Generation und Medizin. Generationen in der Sozialgeschichte der Medizin

Generation und Medizin. Generationen in der Sozialgeschichte der Medizin

Organizer(s)
Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung
Location
Stuttgart
Country
Germany
From - Until
07.04.2015 - 10.04.2015
Conf. Website
By
Anne Gnausch, Institut für Geschichte der Medizin und Ethik in der Medizin, Charité - Universitätsmedizin Berlin

Am Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung fand vom 7. bis zum 10. April 2015 das 34. Stuttgarter Fortbildungsseminar zum Thema „Generation und Medizin. Generationen in der Sozialgeschichte der Medizin“ statt. Eingeladen waren Nachwuchswissenschaftler/innen und Expert/innen aus dem Bereich der Medizingeschichte und verwandten Disziplinen, die Themen zu Generation und Medizin bearbeiten. Das interdisziplinär ausgerichtete Seminar gliederte sich in 4. Sektionen: „1. Generation und Selbstführung“, „2. Generation und Wissenstransfer“, „3. Generation und Institution“ sowie „4. Generationenkonflikt und Kultur“. Ein Ziel der viertägigen Tagung war es, das Konzept der Generation auf seine Anwendbarkeit für eine sozialhistorische Betrachtung von Gesundheit und Krankheit hin zu überprüfen. Die Zeitgeschichte bildete den periodischen Schwerpunkt der 11 Vorträge, gleichwohl es auch Beiträge zur Frühen Neuzeit und dem beginnenden 20. Jahrhundert gab.

Die erste Sektion wurde von KATRIN MOELLER (Halle) eröffnet. Sie untersuchte anhand von 40.000 Sterbefällen einer Kirchengemeinde in Halle zwischen 1670 und 1820 generationale Sterblichkeitskrisen und Lebenserwartungen. Moeller fragte unter anderem nach den Auswirkungen medizinischer Versorgung und hygienischer Bedingungen auf die Lebenserwartung. Insgesamt zeigte sich eine hohe Korrelation zwischen Generation und Sterblichkeit. Besonders unmittelbar nach der Pest (1704) sank die durchschnittliche Lebenserwartung für fast 40 Jahre erheblich ab. Anders als die Sterblichkeitskrisen des 17. Jahrhunderts ließe sich für die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts ein enger Zusammenhang zwischen Teuerungsrate, Hunger und Sterblichkeitskrise ausmachen, so Möller. OLE FISCHER (Stuttgart) widmete sich in seinem Vortrag der Frage, inwiefern das analytische Potenzial des Generationenbegriffs und die Untersuchung generationaler Erfahrungsräume zum Verständnis der vegetarischen Bewegung im deutschsprachigen Raum um 1900 beitragen können. Als Quellengrundlage für seine diskursanalytische Untersuchung dienten ihm zwei Periodika der vegetarischen Bewegung: das Vereins-Blatt für Freunde der naturgemäßen Lebensweise (Untersuchungszeitraum 1868-1889) sowie die Vegetarische Warte (Untersuchungszeitraum 1896-1907). Fischer kam zwar zu dem Schluss, dass generationsspezifische Aspekte in den beiden Zeitschriften nur eine geringe Rolle spielten, aber die intergenerationale Weitergabe des Vegetarismus innerhalb der Familie viel diskutiert wurde. OLIVER FALK (Berlin) skizzierte in seinem Beitrag die Transformation des Diabetes von einer seltenen, aber zumeist tödlichen, zu einer weitverbreiteten, aber chronischen Krankheit. Er identifizierte dabei drei verschiedene Diabetikergenerationen. Die der Vor-Insulin-Ära (1900-1921), die der Insulin-Ära (1922-1930er-Jahre) und die der Vor- und Selbstfürsorge (1940er- und 1950er-Jahre). Diabetiker der ersten Generation hatten trotz klinischer Einstellung und Diät-Plänen nur eine geringe Lebenserwartung, wohingegen Diabetiker der zweiten Generation zwar mit Insulin behandelt werden konnten, dieses jedoch ein Hilfs- und kein Heilmittel war, weil die Patienten unter etlichen Nebenwirkungen zu leiden hatten und außerdem der permanenten Kontrolle des Arztes ausgesetzt waren, so Falk. Erst in der dritten Generation gründeten sich Selbsthilfeorganisationen, die den Patienten zu einer selbstständigeren Lebensweise anleiteten.

Die zweite Sektion begann mit einem Vortrag von AARON PFAFF (Stuttgart), welcher sich ebenfalls mit dem Krankheitsbild des Diabetes mellitus beschäftigte. Pfaff untersuchte die Entwicklung der Medizintechnik für Diabetesdiagnose und -behandlung zwischen 1950 und 1990. Er konzeptualisierte diese Geschichte als eine Koevolution von Technik und Krankheit, die mit einem Wandel des Patientenbildes einherging. Durch die technische Vereinfachung habe sich das Arzt-Patienten-Verhältnis zunehmend verändert; so wurde es den Patienten möglich, große Teile der Therapie selbst durchzuführen und so eine aktive Rolle bei der Behandlung ihrer Krankheit einzunehmen, argumentierte Pfaff. Im Beitrag von LISA PEPPLER (Göttingen) ging es um die türkisch-deutsche Medizinermigration von 1961 bis heute. Peppler fragte danach, welche Strategien die migrierten und postmigrantischen Ärztinnen und Ärzte zur gesellschaftlichen und professionellen Positionierung verfolgen. Sie unterschied drei Generationenbegriffe: die migrierte Generationen, die familiale Generationen und die Professionsgenerationen. Den Quellenkorpus ihrer qualitativen Studie bildeten Interviews mit 29 migrierten und postmigrantischen Ärzt/innen sowie drei Experteninterviews. Peppler kam zu dem Schluss, dass es zu einer Verlagerung der medizinischen Expertise von Ärzt/innen türkischer Herkunft seit den 1960er-Jahren gekommen ist. Sie behandeln inzwischen vor allem die türkische Patienenklientel, mithin sei die türkische Herkunft als kulturelles Wissen zu einer Ressource geworden, die im beruflichen Positionierungsprozess relevant werde.

JANINE VOLLENWEIDER (Zürich) eröffnete die dritte Sektion mit einem Vortrag über die Zöglinge des schweizerischen Kinderheims St. Iddazell. Vollenweider präsentierte eine Fallstudie, die einen Einblick in die Zusammenarbeit des Kinderheims St. Iddazell mit der Psychiatrischen Klinik Münsterlingen in den 1960er- und 1970er-Jahren gewährte. Im Zentrum standen die gemeinsamen Erfahrungen und Erlebnisse einer „institutionseigenen Generation“, namentlich der Kinder, die zur psychiatrischen Behandlung und für Medikamentenexperimente der sich in der pharmakologischen Wende befindenden Psychiatrie nach Münsterlingen geschickt wurden. Vollenweider betonte abschließend, dass ihre Untersuchung auf einem kleinen Aktensample beruhe und daher keine abschließende Beurteilung zulasse. MATHIAS SCHMIDT (Aachen) thematisierte in seinem Vortrag den Generationenwechsel in der Deutschen Röntgengesellschaft (DRG) nach 1945. Er legte dar, dass viele der exponierten Mitglieder der DRG Ende der 1940er- bzw. zu Beginn der 1950er-Jahre verstarben, als sich die Fachgesellschaft neu gründete. So sei es unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg, in einer Phase der Neuordnung und Neuorientierung von Gesellschaft, Politik und Medizin, zu einem nahezu vollständigen Generationenwechsel innerhalb der Führungselite der DRG gekommen, weil die Leitung schlagartig an die Mitglieder der jüngeren Generation fiel. Auch MATTHIS KRISCHEL (Göttingen) setzte sich in seinem Vortrag mit der NS-Geschichte einer wissenschaftlichen Fachgesellschaft auseinander. Er analysierte das Verhältnis von Generationalität und sozialem Netzwerk innerhalb der Deutschen Gesellschaft für Urologie vor und nach 1945. Krischel kam zu dem Schluss, dass das während der Zeit des Nationalsozialismus formierte Urologen-Netzwerk das Fach bis in die 1960er-Jahre dominierte und sogar noch bis in die 1980er-Jahre wirkmächtig blieb.

Die vierte Sektion eröffnete JAN KLEINMANNS (Bonn) mit einem Beitrag zu generationsbedingten Aushandlungsprozessen im Sport der DDR. Am Beispiel der Sportarten Brettsegeln (Surfen) und Körperkulturistik (Bodybuilding) analysierte er, „welche unterschiedlichen Komplexe von Erfahrungen, Deutungen, Identifikationen und Zukunftserwartungen“ im DDR Sport bestanden. Kleinmanns argumentierte, dass es nur im Fall der Körperkulturistik zu einem Generationenkonflikt zwischen den meist älteren Sportfunktionären und den jungen Trendsportlern kam, weil die Körperkulturisten – anders als die Brettsegler – mit ihrer neuen Sportart nicht ernstgenommen wurden und sich nicht an die bestehenden Strukturen des DDR Sports anpassen wollten. ANNE GNAUSCH (Berlin) und CHRISTOPH SCHWAMM (Stuttgart) widmeten sich in ihrem gemeinsamen Vortrag dem Drogenkonsum der 1920er- und 1960er-/1970er-Jahre sowie den daraus jeweils entstehenden Moralpaniken in Psychiatrie und Gesellschaft. Gnausch argumentierte auf Grundlage von Statistiken und Aktenmaterial der Berliner Charité, dass die „Drogenwelle“ der 1920er-Jahre eine diskursiv erzeugte Konstruktion war und vergleichsweise wenige Menschen wahrnehmbare gesundheitliche, psychische oder anderweitige Probleme aufgrund hedonistischen Kokainkonsums entwickelten. Schwamm plädierte dafür, die Drogenpanik der Bundesrepublik um 1970 als Reaktion der bundesdeutschen Öffentlichkeit auf einen Hierarchiekampf zwischen älteren und jüngeren Männern aufzufassen. Der Rausch diente dabei ebenso dem männlichen Protest, wie auch der Verteidigung des Hegemoniestatus der Vätergeneration. Im abschließenden Beitrag analysierte PIERRE PFÜTSCH (Stuttgart) das Väterbild in der Gesundheitsaufklärung der Bundesrepublik zwischen 1960 und 2000. Im Fokus stand dabei die Frage, wie versucht wurde, die Väter zur ‚Gesundheitsarbeit‘ innerhalb der Familie zu animieren. Als Quellenmaterial dienten Pfütsch Aufklärungsmedien der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BzgA), die als oberste Instanz der Gesundheitsaufklärung den Leitdiskurs prägte. Er konstatierte, dass das Bild der Männer – im Speziellen der Väter – in der Gesundheitsaufklärung bis in die Gegenwart hinein durch einen Defizitdiskurs gekennzeichnet sei.

Auf jeden der Vorträge folgten intensive und kritische Diskussionen, die alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer als konstruktiv und hilfreich für ihre jeweiligen Forschungsvorhaben empfanden. In einer lebhaften Abschlussdiskussion wurden die Vor- und Nachteile eines generationstheoretischen Zugriffs in der Geschichtswissenschaft diskutiert. Die Chancen dieses Konzepts der Generation sind, so waren sich alle Beteiligten einig, seine Dynamik, die Möglichkeit der Rekonstruktion von synchronen Erfahrungsräumen sowie die Periodisierung über Epochengrenzen hinweg. Als Grenzen des Konzepts wurden dessen Tendenz zu Pauschalisierung und Marginalisierung sowie die nur bedingte Übertragbarkeit des theoretischen Ansatzes benannt. Zu danken ist den Organisatoren des Seminars Jens Gründler, Jörn Esch, Saskia Gehrmann und Ylva Söderfeldt ebenso wie dem gesamten Team des Stuttgarter Instituts.

Konferenzübersicht:

Sektion 1 – Generation und Selbstführung
Moderation: Ylva Söderfeldt (Aachen)

Katrin Moeller (Halle), Kollektives Sterben? Generative Strategien der Gesundheitsfürsorge (Halle/Saale) und ihre Auswirkungen auf intra- und intergenerationale Sterblichkeitsrisiken des 18. Jahrhunderts

Ole Fischer (Stuttgart), Generationen im deutschsprachigen Vegetarismus um 1900

Oliver Falk (Berlin), Vom „Zuckerkrüppel“ zum „bedingt Gesunden“ – Diabetikergenerationen im Vergleich 1900-1950

Sektion 2 – Generation und Wissenstransfer
Moderation: Jörn Esch (Oldenburg)

Aaron Pfaff (Stuttgart), Wandel und Wirkung neuer Praktiken in der Diabetestherapie unter besonderer Berücksichtigung der Medizintechnik (1950-1990)

Lisa Peppler (Göttingen), Deutsche Ärztinnen und Ärzte türkischer Herkunft

Sektion 3 – Generation und Institution
Moderation: Saskia Gehrmann (Halle)

Janine Vollenweider (Zürich), Generation „Münsterlingen-Seeseite“ – Zöglinge des Kinderheims St. Iddazell zwischen Intelligenztests und Medikamentenversuchen in den 1960er- und 1970er-Jahren

Mathias Schmidt (Aachen), Generationenwechsel in der Deutschen Röntgengesellschaft nach 1945

Matthis Krischel (Göttingen), Generation und Netzwerke: Deutsche Urologen nach der
NS-Diktatur

Sektion 4 – Generationenkonflikt und Kultur
Moderation: Jens Gründler (Stuttgart)

Jan Kleinmanns (Bonn), Muskeln, Spaß und Sozialismus: Generationenbedingte Aushandlungsprozesse im Sport der DDR

Anne Gnausch (Berlin) / Christoph Schwamm (Stuttgart), Generationenkonflikt, Drogen und Moralpanik in der Psychiatrie der 1920er- und 1960er-Jahre

Pierre Pfütsch (Stuttgart), Das Väterbild in der Gesundheitsaufklärung in der BRD (1960 – 2000)


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