Die vierte Tagung des „Interdisziplinären Arbeitskreises für Ethik in der Medizin in Polen und Deutschland“ fand in diesem Jahr vom 29. bis zum 31. Juli in Łódź statt (http://blogs.urz.uni-halle.de/medizinethik/). Wissenschaftler/innen aus Polen und Deutschland kamen auf Einladung von Florian Steger (Halle/Saale), Jan C. Joerden (Frankfurt/Oder) und Andrzej M. Kaniowski (Łódź), den drei Initiatoren des Arbeitskreises, zusammen, um in interdisziplinärer Perspektive das Werk des polnischen Psychiaters Antoni Kępiński (1918–1972) zu diskutieren. Kępińskis Werk wurde vor dem Hintergrund aktueller ethischer Fragen der Psychiatrie analysiert und auf seine wissenschaftstheoretische Bedeutung hin befragt. Vor allem Kępińskis Modell der Psyche (Informationsmetabolismus) sowie sein Verständnis des Patient-Arzt-Verhältnisses standen im Zentrum der Beiträge und Diskussionen. Zudem wurde Kępińskis Arbeit zum sogenannten KZ-Syndrom thematisiert.
Die Tagung wurde von PAWEŁ ŁUKÓW (Warschau) eröffnet. In seinem Vortrag thematisierte Łuków die Ambivalenz von Kategorisierungen in der Psychiatrie. Einerseits ermöglicht eine Kategorisierung von psychischen Störungen einen wertneutralen Zugang zu den individuellen Leiden von Patienten. Andererseits ist jede psychische Störung durch die individuelle Perspektive des Patienten und einer engen Verbindung mit der Persönlichkeit des Patienten geprägt. Kępiński betone die Bedeutung der individuellen Perspektive des Patienten auf seine eigene Verfassung – die Ich-Perspektive des Patienten. Nur aus dieser Ich-Perspektive ließe sich eine psychische Erkrankung verstehen. Der Zugang zu psychischen Störungen und deren Therapie müsse daher, so Łuków, wesentlich durch die individuellen Wertemuster des Patienten bestimmt sein.
ANDRZEJ M. KANIOWSKI (Łódź) fokussierte in seinem Beitrag Kępińskis Verständnis der menschlichen Natur. Er widersprach mit seinem Beitrag dem polnischen Psychiater Andrzej Jakubik, der Kępiński ein in thomistischer Tradition stehendes religiöses und metaphysisches Verständnis der menschlichen Natur attestierte. Im Rückgriff auf Aristoteles (384 v. Chr. – 322 v. Chr.) und Thomas von Aquin (ca. 1225 – 1274) erweise sich Kępińskis Bild der Natur des Menschen weder als religiös noch metaphysisch. Vielmehr entwickle Kępiński seine Theorie der Moral aus biologischen Gesetzen. Auch wenn Kępiński Anknüpfungspunkte für eine religiöse Interpretation biete, vertrete er keineswegs ein religiöses Menschenbild. Vielmehr sei zu diskutieren, inwiefern es sich bei Kępińskis Ausführungen zur Natur des Menschen um einen eklektizistischen Zugang handelt.
Der von Kaniowski angesprochene Aspekt der Freiheit wurde im Beitrag von ANDRZEJ KAPUSTA (Lublin) aufgegriffen. Kapusta zeigte, welche konzeptuelle Bedeutung die Kategorien Geist, Handlung und Entscheidung für Kępińskis Psychopathologie haben. Entscheidungen seien durch Erfahrung geprägt. Dabei ist die Erfahrung des eigenen Selbst und des eigenen Körpers ein zentraler Orientierungspunkt. Das Bewusstsein erfülle hierbei die wichtige Rolle der Selbstregulierung. Erfahrung formt also das individuelle Selbstbild und damit die individuelle Entscheidungsfähigkeit. Entscheidungen stehen bei Kępiński in engem Zusammenhang zum jeweils individuellen Wertesystem und den biologisch sowie sozial bestimmten Strukturen des Bewusstseins. Entsprechend seien Entscheidungen immer durch die Wahl zwischen verschiedenen Werten geprägt.
Diese Wertorientierung stand auch im Zentrum des Beitrages von ANDRZEJ KOKOSZKA (Warschau), der auf der Tagung durch seine Co-Autoren KATARZYNA STANKIEWICZ (Warschau) und WIKTOR BUCZEK (Warschau) vertreten wurde. Sie betonten Kępińskis Modell der Patient-Arzt-Beziehung, bei der nach Kępiński drei Probleme vermieden werden müssen: Zunächst müsse eine Subjekt-Objekt-Attitüde des Arztes/Therapeuten abgelegt werden. Zudem sei eine grundsätzliche Objektivierung des Patienten und seines individuellen Leidens zu vermeiden. Drittens sollte der Arzt/Therapeut keine Maske anlegen, sondern dem Patienten authentisch begegnen. Das Patient-Arzt-Verhältnis sollte offen, dialogisch und werteorientiert und durch den Respekt vor dem individuellen Patienten geprägt sein. Ziel sei es, die Entscheidungsfreiheit und Werteorientierung des Patienten wieder herzustellen.
JAKUB ZAWIŁA-NIEDŹWIECKI (Warschau) zeigte in seinem Vortrag, dass Kępiński psychiatrische Störungen insbesondere als Störungen der Entscheidungsfähigkeit versteht. Dieses Verständnis fordere einen neuen Zugang zu den Fragen der Kompetenz des Patienten und der Patientenselbstbestimmung in der Psychiatrie. Vor diesem Hintergrund entwickelte Kępiński sein Modell der Psyche als Informationsmetabolismus. Demnach verstand Kępiński den Menschen als Energie und Informationen verarbeitendes biologisches System. Mit diesem Ansatz konnte Kępiński einerseits kognitivistische Ansätze integrieren und andererseits die Selbstbestimmung der Patienten stärken.
Wie das Modell des Informationsmetabolismus mit Modellen der Kognition in Verbindung gesetzt werden kann, zeigte GIOVANNI RUBEIS (Halle/Saale). Rubeis verglich John Deweys (1859–1952) naturalistischen Empirismus mit Kępińskis Informationsmetabolismus. Beide Modelle basieren auf einer biologisch geprägten Ebene und betonen die Interaktion zwischen Psyche und Umwelt. Zudem sei in beiden Modellen Wissen als aktive Verarbeitung von Daten zu verstehen. Kępińskis Informationsmetabolismus und seine Erkenntnistheorie seien grundsätzlich als ein naturalistischer Empirismus zu verstehen, können aber nicht darauf reduziert werden. Der Vergleich sei vor allem fruchtbar, um die vielfältigen Anknüpfungspunkte und das integrative Potential von Kępińskis Werk herauszuarbeiten.
Einen weiteren Schwerpunkt der Tagung bildete Kępińskis Arbeit zum sogenannten KZ-Syndrom. GRZEGORZ SZELĄŻEK (Görlitz) sprach auf Basis von Kępińskis Beiträgen zur Psychopathologie des Konzentrationslagers über die verschiedenen Formen des Leidens. Szelążek identifizierte diesbezüglich verschiedene Formen. Zunächst sei das im Zusammenhang mit Schmerz stehende Leiden zu nennen. Des Weiteren sei jenes Leiden er nennen, das als geistiges Leiden aus der Bedrohung der eigenen Integrität resultiere. Wesentlich hierbei sei die Automatisierung menschlicher Handlungen im Konzentrationslager. Der Entzug der sozialen Umwelt und sozialer Eigenschaften im Lager begründe zudem als dritte Form ein soziales Leiden. Insbesondere die vierte Form des Leidens, das moralische Leiden, sei für Kępiński von besonderer Relevanz. Der Wegfall der bisherigen moralischen Regeln und Werte unter den Bedingungen des Konzentrationslagers stelle das menschliche Leben überscharf dar.
Die Frage der Psychopathologie des Lagers wurde auch im Beitrag von MANUEL WILLER (Halle/Saale) aufgegriffen. Er verglich die Forschungen William Niederlands (1904–1993) zur Posttraumatischen Belastungsstörung mit Kępińskis Arbeiten zum KZ-Syndrom. Nach Willer gehen die Arbeiten Kępińskis entscheidend über Niederlands Forschungen hinaus, da sie auf die gesellschaftlichen und ideologischen Grundlagen von Psychopathologien hindeuteten. Das System der Konzentrationslager basiere auf einer mechanistischen Ideologie der Gesellschaft und des Individuums, die die individuelle Werteordnung des Menschen negiert. Diese Verbindung von Psychopathologien und Ideologien sei auch für die heutige Forschung relevant, da sie die grundlegende Frage nach den anthropologischen und philosophischen Grundlagen der Psychiatrie und der psychiatrischen Praxis aufwerfe.
Die Beiträge der Tagung verdeutlichten den wissenschaftstheoretischen wie ethischen Gehalt von Kępińskis Arbeiten. Die unterschiedlichen Zugänge der Tagungsteilnehmer(innen) ermöglichten eine fruchtbare und erkenntnisreiche Diskussion im Hinblick auf Fragen der Philosophie der Medizin im Allgemeinen, aber auch konkreter Fragestellungen wie dem Patient-Arzt-Verhältnis, der Patientenselbstbestimmung und der ethischen Grundlagen psychiatrischer Theorie und Praxis. Deutlich wurde dabei das Potential von Kępińskis Werk. Dieses ist keinesfalls eine in sich geschlossene und ausformulierte Theorie, sondern stellt zahlreiche Zugänge und Impulse für aktuelle Fragestellungen bereit. Kępińskis Werk sollte daher unter anderem durch weitere Übersetzungen in höherem Maß zugänglich gemacht werden. Dadurch ließe sich eine breite Diskussion zu Kępińskis Arbeiten, die durch diese Tagung initiiert werden konnte, verstetigen und vertiefen. Die Tagung konnte dank der Unterstützung der Deutsch-Polnischen-Wissenschaftsstiftung durchgeführt werden.
Konferenzübersicht:
Grußwort
Zofia Wysokińska (Łódź): Grußwort der Pro-Rektorin für internationale Angelegenheiten
Eröffnung der Tagung
Andrzej M. Kaniowski, Lehrstuhl für Ethik am Institut für Philosophie der Universität Łódź
Florian Steger, Direktor des Instituts für Geschichte und Ethik der Medizin der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg
Eröffnungsvortrag
Paweł Łuków (Warschau): Integrating Ethics with Psychiatry. The Case of A. Kępiński.
Andrzej M. Kaniowski (Łódź): Zu Antoni Kępińskis Verständnis der menschlichen Natur.
Andrzej Kapusta (Lublin): Mind, Action and Decision Making in Antoni Kępińskis Psychopathology.
Giovanni Rubeis (Halle/Saale): Information Metabolism: A Case of Naturalist Empiricism? Some Remarks on Kępiński and Dewey.
Jakub Zawiła-Niedźwiecki (Warschau): Kępiński, Philosophy of Mind, an Inquiry into some Limits of Patient´s Autonomy.
Andrzej Kokoszka, Katarzyna Stankiewicz, Wiktor Buczek (Warschau): Experience of Values in the Therapeutic Dialog as a Therapeutic Factor of the Psychotherapy by Antoni Kępiński.
Manuel Willer (Halle/Saale): Antoni Kępiński und William Niederland: historische und methodische Anmerkungen zur zweifachen Erforschung des KZ-Syndroms.
Grzegorz Szelążek (Görlitz): „Leiden“ der KZ-Lagerhaft aus Sicht Antoni Kępińskis.
Abschlussdiskussion