800 Jahre "Welscher Gast". Neue Fragen zu einer alten Verhaltenslehre in Wort und Bild

800 Jahre "Welscher Gast". Neue Fragen zu einer alten Verhaltenslehre in Wort und Bild

Organisatoren
Sonderforschungsbereich 933 "Materiale Textkulturen", Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg; Universitätsbibliothek Heidelberg
Ort
Heidelberg
Land
Deutschland
Vom - Bis
07.05.2015 - 09.05.2015
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Von
Felix Maier / Leonie Ries / Max Wetterauer, Historisches Seminar, Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg

In diesem Jahr feiert der Welsche Gast seinen 800. Geburtstag – Anlass genug für die Ausrichtung einer interdisziplinären Tagung, die vom 7. bis 9. Mai 2015 in der Universitätsbibliothek Heidelberg stattfand. Organisiert wurde sie von einem Teilprojekt des Sonderforschungsbereichs 933 „Materiale Textkulturen“1 in Zusammenarbeit mit der Universitätsbibliothek Heidelberg, die sich aktuell der Erforschung des im Mittelalter breit rezipierten Werks Thomasins von Zerklaere widmen. Der Welsche Gast, die erste umfassende Verhaltenslehre in deutscher Sprache, entstand um 1215/16 und widmet sich in circa 15.000 Versen der Vermittlung höfischer und religiöser Verhaltensnormen sowie ethischer Bildungsinhalte an ein deutschsprachiges aristokratisches Publikum. Vier von den 24 überlieferten, zum Teil reich bebilderten Handschriften werden in der Universitätsbibliothek Heidelberg aufbewahrt.

In ihren Einführungsvorträgen stellten die Organisatoren PETER SCHMIDT (Heidelberg), CHRISTIAN SCHNEIDER (St. Louis) und JAKUB ŠIMEK (Heidelberg) kurz Werk und Autor vor, wobei sie auf die Rezeption und die Erforschung des Welschen Gastes in den letzten 800 Jahren eingingen. Das Tagungsprogramm setzte sich anschließend aus zwölf Vorträgen zusammen, die Zugriffe aus den Bereichen der Germanistik, der Kunstgeschichte und der Mittellateinischen Philologie boten. Ziel der Tagung war es, im interdisziplinären Austausch neue Sichtweisen auf den Welschen Gast zu gewinnen.

KATHRYN STARKEY (Stanford) eröffnete die Reihe der Vorträge und präsentierte zunächst ein Phänomen des Rezeptionswandels, indem sie die Entwicklung des Welschen Gastes hin zu einem Nachschlagewerk beschrieb. Hierfür verglich sie die Heidelberger Handschrift Cod. Pal. germ. 389 (um 1256), deren Layout das mündliche Vortragen begünstigte, mit jener aus Gotha (Cod. Memb. I 120, 1340): In letzterer finden sich Initialen, ein Indexsystem sowie eine reichhaltige Bebilderung, welche den Lesefluss unterbrechen und Unterkapitel schaffen. Dieses Layout, so Starkey, ermöglichte einen selektiven Zugriff auf einzelne Textpassagen und unterschied sich damit grundsätzlich von dem der Heidelberger Handschrift.

JAKUB ŠIMEK (Heidelberg) stellte die Arbeit des Heidelberger SFB-Projekts „Welscher Gast digital“2 vor, das inzwischen in Kooperation mit der Universitätsbibliothek Heidelberg alle 24 Handschriften als Digitalisate online zur Verfügung stellt und damit deren direkten Vergleich ermöglicht. Eine benutzerfreundliche Oberfläche erleichtert die Arbeit mit den verschiedenen Handschriften, deren Text- und Bildbestand detailliert aufbereitet und systematisch abrufbar ist. Die unkomplizierte Bedienung sowie die breite Materialbasis schaffen nicht zuletzt die Grundlage für weitere Forschungen. Mittelfristig soll eine „digitale kritische Edition“ entstehen.

Die Beiträge von STEFAN SEEBER (Freiburg), PETER SCHMIDT und TINO LICHT (beide Heidelberg) stellten in unterschiedlicher Perspektivierung jeweils das umstrittene Verhältnis von Text und Bild in den Mittelpunkt. Stefan Seeber betrachtete ein Unikat der Thomasin-Überlieferung: die Heidelberger Handschrift Cod. Pal. germ. 338, die an Stelle von Bildern Paratexte aufweist. Diese Texte, so Seebers im Anschluss kontrovers diskutierter Deutungsvorschlag, waren nicht als preiswerte Alternative zur Illustration gedacht, sondern konnten beim Leser vorhandenes Wissen abrufen und dadurch ‚geistige‘ Bilder erzeugen.

Aus einer kunsthistorischen Perspektive widmete sich Peter Schmidt der Struktur und Überlieferung des Bilderzyklus im Welschen Gast. Die Forschung ging lange davon aus, dass Bild und Text bei der Entstehung des Werks als Einheit konzipiert wurden – eine Einschätzung, die Schmidt zufolge auf unzureichenden Bestandsaufnahmen beruht. Sein Vergleich der Darstellungen des Tugend-Laster-Kampfes am Anfang und am Ende einiger Handschriften (unter anderem Cod. Pal. germ. 389 und Cod. Memb. I 120) mit jenen ausgewählter Prudentius-Handschriften (unter anderem Cod. 264, um 900, in Bern aufbewahrt) führte Erkenntnischancen des kunsthistorischen Zugriffs vor, indem er den möglichen Vorbildcharakter von Prudentius’ Psychomachie für Thomasins Werk aufzeigte. Auf dieser Basis betonte Schmidt, dass der Text des Welschen Gastes auch ohne die Abbildungen verständlich ist und diese wiederum eigenständig wirken können. Er schlussfolgerte daraus, dass die Abbildungen auch später als der Text entstanden sein könnten.

Tino Licht thematisierte ebenfalls den Einfluss der Psychomachie auf den Welschen Gast, wobei er unterstrich, dass beide Werke Ähnlichkeiten in ihrer didaktischen Methode aufweisen und gleichermaßen als Lehrgedichte genutzt wurden. Indem er die hierfür notwendige Verknüpfung von Text und Bild hervorhob, widersprach er Schmidts These, die Abbildungen seien losgelöst vom Text zu verstehen. In der lebhaften Diskussion untermauerte er die zeitgleiche (oder zumindest zeitnahe) Entstehung von Text und Bild mit dem Verweis auf eine schwer lesbare Datierung in einem Spruchband (Cod. Pal. germ. 389, fol. 33v), welche die von Thomasin intendierte Bebilderung des Textes impliziert.

Einblicke in die Quellen und Vorbilder des Welschen Gastes aus literaturwissenschaftlicher Perspektive eröffneten RONNY F. SCHULZ (Kiel), FRITZ PETER KNAPP (Heidelberg) und HENRIKE MANUWALD (Freiburg). Schulz untersuchte zunächst den Einfluss der Erziehungsliteratur oberitalienischer Höfe auf das Werk Thomasins: Anhand der okzitanischen Tischlehre „Tener a taula“ zeigte er, dass nicht nur inhaltliche Ähnlichkeiten bestehen, sondern auch stilistische Figuren übernommen wurden.

Fritz Peter Knapp widmete sich den moralphilosophischen Vorbildern und betrachtete hierfür die Tugend-Laster-Reihen im Welschen Gast. Er arbeitete strukturelle Ähnlichkeiten zur Nikomachischen Ethik des Aristoteles heraus, denn wie dort steht auch im Welschen Gast, dem Mesotes-Prinzip entsprechend, eine Tugend stets zwischen zwei entgegengesetzten Lastern, die durch Übermaß und Mangel charakterisiert sind. Laut Knapp orientierte sich Thomasin an diesem Dreierschema (z. B. bloedekeitdiumuotübermuot); allerdings setzte er es nicht in allen Fällen um und berief sich auch an keiner Stelle ausdrücklich auf Aristoteles.

Henrike Manuwald thematisierte anschließend das Motiv der Acedia und dessen Präsenz im Welschen Gast, wobei sie vor allem die unterschiedlichen Formen der Tätigkeit und der Untätigkeit bei Thomasin untersuchte. Nach Manuwald erscheint die Acedia, oft mit ‚Sorglosigkeit‘ oder ‚Trägheit‘ übersetzt, im Welschen Gast konzeptionell in einer Kombination von Nichtstun und falschem Handeln und wird unter dem Begriff der muoze gefasst.

CHRISTIAN SCHNEIDER (St. Louis) analysierte die Textstruktur und die Illustrationsprinzipien im Welschen Gast: Seiner Deutung zufolge offenbart sich bei der Betrachtung der Makroebene ein argumentativer Bogen, während der Text auf der Mikroebene immer wieder alinear und wenig stringent erscheint. Schneider deutete diesen Befund so, dass Thomasin wahrscheinlich kein umfassendes Konzept besaß, sondern die Struktur seines Textes im Laufe des Schreibens weiterentwickelte und flexibel seinem jeweiligen Lehrgegenstand anpasste. So stünde auch der Bilderzyklus zwar im Bezug zum Text, sei zu dessen Verständnis aber nicht zwingend notwendig.

CHRISTOPH SCHANZE (Gießen) untersuchte den Welschen Gast im Hinblick auf die Präsenz der Integumentum-Figur aus der gelehrten lateinischen Poetik der Zeit. Frühere Studien vor allem von Fritz Peter Knapp aufgreifend, unterstrich er, dass Thomasin im Rahmen seiner Lektüreempfehlungen für junge Adelige keine literaturtheoretische Äußerung zugunsten einer Anwendung der Integumentum-Figur auf Aventiureerzählungen angestrebt habe. Schanze arbeitete ein dreistufiges Modell heraus, das zwischen Aventiuregeschichten für Kinder unterschied, Aventiuregeschichten als Exempel und – als höchster Form der Tugendvermittlung – moraldidaktischen Texten. Dieser letzten Gruppe habe Thomasin auch sein Werk zugerechnet.

Zum Abschluss fragte ANDREA SIEBER (Aachen) nach den Möglichkeiten, den Welschen Gast als Textgrundlage didaktisch einzusetzen: Sie sprach sich entschieden für die Integration mediävistischer Inhalte in den gymnasialen Deutschunterricht aus und führte Ansätze hierfür vor, die im Rahmen des Projekts „mittelneu“3 erarbeitet wurden. Die Faszination am Mittelalter ermögliche es, so Sieber, die Lese- und Lernmotivation von Schülerinnen und Schülern aller Klassenstufen zu befördern. Besonders wertvoll sei zudem im Fall des Welschen Gasts die enge Verzahnung von Text und Bild, deren Untersuchung in besonderem Maße die Medienkompetenzen fördere.

Über das Vortragsprogramm hinaus fand eine Präsentation der vier Heidelberger Handschriften (Cod. Pal. germ. 389, 320, 338 und 330) statt. Zahlreiche der in den Vorträgen präsentierten Inhalte und Fragestellungen, so etwa zum Verhältnis von Text und Bild, konnten durch den Blick auf die Originale vertieft werden.

Im Rahmen der Tagung wurde deutlich, dass die Auseinandersetzung mit Thomasins Werk nicht nur weiterhin ergiebig ist, sondern dass gerade durch die Entwicklung interdisziplinärer Zugriffe neue und weiterführende Erkenntnisse hervorgebracht werden können. So wurde etwa im Gespräch zwischen den Disziplinen die Frage nach der Entstehung und Rolle der Bebilderung neu gestellt und diskutiert. Falls der Bilderzyklus tatsächlich nicht in Zusammenarbeit mit Thomasin entstand, so wäre auch der Text an vielen Stellen neu zu lesen. Das Verhältnis von Text und Bild im Welschen Gast bedarf daher noch einer genauen Untersuchung, für die das Heidelberger Projekt „Welscher Gast digital“ einen vielversprechenden Zugang bietet. Die Tagung machte klar, dass die weitere Erforschung interdisziplinär angelegt sein muss, will man das Werk in seiner materiellen Überlieferung angemessen deuten. Zudem wurde der Wunsch nach einer neuen kritischen Leseausgabe des Welschen Gastes mit gründlichem Kommentar deutlich. Auch hierfür wird das Heidelberger Projekt eine neue Grundlage bieten.

Konferenzübersicht:

Veit Probst / Ludger Lieb, Begrüßung

Christian Schneider (St. Loius) / Peter Schmidt / Jakub Šimek (Heidelberg), Einführung ins Tagungsthema

Kathryn Starkey (Stanford), Die Entstehung eines Nachschlagewerkes

Jakub Šimek (Heidelberg), Welscher Gast digital. Methodischer Umriss einer Werkausgabe

Stefan Seeber (Freiburg), Wortbilder statt Bildworte. Cod. Pal. germ. 338 als Sonderfall der Thomasin-Überlieferung

Peter Schmidt (Heidelberg), Anlässlich des Anfangs und des Endes. Einige Fragen zur Struktur und Überlieferung des Bilderzyklus

Tino Licht (Heidelberg), Vom Hintergrund des „Welschen Gastes“. Die „Psychomachie“ des Prudentius als Referenz mittelalterlicher Allegorese

Ronny F. Schulz (Kiel), Zwischen Adaption und Abgrenzung. Thomasins „Welscher Gast“ und sein Verhältnis zu den altokzitanischen ensenhamens

Fritz Peter Knapp (Heidelberg), Diu mitter strâze. Nochmals zu den moralphilosophischen Quellen der Tugendlehre Thomasins von Zerklaere

Henrike Manuwald (Freiburg), Ich hân gehôrt und gelesen, / man sol ungerne mûezec wesen. Spuren der acedia-Tradition im „Welschen Gast“

Christian Schneider (St. Louis), Ut poesis pictura? Textstruktur und Illustrationsprinzipien im „Welschen Gast“ Thomasins von Zerklaere

Christoph Schanze (Gießen), Integumentum revisited. Neue Überlegungen zu einem alten Streitfall

Andrea Sieber (Aachen), Sich selben meistern, alle tac. Der „Welsche Gast“ im medienintegrativen Deutschunterricht

Anmerkungen:
1 Homepage des Thomasin-Projektes: <http://www.thomasin.materiale-textkulturen.de> (28.7.2015).
2 Welscher Gast digital, <http://digi.ub.uni-heidelberg.de/wgd/> (28.7.2015).
3 Universität Duisburg Essen, Mittelhochdeutsche Texte im Deutschunterricht <http://uni-due.de/mittelneu> (28.7.2015).


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