Europa, der Euro und die Europäische Union: Eine Titelseite ohne diese Begriffe ist seit Jahren kaum noch vorstellbar. Bei dieser gegenwärtigen Fokussierung gerät etwas aus dem Blick, dass es neben dem vertraglich gebundenen Europa befreundeter Staaten mit all seinen Problemen auch schon im 19. Jahrhundert ein vertraglich gebundenes Europa gegeben hat. Mit ähnlichen und gänzlich anderen Problemen zugleich. Auf einer internationalen Konferenz gingen Historiker aus Europa und Amerika am Vorabend von Bismarcks 200. Geburtstag der Frage nach, welche Rolle Europa im Denken und in den politischen Strategien Bismarcks spielte.
KARINA URBACH (London) führte in die Tagung ein und eröffnete die erste Sektion „Wer ist Europa?“ mit der provokanten Frage, ob Bismarck nach Charles S. Maier nicht doch nur ein „Continental Thinker“ gewesen sei. BRENDAN SIMMS (Cambridge) knüpfte in seinem Eröffnungsvortrag genau an dieser Stelle an. Mit britischer Distanz stellte er immer wieder Parallelen zwischen dem späten 19. und dem frühen 21. Jahrhundert her. In der Eurozone sah der gebürtige Ire eine „asymmetrische Machtzone deutscher Potenz“, die es unter anderen Vorzeichen schon in der Bismarckzeit gegeben habe. Damals wie heute sei Deutschland gemessen an seiner eigentlichen Potenz auffällig zurückhaltend gewesen. Die Briten hätten es zeitweise sogar schlecht gefunden, dass die Deutschen keine Kolonien wollten, da das bedeutete, dass diese auf dem Kontinent zu stark würden. Auch militärisch sei das Reich in den Jahrzehnten Bismarcks aus britischer Sicht unter seinen Möglichkeiten geblieben. In die Gegenwart übersetzt würde Bismarck wahrscheinlich sowohl im „Spiel mit den fünf Kugeln“ die Europäer gegeneinander ausspielen als auch zwischen Moskau und Washington hin- und herpendeln. Er würde, spitzte Simms zu, Europa unter deutscher Führung einen und aus der Eurozone eine Union im Sinne einer „Paneurozone“ machen. Diese kontrafaktischen Überlegungen regten zu einer lebhaften Diskussion an und blieben nicht unwidersprochen. JOACHIM SCHOLTYSECK (Bonn) merkte etwa an, dass es doch sehr britisch sei, den Deutschen die Führungsrolle in der EU zuzuweisen. Und ohne Simms‘ Imperativ zur Führung zu teilen, fügte GEORGES-HENRI SOUTOU (Paris) in Bezug auf die Größe Deutschlands das alte Wort Clemenceaus hinzu, wonach Deutschland ja ein großartiges Land sei, das nur leider „den Fehler“ habe, „dass es 20 Millionen zu viele Deutsche“ gäbe.
CORNELIUS TORP (Augsburg) vermaß den Raum einer europäischen Weltwirtschaft, die sich in den Regierungsjahrzehnten Bismarcks deutlich verändert habe. In der Zoll- und Handelspolitik sei es seit dem sukzessiven Wegfall der Zölle in Großbritannien ab der Mitte des 19. Jahrhunderts zur europaweiten Durchsetzung der Freihandelsidee gekommen, die in den 1870er-Jahren ein regelrechtes politisches Dogma geworden sei. Daneben habe der Ausbau des Transportwesens als zweite Triebkraft der europäischen ökonomischen Integration eine Revolution durchlaufen. Diese time-space-compression sei verantwortlich für außerordentliche Produktivitätssteigerungen. Als Stabilitätsgarantie sei weiterhin der Goldstandard des internationalen Währungssystems nicht zu unterschätzen. Diese Zunahme des Handels spiegele sich auch in der Arbeit der Diplomaten, in der wirtschaftspolitische Themen zunehmend neben die der großen Politik getreten seien.
MICHAEL GEHLER (Hildesheim / Wien) erläuterte die Wandlungen der Europa-Konzepte seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert und die Bismarckschen Sichtweisen (bis 1898!) auf diese. Die republikanischen Ideen der französischen Revolutionen habe der preußische Landbesitzer abgelehnt, den Nationalstaatsgedanken hingegen begrüßt. Im Geiste des Mächtegleichgewichts Metternichs sei Europa in einem System von Allianzen für Bismarck am besten aufgehoben gewesen; das auf Volkssouveränitäten bauende „junge Europa“ Guiseppe Mazzinis sei Bismarck hingegen ebenso ein Gräuel gewesen wie Victor Hugos Idee von Paris als europäischer Hauptstadt. Auch mit dem Europa als christlicher Allianz, wie es Constantin Frantz vorschwebte, konnte Bismarck nichts anfangen. Europa sei als Begriff schillernd, volatil, vielleicht sogar eine Chimäre oder eine Täuschung gewesen.
Festeren Grund betrat HOLGER AFFLERBACH (Leeds / Princeton). Er relativierte in seinem Vortrag den tatsächlichen Stellenwert und die Größe des deutschen Militärs. Die preußische Armeeleitung des Kaiserreichs habe nicht zum Angriff gerüstet, sondern sei auf Sicherung des Bestehenden aus gewesen. Die Armee habe zwar ein großes Prestige in der Bevölkerung gehabt und sei in dieser Beziehung mehr als ein „halber Hegemon“ gewesen. Im europäischen Kontext habe aber John Maynard Keynes schon 1919 treffend formuliert, dass der deutsche Aufstieg eher durch „Coal and Iron“ als durch „Blood and Iron“ erfolgt sei.
GERALD AMBROSIUS (Siegen) wandte sich der Wirtschaft zu und umkreiste dabei vor allem die sich einander bedingenden und für die Jahre nach der Reichsgründung zentralen Themenfelder des industriellen Wachstums und der Migration von Arbeitskräften. Erst nach 1895 habe es für zehn Jahre eine positive Wanderungsbilanz gegeben. In mikro-, meso- und makroökonomische Perspektive beschrieb er die Verflechtungen des „konservativen Nationalstaats“ mit der internationalen Wirtschaft als Teil einer multilateralen Verflechtung.
ANDREAS FAHRMEIR (Frankfurt am Main) testete in seinem Vortrag die Verbindungslinien zwischen den Epochenjahren 1871 und 1914 in einem kontrafaktisch wohlbegründeten Sinne als belastbare Balanceseile. Überaus einleuchtend stellte er dabei die Frage, wie ein europäisches Staatensystem hätte aussehen müssen, das nicht auf das Fiasko des August 1914 zugelaufen wäre. Auch ohne sich der Gefahr des Relativismus auszusetzen, komme man nicht umhin festzustellen, wie lange der Frieden nach 1871 gehalten habe.
GEORGES-HENRI SOUTOU (Paris) nahm sich aus französischer Sicht eines für die deutsche Geschichtswissenschaft geradezu klassischen Themas an: Dem Bündnissystem Bismarcks. Nach einem breiten Problemausfriss kam er dabei unter dem spezifischen Blickwinkel auf „Europa“ zu dem erfrischenden Schluss, Bismarcks Grundmuster sei gewesen: „Nicht darüber reden, immer daran denken.“
GUIDO THIEMEYER (Düsseldorf) untersuchte Bismarcks Verhältnis zur Europäisierung und Internationalisierung der Wirtschaft. Als Experte für die lateinische Münzunion standen Thiemeyer dabei Details vor Augen, die dem nur mäßig an den Feinheiten dieses Komplexes interessierten Bismarck kaum klar gewesen sein dürften. Den Diplomaten Bismarck beschäftigte stets mehr die politische als die ökonomische Dimension hinter dem Thema. In Ansätzen könne man bei wirtschaftlichen Fragen in Bismarck einen Europäer sehen, im politischen Sinne hingegen nicht, was auch auf die übrigen zeitgenössischen Staatsmänner Europas zugetroffen habe.
Im Abendvortrag LOTHAR GALLs (Frankfurt am Main) wurden die großen Fragen noch einmal zusammengebunden. Zu welchem Grad sah sich der Preuße Bismarck als Deutscher? Und war er in der Eigenwahrnehmung als solcher auch ein Europäer? Und wenn, was für einer? Der Elder Statesman der Bismarck-Biographik subsummierte die Europa-Politik Bismarcks unter dessen prioritäres Ziel der Erhaltung des Mächtegleichgewichts und der Friedenssicherung unter den christlichen Nationen Europas. Überzeugend arbeitete Gall dabei als Kontinuum heraus, dass Bismarck stets von der Treue gegenüber „seinem Herrn“ in Preußen und Deutschland geleitet worden sei – unter sich wandelnden Bedingungen in Europa. War er also doch ein Europäer? Einer mit starken bis stärksten brandenburg-preußischen Motivationen.
ULRICH LAPPENKÜPER (Friedrichsruh / Hamburg) eröffnete die letzte, auf die globalen Kontexte ausgerichtete Sektion mit einem Vortrag über Bismarck und Asien. In der Summe staunte man nicht wenig über die vielfältigen asiatischen Bezüge und Beziehungen, mit denen es der pommersche Landjunker immer wieder zu tun hatte. Zurückhaltung in China, Anknüpfungsbestrebungen in Japan, genaues Beobachten Siams, englisch-russische Balance bei deren Great-Game-Rivalität in Zentralasien, keine eigenen kolonialen Abenteuer, auch und ausdrücklich gegen den Wunsch der eigenen Marine; so lassen sich die Konstanten im Bismarckschen Asiendenken zusammenfassen. Er hegte keine zivilisatorischen Vorurteile, wollte aber aus europäischem Interesse in keinem Fall den zweifellos von solchen Superioritätsgefühlen geleiteten kolonialen Ambitionen Frankreichs und Englands im Wege stehen.
TANJA BÜHRER (Bern / Rostock) skizzierte in einem lebhaften Vortrag Bismarcks mindestens doppelte Rolle beim „Scramble for Africa“, den der Kanzler und Außenminister in europadominiert-normierte Bahnen zu lenken sucht, als er die Weltmächte nach Berlin einlud und etwa zeitgleich für sein vermeintlich saturiertes Reich beachtliche Stücke des Kuchen beanspruchte. Bührer hob auf die gegenwärtigen Forschungen zum Eintritt Deutschlands in die Kolonialpolitik ab, die bis auf Ausnahmen monokausale Sonderwege verworfen habe.
JONATHAN STEINBERG (Philadelphia, Pa. / Cambridge) lenkte den Blick am Ende von Afrika nach Amerika. Ausführlich ging Steinberg auf die amerikanischen Freundschaften Bismarcks ein, die seit den Göttinger Studientagen ein ferner Begleiter gewesen waren. Die Zuhörer lernten über das zu William Motley Bekannte hinaus, wie genau die Karriere des Politikers von Ostküsteneliten beobachtet wurde, und dass die Rückkoppelungen mit den republikanischen Freunden nicht unerheblich waren.
Insgesamt wurde hier so deutlich wie kaum je vorher ein über die Grenzen Deutschlands nach Europa und von dort noch in mindestens drei andere Erdteile hinausdenkender- und handelnder Bismarck vorgestellt. Dass dabei kein mit gegenwärtigen Vorstellungen in Deckung zu bringender Europabegriff entwickelt wurde, muss nicht enttäuschen, sondern sollte zu weiteren Antwortsuchen auf die Fragen „who is Europe?“ und „who was Europe?“ führen.
Konferenzübersicht:
Sektion I: Wer ist Europa?
Brendan Simms (Cambridge), Das europäische Mächtesystem nach 1870
Cornelius Torp (Augsburg), Europa als Wirtschaftsraum
Michael Gehler (Hildesheim / Wien), Europa – Bezüge und Ideen im Europa des nationalstaatlichen Prinzips
Abendvortrag
Lothar Gall (Frankfurt am Main), Bismarck: Preuße, Deutscher, Europäer?
Sektion II: Strategien des deutschen Aufstiegs in Europa
Holger Afflerbach (Leeds / Princeton), Das Militär und die „halbe Hegemonie“
Gerald Ambrosius (Siegen), Vorsprung durch Wirtschaft
Sektion III: Auf der Suche nach Stabilität in Europa
Andreas Fahrmeir (Frankfurt am Main), Das Deutsche Reich: ein europäischer Risikofaktor?
Georges-Henri Soutou (Paris), Ein Spiel mit vielen Bällen: Bismarcks Bündnissystem in der Bewährung
Guido Thiemeyer (Düsseldorf), Bismarck und die Internationalisierung der Wirtschaft
Sektion IV: Europa als Vormacht der Welt
Ulrich Lappenküper (Friedrichsruh / Hamburg), Bismarck und Asien
Tanja Bührer (Bern / Rostock), Bismarck und der „Scramble for Africa“
Jonathan Steinberg (Philadelphia, Pa. / Cambridge), The American Connection: John Lothrop Motley and Andrew Dickson. Two eminent Americans and Otto von Bismarck