Die von Steffen Patzold (Tübingen) organisierte Frühjahrstagung des Konstanzer Arbeitskreises widmete sich einem Gegenstand, der aus frühmittelalterlicher Perspektive an die Herbsttagung 2014 „Landwirtschaft und Dorfgesellschaft im ausgehenden Mittelalter“ anschloss. Das Interesse richtete sich dabei weniger auf die Agrarwirtschaft als auf die Kommunikationswege und -mittel, die politische Zentren und Peripherien verbanden. Wie funktionierten Entscheidungsprozesse in ihren Praktiken und Institutionen nicht am Hof, sondern in den „lokalen, ländlichen Gesellschaften außerhalb der civitates und unterhalb der Ebene von Grafschaft und Diözese“?
In seiner Einleitung formulierte STEFFEN PATZOLD für die Tagung zwei Aufgaben: Sie sollte zum einen ein genaueres Bild des in zeitgenössischen Quellen immer wieder angesprochenen populus gewinnen; und sie sollte erfassen, wie die Bemühungen des Hofes, die Lebensführung aller Menschen noch im letzten Winkel des Reichs zu regulieren, in der Praxis in der Peripherie wirkten. Angesichts des auf alle Christen abzielenden „gewaltigen christlichen Qualitätsmanagements“ stelle sich zudem die alte Frage nach der Existenz einer „öffentlichen Gewalt“ neu – eine Frage, die seitens der „Neuen Verfassungsgeschichte“ abschlägig beantwortet worden ist. Behandelt wurde das Thema in neun Vorträgen: Dabei ging es zuerst um die Beschäftigung mit in diesem Zusammenhang einschlägigen, aber noch wenig genutzten Quellengattungen, danach um die vergleichende Analyse ländlicher Gesellschaften in einzelnen Regionen.
SEBASTIAN BRATHER (Freiburg im Breisgau) bot eine Einführung in die archäologische „Siedlungsforschung“. Deutlich umriss er die Aussagemöglichkeiten seines Faches, dessen Perspektive auf lokale Gesellschaften der Karolingerzeit von einem Wandel der Quellenbasis bestimmt ist: Bis ins 8. Jahrhundert bestehe diese Grundlage vor allem aus Grabfunden, mit dem Ende der Beigabensitte würden Siedlungsbefunde zur Hauptquelle. Damit verschiebe sich der Betrachtungsgegenstand: Von der Untersuchung sozialer Praxen gehe der Blick hin zu Strukturen, die nur über die longue durée zu erfassen seien. Zugleich machte Brather mehrere populäre archäologische Fehlinterpretationen deutlich: So könne die Religionszugehörigkeit der Toten (Christ/Heide) nicht an den Grabbeigaben abgelesen werden. Auch ethnische Zugehörigkeit sei nicht archäologisch zu fassen. Da Gruppen sozial, nicht biologisch konstruiert werden, gelte das entgegen verbreiteter Hoffnungen auch für DNA- und Isotopenanalysen. Gegenstand archäologischer Fragestellungen seien statt dessen Kommunikation und Mobilität, die Interpretationen performativer Handlungen sowie, in langer Perspektive, soziale und kulturelle Strukturen.
CHARLES WEST (Sheffield) drang über Mirakelberichte in die „kleinen Welten“ vor. Er zeigte, wie unser Wissen über ländliche Gesellschaften weiterhin wesentlich auf normativen Quellen beruhe (Urkunden, Polyptycha und Kapitularien). Auch wenn diese Quellen für das 9. Jahrhundert ein viel deutlicheres Bild lieferten als für andere Zeiten, bleibe es einseitig: Sie zeigten eine Gesellschaft, die vor allem über Recht und Besitz strukturiert gewesen sei. Wichtige Aspekte würden so ausgeblendet, wie die Mirakelberichte demonstrierten – eine Quellengruppe, die die Forschung zur ländlichen Welt lange ignoriert habe. Dabei zeigten sich in den Wunderberichten Spannungen und Mechanismen der Konfliktlösung, also das Funktionieren lokaler Gemeinschaften. Pointiert führte West an einer Reihe von Fallbeispielen vor, wie übernatürliche Kräfte in Form von Heiligen und Dämonen für die Zeitgenossen des 9. Jahrhunderts das Alltagsleben stärker prägten als abstrakte besitzrechtliche Fragen. West forderte deshalb abschließend, zunächst eine Kulturgeschichte des ländlichen Raumes zu schreiben, bevor man versuche, seine Wirtschafts- und Sozialgeschichte zu schreiben.
WARREN BROWN (Pasadena) wählte die Formelsammlungen des 8.–10. Jahrhunderts als Zugang zum Tagungsthema, die er mit den Theorien der Konfliktforschung analysierte. Ihre eigentliche Aussagekraft erlangten diese Texte erst durch die Untersuchung der handschriftlichen Überlieferung. Dann seien sie eine wichtige Ergänzung zu Urkunden, denn letztere zeigten vor allem Konflikte, in die kirchliche Institutionen verwickelt gewesen seien. Formelsammlungen hingegen seien entstanden, als Kirchen und Klöster zunehmend Schreibtätigkeiten auch für Laien übernahmen. Während die Streitparteien, die in den Formelsammlungen sichtbar werden, ganz unterschiedliche soziale Stellungen einnähmen, finde der Streit stets auf einer lokalen Ebene statt: Streitgegenstand sei eine Wiese, ein Stück Vieh oder eine entführte Frau. Sichtbar würden so – nicht in kategorialer Abgrenzung, sondern als Endpunkte eines Kontinuums – sowohl gerichtliche als auch außergerichtliche Strategien der lokalen Konfliktlösung. Sehr deutlich zeigten die Formelsammlungen, dass Konflikte im Karolingerreich regelmäßig mit Gewalt ausgetragen wurden. Die Texte dienten oft dazu, die Gewalt beizulegen und den Konflikt zu beenden.
CARINE VAN RHIJN (Utrecht) näherte sich den „kleinen Welten“ über eine Schaltstelle zwischen Hof und laikaler Landbevölkerung: die lokalen Priester, die sie, durchaus im Einklang mit der Einschätzung hofnaher Quellen, als „channel for local correctio“ versteht. Ihr Augenmerk galt dem heterogenen, noch wenig erschlossenen Bestand an Codices, die im 9. Jahrhundert als „Schulbücher“ oder „Handbücher“ für Priester zusammengestellt wurden. Zur Illustration dieser Typen stellte van Rhijn die Codices Bamberg, StaBi, Lit. 131, und Laon, BM, 288 (beide 9. Jahrhundert) vor. Neben der beträchtlichen Zahl solcher Bücher zeuge auch ihre nachweisliche Benutzung – van Rhijn präsentierte als eindrücklichen Beleg Karlsruhe, BLB, Ms. 220 – zum einen von den Hoffnungen, die der Hof in die Priesterbildung setzte, zum anderen von einem tatsächlichen „lokalen Effekt“ der correctio. Ein Blick auf die Priesterbücher erlaube es zugleich, dieses Programm genauer zu erfassen: Selbige zeigten nämlich, dass die Reform mitnichten in der uniformen Kompilation von Normtexten bestand. Die Codices spiegelten konsensfähige, aber lediglich einen Rahmen eröffnende Grundprinzipien; in diesem war dann jene erstaunliche Vielfalt möglich, die nach van Rhijn als Schlüssel zum Verständnis der correctio gelten darf.
STEFAN ESDERS (Berlin) wandte sich den laikalen Funktionsträgern in ländlichen Gesellschaften zu. Er plädierte dafür, in der Quellenbasis „Vogel- und Froschperspektive“ zusammenzunehmen, also etwa Kapitularien und lokale Privaturkunden parallel zu berücksichtigen, um so dem Doppelcharakter des Karolingerreichs als „von oben her mit einer erweiterten Militärstruktur überzogener Suprastruktur“ einerseits und Ensemble aus Räumen mit eigenen Traditionen andererseits gerecht zu werden. So blickte er auf Zentenare und Vikare als unterhalb der Grafschaftsebene agierende Funktionsträger, deren Handeln dem „staatlichen Zugriff auf lokale Gesellschaften“ verpflichtet war, die aber zugleich als Exponenten der lokalen Kommunitäten selbst zu verstehen seien. Als Sanktionsmittel hätten sie über den (Heer-) Bann verfügt, über den sie auch in nicht-königliche Grundherrschaften eingreifen konnten. Ihre lokale Stellung ist schwerer zu bestimmen: Es konnte sich um wohlhabende Personen mit guter Vernetzung handeln, die – zusammen mit Notaren und lokalen Priestern – gewissermaßen das „Gedächtnis“ ihrer Kommunität darstellten. In die Kommunikation innerhalb des von ihnen geleiteten Raumes seien sie wegen ihrer lokalen Präsenz unmittelbarer als etwa die Grafen eingebunden gewesen – vornehmlich wohl über placita, auf denen es die kollektiv zu tragenden Verantwortlichkeiten und Leistungen der Zentenen, aber auch Recht und Konfliktlösung zu „vergesellschaften“ galt. Diese lokalen Praktiken zur „Kollektivierung“ erwiesen erst, dass es sich bei den Zentenaren doch um mehr als um einen „Wurmfortsatz einer von oben durchgreifenden Militäradministration“ handelte. Amtsmissbrauch hätten die Herrscher seit Karl dem Großen durch Maßnahmen wie die Einführung professioneller Schöffengremien einzugrenzen versucht, womit sie einen sozialgeschichtlichen Veränderungsprozess zu Lasten der Zentenare und Vikare anstießen. Esders schloss mit dem Appell, stärker nach den „intendierten Wechselbeziehungen zwischen kirchlichen und weltlichen Funktionsträgern“ und ihren Resultaten zu fragen und dazu die klerikalen und laikalen Quellen keiner harmonisierenden, aber doch einer synthetisierenden Lektüre zu unterziehen.
Mit einem Blick in die Welt kleiner Funktionsträger in Rheinfranken und Bayern leitete THOMAS KOHL (Tübingen) die zweite, regional vergleichende Sektion ein. An den Urkunden aus Fulda und Freising zeigte er, wie das Leben abseits der Zentren verlief und die kleinen Welten doch stets in die „karolingisch-christliche Welt“ integriert blieben. Soziale Ordnung und Integration fand er weniger in den Landtransaktionen der Urkunden selbst als in den Zeugenlisten, die lokale Eliten (boni homines) als Sicherungsinstanz vor Ort, aber auch als überregionale Akteure zeigten. Auf andere Weise global verflochten gewesen seien lokale Gesellschaften außerdem als Teil der universalen Christenheit, an der sie über Ortskirchen und Heiligentranslationen teilhatten. Kohls Fallstudien führten zu einer Diskussion des Paradigmas der „Grundherrschaft“. Deutlich wurde, dass das Fach nicht bereit ist, diesen Begriff aufzugeben, sondern ein Nebeneinander verschiedener Organisationsformen von Grundbesitz und Überschneidungen in lokalen Gemeinschaften sieht.
BERNHARD ZELLER (Wien) widmete sich der Urkundenlandschaft der Alamannia. Quellengrundlage waren für ihn gut 700 „St.-Galler“ Urkunden aus der Zeit vor 920. Zeller stellte erneut die Frage nach der Bedeutung nicht-klösterlicher Urkundenschreiber. Einige von ihnen seien möglicherweise Laien gewesen, der ganz überwiegende Teil aber lokale Priester. In wenigen Fällen sei belegbar, dass sie im Gefolge von nachgeordneten Funktionsträgern wie Zentenaren tätig waren, weswegen man ihnen eine offiziöse Funktion zusprechen müsse. Diese Position sei in Selbstbezeichnungen wie notarius oder cancellarius ausgedrückt worden. Die Scheidung in klösterliche und nicht-klösterliche Urkunden ermöglichte einen Einblick in die Mentalität ländlicher Gesellschaften: So wurden etwa die Herrscherjahre Karls des Großen im Kloster St. Gallen ab 768 gezählt, von örtlichen Priestern in Alamannien aber erst ab 771. Die Verschränkung der kleinen mit der großen Welt wiederum werde in der Verwendung von Formelsammlungen ab den 780er Jahren deutlich.
MARCO STOFFELLA (Verona) nahm die Umgebung von Lucca in den Blick. Das wenige Kilometer östlich des Bischofssitzes gelegene Lunata diente ihm als „litmus paper“ und – repräsentatives – Beispiel für den Wandel von lokaler Identität und Sozialstruktur nach der Eingliederung des Langobardenreichs 774. Stoffella verwies auf die dadurch gezeitigten „tiefen und anhaltenden Effekte der karolingischen Politik auf die Gesellschaft“; zu ihnen habe ein Bedeutungsverlust jener Familien gezählt, die ihren Zugriff auf Dörfer insbesondere über bestimmte Heiligenkulte zu sichern versuchten. Wie Stoffella anhand von S. Martino und S. Frediano demonstrierte, sei diese Strategie in Lunata in einer ersten Phase noch aufgegangen, obwohl das Bistum Lucca bereits die Kontrolle über die „eigenkirchlichen“ Stiftungen angestrebt und – etwa durch die Umwandlung in Taufkirchen – auch erreicht habe; noch hätten die lokalen Eliten aber ihren Einfluss dadurch wahren können, dass ihre Mitglieder geistliche Karrieren einschlugen und die Leitung der schon ins Diözesangefüge eingebundenen Kirchen übernahmen. In einer zweiten, um die Mitte des 9. Jahrhunderts einsetzenden Phase aber hätten sie das „ungleiche Spiel“ gegen die „karolingische“ Institution verloren: Anfang des 10. Jahrhunderts sei in Lunata kaum mehr eine Spur der Eliten des 8. Jahrhunderts zu finden. Dass es sich hierbei nicht um einen durch Überlieferungsverlust verzerrten Befund handle, betonte Stoffella mit Verweis auf die ausgesprochen gute Quellenlage.
WENDY DAVIES (London/Oxford) verglich die „kleinen Welten“ der Bretagne mit jenen in den christlichen Königreichen im Norden der Iberischen Halbinsel (Pamplona/Navarra und Asturien-León). Dabei konzentrierte sie sich mit dem bretonischen 9. und dem nordiberischen 10. Jahrhundert zwar auf verschiedene Zeiträume, die aber jeweils die dichteste Überlieferung an privaturkundlichem Material aufwiesen. Folgende Punkte bildeten das Raster ihres Vergleichs: lokale Strukturen, lokale Praktiken, darunter insbesondere jene der gerichtlichen Konfliktbeilegung, normative Richtlinien sowie Interaktion zwischen politischem Zentrum und lokalen Einheiten. Sie gelangte zu dem Befund, dass beide Räume insofern Gemeinsamkeiten aufwiesen, als hier wie dort Priester in lokalen Zusammenhängen zu greifen sind, sich gerichtliche Verfahren grundsätzlich ähnlich gestalteten und Richtlinien zur Prozessführung bis auf lokale Ebene durchschlugen (Ansätze karolingischer Normen in der Bretagne, westgotisches Recht in Nordiberien), während nirgendwo eine dauerhafte Bestellung lokaler Amtsträger durch den König erfolgt sei. Unterschiede sah Davies in den Herrschaftsstrukturen und in den ortsansässige Akteure involvierenden Gerichten der Bretagne, die für Nordiberien nicht nachzuweisen seien, wo wiederum die Erhebung von Bußgebühren „exklusiv“ belegt sei. Veränderungen im Verhältnis von Zentrum und Lokalität deutete Davies als Indizien einer sich wandelnden Staatlichkeit, deren Einfluss auf die lokale Ebene in Konkurrenz zu älteren Praktiken „from a distant past“ getreten sei.
MAYKE DE JONG (Utrecht) formulierte in ihrem Schlussvotum offene Fragen und Probleme. Sie betonte die Wirkmächtigkeit von Forschungstraditionen: Die deutsche Verfassungsgeschichte habe sie wie ein „blast from the past“ getroffen – dieser Persistenz müssten sich anglophone Kollegen bewußt sein, wenn sie Konzepte wie Herrschaft unter dem Namen der „lordship“ (Th. Bisson) übernähmen. Die Tagung habe aber auch gezeigt, wie das Fach dabei sei, den postulierten Gegensatz von „Kirche“ und „Staat“ aufzulösen. Gelungen sei das der Tagung bereits mit der Interpretation des zentralen Begriffes der correctio als Bemühen um eine umfassende Ordnung der Welt nach dem Willen Gottes. Die correctio sei dabei während der Tagung nicht als reiner „top-down“-Prozess betrachtet worden, sondern stets als Wechselbeziehung zwischen Globalem und Lokalem. Die entscheidenden Schnittstellen hätten die verschiedenen Vorträge deutlich hervortreten lassen: Es handle sich um die lokalen Großen („biggies“) wie Priester und Zentenare. Neuen Zugang zu ihnen gewährten erst handschriftengestützte Untersuchungen. Das Fach müsse zudem seinen Umgang mit historiographischen Quellen grundlegend ändern und sich angewöhnen, sie ebenso genau zu betrachten wie bisher Urkunden – wie es vor allem Rosamond McKitterick mit ihrem Werk vorbereitet habe. Abschließend griff de Jong die Forderung Wests auf: Zunächst müsse eine Kulturgeschichte des ländlichen Raumes geschrieben werden, erst dann sei die Grundlage für seine Sozialgeschichte bereitet.
Konferenzübersicht:
Steffen Patzold (Tübingen), Einführung
Sebastian Brather (Freiburg im Breisgau), Frühmittelalterliche Siedlungen und ihr Umfeld. Perspektiven der Archäologie
Charles West (Sheffield), Saints and demons in the Carolingian countryside
Warren C. Brown (Pasadena), Konfliktführung im Spiegel karolingischer Formelsammlungen
Carine van Rhijn (Utrecht), Royal politics for small worlds: local priests and the implementation of Carolingian correctio
Stefan Esders (Berlin), Amt und Bann: Weltliche Funktionsträger als Teil ländlicher Gesellschaften im Karolingerreich
Veit Probst / Maria Effinger (Heidelberg), Präsentation der digitalen Plattform „Vorträge und Forschungen Online“
Thomas Kohl (Tübingen), Die lokalen Gesellschaften Bayerns und Rheinfrankens im Karolingerreich
Bernhard Zeller (Wien), Lokales Urkundenwesen im karolingerzeitlichen Alamannien
Marco Stoffella (Verona), Local society and social change in early Carolingian Tuscany
Wendy Davies (London/Oxford), Small worlds beyond Empire: the contrast between eastern Brittany and northern Iberia
Mayke de Jong (Utrecht), Zusammenfassung