutionäre. Wie die Generation Y unsere Welt verändert, Weinheim 2014.
2 Wertewandel in Wirtschaft und Arbeitswelt? Arbeit, Leistung und Führung in den 1970er und 1980er Jahren in der Bundesrepublik Deutschland, 26.03.2015 – 28.03.2015 Mainz, in: H-Soz-Kult, 12.03.2015, <http://www.hsozkult.de/event/id/termine-27392> (20.05.2015).
3 Vgl. Andreas Rödder, Wertewandel in historischer Perspektive. Ein Forschungskonzept, in:, Bernhard Dietz / Andreas Rödder u.a. (Hrsg.), Gab es den Wertewandel? Neue Forschungen zum gesellschaftlich-kulturellen Wandel seit den 1960er Jahren (Wertewandel im 20. Jahrhundert 1), München 2013, S. 17–40, hier: S. 26–28.
4 Vgl. Rödder, Wertewandel, S. 29; Clyde Kluckhohn, Values and Value-Orientations in the Theory of Action. An Exploration in Definition and Classification, in: Talcott Parsons / Edward Shils (Hrsg.), Towards a General Theory of Action. Theoretical Foundations for the Social Sciences, New York 1962, S. 388–433, hier: S. 395.