Im Fokus der interdisziplinären Tagung „Akteure, Tiere, Dinge. Verfahrensweisen der Naturgeschichte“ stand die Frage, welche Verfahrensweisen bei der Produktion von Wissen über Natur in der Frühen Neuzeit von Bedeutung waren. In ihrer Einführung machten SILKE FÖRSCHLER (Kassel) und ANNE MARISS (Tübingen) ausgehend von der Abbildung des Bienenfressers aus dem Vogelbuch der Familie Graviseth deutlich, wie die Bedeutungen von Tieren, Naturalien und ihre Darstellung in naturkundlichen Werken verwoben sind. Anhand der naturhistorischen Illustration wurden die Verfahrensweisen exemplifiziert, mit denen Wissen über Naturalien in der Frühen Neuzeit produziert wurde: Sammeln und Besitzen, Bewegen und Transformieren sowie Erfinden und Ordnen.
Beim round table mit FRANK FEHRENBACH (Hamburg), KARIN LEONHARDT (Konstanz) und ANNE-CHARLOTT TREPP (Kassel), der den Auftakt der Tagung bildete, wurden anhand von Quellen aus der eigenen Forschung zur Naturgeschichte zentrale Fragestellungen und Kontroversen diskutiert. So zeigte Frank Fehrenbach an drei Manuskriptseiten Leonardo da Vincis aus dem 15. Jahrhundert, wie spiegel- und radialsymmetrische Formen von Fossilien und maritimen Lebewesen auf Wappenformen und Architekturelemente übertragen wurden. Fehrenbach betonte die Aktualität vormoderner Naturkunde und sprach sich für die Berücksichtigung der Naturphilosophie in aktuellen Debatten aus. Zudem sei es unsere Aufgabe, so Fehrenbach, immer wieder zu reflektieren, was es bedeutet, die Frage nach der Natur heute zu stellen. Karin Leonhardt zeigte das Gemälde „Blaue Winde, Kröte und Insekten“ (1660) von Otto Marseus van Schrieck und verwies auf dessen Rückgriff auf möglichst naturnahe Vorbilder. So presste Marseus Schmetterlingsflügel auf Leinwände, zeichnete nach Präparaten und Abgüssen, um so naturgetreu wie möglich abzubilden. Die Imitation der Natur und der Anspruch, aus toter Materie lebendiges Material entstehen zu lassen, ließen den Maler zugleich zum Naturforscher werden, der sammelte, forschte und Wissen produzierte. Leonhardt appellierte zudem, weit gefasste Begriffe wie ‚Natur‘ immer wieder kritisch zu reflektieren. Anne-Charlott Trepp gab anhand der Zeichnung eines Fisches aus Südostindien Einblicke in Verfahrensweisen naturkundlicher Wissensgenerierung im 18. Jahrhundert. Während die Dänisch-Hallische Mission in Südostindien die europäischen Schüler im Zeichnen ausbildete, wurden die indischen Jungen vor allem im Sammeln von Naturalien unterwiesen. Daran zeige sich, so Trepp, dass das Zeichnen als Differenzmarker vor Ort fungierte. Gerade in kolonialen Kontexten sei die Frage nach soziokulturellen Hierarchien innerhalb der Wissensproduktion nicht zu vernachlässigen. In der Diskussion mit allen Tagungsteilnehmer_innen kristallisierte sich als interessant heraus, welche Objekte in einer bestimmten Epoche oder in einem bestimmten historischen Abschnitt welche Fragen akut erscheinen ließen und zu Veränderungen in den Verfahrensweisen der Naturgeschichte führten.
Mit der Sektion Sammeln und Besitzen eröffnete der zweite Tag. Im Zentrum des Panels standen Fragen nach dem Besitz und dem Umgang mit Tieren sowie das Sammeln als wissenschaftliche Praxis. Während ALAN ROSS (Paris / Berlin) am Beispiel von afrikanischen Meerkatzen zeigte, welche verschiedenen Bedeutungszuschreibungen die Tiere im 16. Jahrhundert als Nahrung, Ware, Geschenk und Unterhalter an europäischen Höfen erfuhren, diskutierte JULIA BREITTRUCK (Mannheim / München) anhand der Haltung von Kanarienvögeln in Frankreich um 1700 deren Bedeutung in der Querelle des Anciens et Modernes. Neben der Vermittlung eines speziellen Kanarienvogelhalterwissens entstand auch Kritik an einzelnen Haltern, welchen vorgeworfen wurde, Kanarienvögel nur der Mode wegen zu halten. SILVIA FLUBACHER (Basel) verdeutlichte, dass die empirische Befragung der Objekte allein oft nicht ausreichte. Neben der Untersuchung des Objekts zogen die Naturforscher naturkundliche Werke mit anatomischen Darstellungen, aber auch die Bibel oder antike Quellen hinzu, und tauschten sich mit anderen Naturforschern aus. Am Beispiel des Entomologen Johann Christian Fabricius verwies DOMINIK HÜNNIGER (Glasgow / Göttingen) auf die Praxis des Sammelns und des Besuchs von Sammlungen auf Reisen. So nutzte der Entomologe Fabricius seine Reisen zum Sammeln und wissenschaftlichen Austausch mit anderen Naturkundlern, wie etwa Joseph Banks, dessen Haus laut Hünniger als „Wissensfabrik“ bezeichnet werden könne, da dort Wissen in einem arbeitsteiligen, professionalisierten Prozess produziert worden sei.
Das erste Panel schloss mit einem Kommentar von MIEKE ROSCHER (Kassel), die sich für das analytische Potential der Kategorien Ästhetik, Raum und Materialität in Bezug auf die Erforschung von Tieren bzw. deren agency aussprach. Während sich unter dem Begriff der Zoosemiotik das Animalische als das kulturell Andere begreifen lasse, biete das Konzept der Topologie die Möglichkeit, die räumliche Anordnung von Tieren als kulturell bedeutsam zu verstehen. Das Konzept der entangled agency wiederum analysiere untereinander vernetzte Akteurs-Umwelten, da Tiere und animal made objects stets eingespannt sind in die sie umgebende materielle Kultur.
IRINA PAWLOWSKY (Tübingen) eröffnete die Sektion Bewegen und Transformieren. Anhand zweier Amazonaskarten aus dem 18. Jahrhundert zeigte sie, wie missionarisches Wissen aufbereitet, überliefert, rezipiert und nach Europa transferiert wurde. Auch im Vortrag von THOMAS RUHLAND (Kassel) wurde klar, welche große Bedeutung Missionaren bei der Produktion und Verbreitung von Wissen in der Frühen Neuzeit zukam. So finanzierten die Herrnhuter Missionare mit dem Naturalienhandel ihre Mission in Indien und füllten durch den kommerziellen Handel mit den Naturalien die Lücken in den europäischen Sammlungen. SIMONA BOSCANI LEONI (Bern) referierte über naturforschende Netzwerke in der Alten Eidgenossenschaft vom 17. bis 19. Jahrhundert. Neben berühmten Naturforschern wie Johann Jakob Scheuchzer beteiligten sich Gesellschaften, aber auch Pfarrer, Adlige und Gämsjäger am Austausch von Objekten. Hier hätte man sich noch mehr Informationen über die globalen Dimensionen der Schweizer Naturkunde gewünscht.
In einem abschließenden Kommentar fasste REBEKKA HABERMAS (Göttingen) Ergebnisse des Panels zusammen. So sei es in der neueren Wissensgeschichte mittlerweile Konsens, dass die europäische Geschichte nur als Teil einer entangled history und damit auch die Formierung neuer Wissenssysteme nur global verstanden werden könne. Schließlich gehe man von einem dynamischen Wissensbegriff aus, da Wissen erst im Transfer entstehe. Zugleich hätte die Tagung jedoch auch vier Probleme frühneuzeitlicher Naturgeschichtsschreibung aufgezeigt: So würden die historischen Akteur_innen häufig vor dem Gegensatz mehr oder weniger säkular bzw. mehr oder weniger religiös interpretiert. Außerdem sollte der Fokus von globalen und lokalen Handlungszusammenhängen die Räume dazwischen nicht außer Acht lassen. Neben den Europäern sollten lokale Akteure berücksichtigt werden, deren Handlungsmacht auf Grundlage der Quellen oft nur schwierig zu benennen sei. Fragen soziokultureller Hierarchisierungen und Macht dürften innerhalb der neueren Wissensgeschichte damit nicht ausgeblendet werden, da sonst die Gefahr bestehe, die klassische Globalgeschichte fortzuschreiben.
Das letzte Panel Erfinden und Ordnen begann mit einem Vortrag von SEBASTIAN SCHÖNBECK (Würzburg), der sich mit der Frage beschäftigte, wie mythische Lebensformen wie die Hydra Eingang in die Ordnung der Naturgeschichte fanden. Während der französische Naturforscher Trembley mit Hilfe von Schnitt-Experimenten am Süßwasserpolyen Parallelen zur mythischen Hydra erkannte, überführte Linné diesen in den Bereich der Paradoxa und damit in den engeren Bereich des Klassifizierbaren. Auch MATTHIAS PREUSS (Frankfurt an der Oder) widmete sich den monströsen Ordnungswidrigkeiten, die den naturhistorischen Kategorien entgegenliefen und dennoch eine produktive Kraft entfalteten. Sie wurden an die Ränder des systematischen Tableaus verdrängt, an denen eine andere, dynamische Naturgeschichte geschrieben wurde. Besonders aufschlussreich war, dass sich das Verfahren des Abtrennens und Neuerfindens auch in den zeitgenössischen Sammlungen niederschlug. EVA DOLEZEL (Halle/Saale) zeigte am Beispiel des Dresdner Mineralienkabinetts, inwiefern Sammlungsräume als begehbare Tabelle fungierten und dort solche Objekte, die nicht in die herkömmliche Ordnung passten, von dem Museumsparcours abgetrennt wurden, um so das Verständnis für die neuen Ordnungen zu erhöhen. ROBERT FELFE (Hamburg) legte dar, welchen künstlerischen Stellenwert der Naturabguss von Tieren und Pflanzen als Verfahren hatte. Ihre lebensechte Erscheinung wurde immer wieder, beispielsweise auch von Vasari, als höchste Kunst interpretiert. In dieser Formgenese erfolgt eine Erkenntnisbildung von Natur, in ihrer Mortifizierung wird sie für die Naturgeschichte als Kunst revitalisiert. In seinem Abschluss stellte FRANZ MAUELSHAGEN (München) den Begriff des Anthropozäns als Fragehorizont sowohl für die Interpretation gegenwärtiger Naturkonzepte als auch für die historische Analyse der Naturgeschichte vor. Mit Hilfe des Begriffs können Zugangsweisen zur Naturgeschichte differenziert werden, gleichzeitig machen die Debatten um das Anthropozän die Naturgeschichte wieder relevanter und liefern eine Begründung für die aktuelle Beschäftigung mit ihr.
Die interdisziplinär angelegte Tagung zeigte auf, welche vielfältigen Verfahrensweisen bei der Generierung von Wissen in Kunst, Wissenschaft und Literatur zum Tragen kamen. Eine zentrale Erkenntnis war dabei, dass eben diese drei Bereiche kaum zu trennen waren. Außerdem verdeutlichten die Beiträge die dichten und globalen Akteurs-Netzwerke, über die Wissen transportiert wurde und in denen die Naturalien immer neue, teils widersprüchliche Bedeutungszuschreibungen erhielten. Für künftige Debatten regten die Kommentare und Diskussionen zu Fragen nach Machtverhältnissen bei naturwissenschaftlichen Verfahrensweisen und nach der Bedeutung von „Zwischenräumen“ und lokalen Akteur_innen beim Transfer von Wissen an, die bei der Erforschung frühneuzeitlicher Naturgeschichte, ihrer Quellen und Artefakte, künftig noch intensiver hinterfragt werden müssten.
Konferenzübersicht:
Einführung
Anne Mariss (Tübingen) / Silke Schicktanz (Kassel)
round table
Frank Fehrenbach (Hamburg) / Karin Leonhardt (Konstanz) / Anne-Charlott Trepp (Kassel)
Sektion Sammeln & Besitzen
Alan Ross (Paris / Berlin), Simians in spectacles and as chamber animals in 16th-century Germany
Julia Breittruck (Mannheim / München), Singvogelhalter an der Stelle zwischen altem und neuem Wissen. Die ‚Curieux‘ im frühen 18. Jahrhundert
Silvia Flubacher (Basel), Der Zahn der Zeit – Vom „gegrabenen Einhorn“ oder wie der Elefant nach Deutschland kam
Dominik Hünniger (Glasgow / Göttingen), Im Feld und im Kabinett. Johann Christian Fabricius und die wissenschaftliche Insektenkunde um 1800
Mieke Roscher (Kassel), Kommentar zur Sektion Sammeln & Besitzen
Sektion Bewegen & Transformieren
Irina Pawlowsky (Tübingen), Bewegtes Wissen zwischen dem Amazonas und Europa. La Condamine und der Transfer von Naturkenntnissen jesuitischer Missionare
Thomas Ruhland (Kassel), Zwischen „grassroots-Gelehrsamkeit“ und Kommerz. Der Naturalienhandel der Herrnhuter Südasienmission
Simona Boscani Leoni (Bern), Lokal aber global? Akteure, Netzwerke und Themen der Naturforschung in der Alten Eidgenossenschaft (17.-19. Jhd.)
Rebekka Habermas (Göttingen), Kommentar zur Sektion Bewegen & Transformieren
Sektion Erfinden & Ordnen
Sebastian Schönbeck (Würzburg), Hydra. Rhetorik, Experiment und Erfindung einer Gattung
Matthias Preuss (Frankfurt an der Oder), Die Ordnungswidrigkeit der Dinge. Carl von Linnés marginale Monstrosität(en)
Eva Dolezel (Halle/ Saale), Die Logik des Schauraums. Zur Präsentation von Naturalien abseits der Taxonomien
Robert Felfe (Hamburg), Animalia. Natürliche Generativität und Paradigmen des Bildes
Abschluss
Franz Mauelshagen (München), Das Ende einer Trennung. Warum die Menschen ohne die "Natur"geschichte im Anthropozän nicht mehr auskommen