Ideen und Praktiken für die räumliche Entgrenzung von Tier-Mensch-Verhältnissen

Ideen und Praktiken für die räumliche Entgrenzung von Tier-Mensch-Verhältnissen

Organisatoren
Andrè Krebber / Mieke Roscher, Universität Kassel
Ort
Kassel
Land
Deutschland
Vom - Bis
01.10.2015 -
Url der Konferenzwebsite
Von
Maike Riedinger, Universität Frankfurt am Main

Tiere werden in den wissenschaftlichen Disziplinen durchaus unterschiedlich betrachtet. Aus diesen divergenten Perspektiven erwächst gleichsam die Grundlage für die menschliche Gestaltung von Mensch-Tier Verhältnissen. Insbesondere haben unterschiedliche Herangehensweisen an Mensch-Tier-Verhältnisse unmittelbare Auswirkungen auf das konkrete Leben von tierlichen Individuen. Der transdisziplinäre Workshop „Ideen und Praktiken für die räumliche Entgrenzung von Tier-Mensch-Verhältnissen“, dem sich dieser Bericht widmet, stellte einen Versuch dar, zwei divergierende Blickwinkel auf einen bestimmten Aspekt der Gestaltung von Mensch-Tier-Verhältnissen miteinander zu konfrontieren. Den Ausgangspunkt lieferte die Frage nach den räumlichen Grenzziehungen zwischen Tieren und Menschen sowie der räumlichen Ausgestaltung von Mensch-Tier-Verhältnissen im urbanen Raum. Inwiefern man mittlerweile von einer Entgrenzung von Tier-Mensch-Verhältnissen sprechen kann, war dabei die leitende Frage sowohl für die Vorträge als auch für die begleitenden Diskussionen.

Eine der beiden vertretenen Fachrichtungen war das Gebiet der Freiraumplanung und der Landschaftsarchitektur. Wie in der Einführung von STEFANIE HENNECKE (Kassel), deutlich wurde, wird Tieren bei der Planung und Gestaltung ein Raum zugewiesen. Konkret für die Planung bedeutet dies, dass gewisse Tierspezies erwünscht sind und Bedingungen geschaffen werden sollen, die ein Vorkommen der Tierspezies ermöglichen. Andererseits sollen unerwünschte Tierspezies durch gezielte Planung ausgeschlossen werden. In diesem Sinne werden Tiere als planbare Objekte betrachtet, zu denen durch Freiraumplanung räumliche Grenzen gezogen oder aufgelöst werden können.

Stellvertretend für die zweite Perspektive führte MIEKE ROSCHER (Kassel)in den Blickwinkel der sozialgeschichtlichen Human-Animal Studies ein. Sie verdeutlichte, dass der Aspekt des Raumes nicht nur für die Raumplanung von Bedeutung sei, sondern ebenfalls in den Geschichtswissenschaften neben dem Faktor Zeit einen wichtigen Zugang liefere. Die Untersuchung von Räumen werde daher auch als eine Zugriffsmöglichkeit auf Mensch-Tier-Verhältnisse begriffen. Der Schlüsselbegriff den Roscher hier anführte ist derjenige der „Animal Agency“. Animal Agency beschreibt die (geschichtliche) Wirkmächtigkeit von Tieren. Tiere seien historische Akteure, die die Geschichte und damit auch geschichtliche Räume mitgestaltet hätten.

Damit stellte Roscher im Gegensatz zu Hennecke eine Perspektive vor, die Tiere nicht als planbare Objekte betrachtet, sondern als wirkmächtige Subjekte, die Einfluss auf den von Menschen gestalteten Raum nehmen und denen somit ein Handeln als Akteure zugesprochen würde.

Einen historisch-kulturwissenschaftlichen Überblick auf die räumliche Grenzziehung lieferte CLEMENS WISCHERMANN (Konstanz) in der Keynote des Workshops. Sein Vortrag zeigte einen Wandel in der räumlichen Grenzziehung zwischen Menschen und Tieren in der Stadtgestaltung auf und betonte, dass sich eine Verschiebung der räumlichen Grenzziehung im urbanen Bereich zwischen Menschen und Tieren nachzeichnen ließe, der von einem Versuch des völligen Ausschlusses von Tieren aus menschlichen Räumen hin zu deren Wiederentdeckung reiche. Dafür führte Wischermann den Begriff der liminalen Tiere an, der Schwellentiere meint. Solche liminalen Tiere habe es stets gegeben. Wischermann unterscheidet sie von Companion Animals, Nutztieren und Wildtieren. Liminale Tiere seien auf die Stadt angewiesen und wirkten auf sie ein. Einzelne Tierarten ließen sich der Gruppe der liminalen Tiere nicht zuordnen. Vielmehr sei die Definition eine soziale und erfolge situativ. Somit gebe es beispielsweise einerseits Füchse, die liminal und Teil der Stadt seien, und andererseits solche, die sich den Wildtieren zuordnen ließen.

Damit beschrieb Wischermann in seiner Keynote genau die Beobachtungen, die DERK EHLERT (Berlin) für die Praxis bestätigt. In Berlin steige seit zwanzig Jahren das Wildtiervorkommen. Ursachen dafür gäbe es mehrere, aber besorgniserregende Folgen habe das Tiervorkommen in der Stadt in den letzten dreizehn Jahren noch keine gehabt. Er sieht sich daher vor allem in einer Vermittlerposition zwischen den Sorgen der BewohnerInnen und den Tieren. Ein Verständnis dafür zu schaffen, dass wir uns die Welt mit Tieren teilen und die öffentliche Akzeptanz dafür gestärkt wird, dass Tiere in der Stadt leben, sei sein zentrales Anliegen. Daher läge das Hauptaugenmerk vor allem auf Öffentlichkeitsarbeit. Denn Tiere aus der Stadt auszuschließen sei nicht möglich, weder durch Jagd noch durch politische Maßnahmen. Derk Ehlerts Vortrag über die Realität im Umgang mit Tiervorkommen in der Stadt zeigte somit, dass räumliche Grenzen nicht gezogen werden können, da Tiere sich nicht an Grenzen halten und den Raum mitgestalten, den sie bewohnen.

Im Einklang damit stellte ANNA KATHARINA WÖBSE (Gießen), die sich mit Ehlert den Panel „Urbanes Wildtiermanagment“ teilte, Grenzziehungen anhand der Geschichte des Naturschutzes dar. Die Umwelthistorikerin sprach in ihrem Vortrag von einem Umbruch in der Wahrnehmung von Tieren. Im 20. Jahrhundert habe sich der Naturschutz formiert und infolgedessen kleine Räume unter Schutz gestellt. Dabei wurde deutlich, dass Tiere die von Menschen gezogenen Grenzen ihres Schutzraumes nicht immer akzeptierten. Trotz Versuchen diese Schutzräume anders zu gestalten, ließ sich die vorgesehene Nutzung durch Tierspezies nicht gemäß der Planung umsetzen. Um damit umzugehen, schlägt sie vor, eine Form der Allmende zu etablieren. Abschließend stellte sie die Frage, inwiefern es möglich sei Widerstand von Tieren mit in die Planung aufzunehmen.

Mit ähnlicher Fragestellung beschäftigte sich auch THOMAS E. HAUCK (Kassel) in seinem Vortrag, in dem er das Projekt des Animal-Aided Design (kurz AAD) vorstellte.1 AAD bezeichnet eine Methode zur Planung von Tiervorkommen in urbanen Freiräumen. Als Ausgangspunkt der Planung würden tierliche Bedürfnisse stehen, um so das Vorkommen von Tieren in der Stadt zu ermöglichen. Dafür arbeite das AAD mit Artenportraits, mit deren Hilfe versucht werde, die wesentlichen Lebensfaktoren eines Tieres zu berücksichtigen. In diesem Ansatz sei das Tier somit kein Ereignis, sondern eine Inspiration zur Gestaltung von Freiräumen.

Geplant werden Tiere nicht nur in der Stadt, sondern auch in anderen Bereichen – wie im vermutlich am stärksten kontrollierten Raum der Mensch-Tier-Beziehung: dem Zoo. Als Vertreterin für diesen Bereich referierte ARIANE RÖNTZ (Kassel) im Panel „Der Zoologische Garten als »anderer Raum«“. In ihrem Vortrag, der treffenderweise auch den Titel „Tier-Mensch Begegnungen entwerfen“ trug, wurde besonders deutlich, wie der menschliche Versuch der Grenzziehung die Mensch-Tier-Beziehungen prägt und wie sich dies auf das konkrete Leben des jeweiligen tierlichen Individuums auswirkt. Die Entwicklung von Tiergehegen, wie Röntz sie einleitend darstellte, habe sich von einfachen Gitterkäfigen über Käfige mit Rückzugsmöglichkeiten hin zur Darstellung eines natürlichen Lebensraums ohne erkennbare Grenzen verändert. Heute sei es üblich, eine Erlebniswelt für den Besucher zu schaffen. Sie sieht den Nutzen von Zoos mit David Attenborough darin, dass Natur erklärt werden müsse, damit man sie schützen könne. Wie sie später in der Diskussion ausführte, könnten Filme so etwas nicht leisten, da sich nur im Zoo authentische Eindrücke herstellen ließen. Röntz machte deutlich, dass der Zoo in erster Linie für den Menschen gebaut sei und dass die für den Menschen verschleierten Grenzen für Tiere sicht- und spürbar seien. Ebenso wie zuvor das AAD stellte Röntz den Naturschutzfaktor heraus. AAD verstehe sich als Unterstützer des klassischen Naturschutzes und als ein Programm, das einen Beitrag zur Erhaltung gefährdeter Arten leisten kann.
Der Zoo stand ebenfalls im Vordergrund des gemeinsamen Vortrags von MIEKE ROSCHER und WIEBKE REINERT (beide Kassel). Sie gingen dabei auf eine von Ihnen durchgeführte Untersuchung des Hamburger Tierparks sowie des zoologischen Gartens Berlin unter Zuhilfenahme von Foucaults Heterotopie-Begriff ein. Anhand der beiden genannten Zoos zeigten sie, dass der Heterotopie-Begriff durchaus anschlussfähig bei der Untersuchung von Zoos sei. Durch die architektonische Anordnung und die Anordnung der Tiere würde eine Ordnung im Zoo inszeniert. Für den zoologischen Garten Berlins wiesen sie exemplarisch nach, dass man dort in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts von einer Verwirklichung einer völkischen Illusion sprechen könne. Zoos seien somit historisch sprechende Räume, die durch ihre geographische Zuordnung und ihre Architektur eine Geschichte erzählen würden.

Die Möglichkeit der Anwendung des Heterotopie-Begriffs auf den Zoo zeigt, inwiefern der Zoo ein Raum ist, der Wertvorstellungen einer Gesellschaft reflektiert. In diesem Sinne ist der Zoo kein Raum, dessen Bedeutung in erster Linie durch die Tiere vorgegeben ist, sondern vielmehr durch die BesucherInnen, deren Wertvorstellungen und gesellschaftliche Realität sich im Zoo wiederspiegeln. Infolgedessen wäre es spannend zu untersuchen, inwiefern der vom Zoo herausgestellte Aspekt des Natur- und Tierschutzes nur eine zeitlich bedingte Wertvorstellung der gesellschaftlichen Ordnung reflektiert und daher keine Konstante darstellt.

Einige der Beiträge legten den Schluss nahe, dass von Menschen gezogene Grenzen nicht alleine ausschlaggebend für die Gestaltung von Mensch-Tier Begegnungen sind. Wie sich zeigt, verfügen Tiere über einen Eigensinn, der sich auch im Sinne des von Mieke Roscher angeführten Schlagworts der Animal Agency interpretieren ließe. So akzeptieren sie Grenzen nicht immer, setzen sich über sie hinweg und gestalten so den menschlichen Raum mit, indem sie sich über Planungsvorhaben hinwegsetzen oder indem ihr Widerstand in die Planung einbezogen werden muss.

Die historischen Rückblicke über Tiere im urbanen Raum machten deutlich, dass Tiere – und zwar, um mit Wischermann zu sprechen, liminale Tiere – stets Teil der Stadt waren. Wie sich in der Tagung zeigte, änderte sich nicht das Vorkommen von Tieren, sondern nur dessen Wahrnehmung. Einzelne Tierspezies waren stets in der Stadt vorhanden, andere sind gekommen, wieder andere gegangen. Daraus ergibt sich die Frage, ob es von der Spezies abhängt, inwiefern Tiere als anwesend wahrgenommen werden.

Da sich herausstellte, dass es sich eher um eine Verschiebung der Wahrnehmung handelt, eignet sich der Begriff der Entgrenzung nur bedingt. Vielmehr hat die Wahrnehmung eines Tieres und dessen Einordnung als wirkmächtiger Akteur oder als planbares Objekt jeweils Auswirkungen auf den Umgang mit räumlicher Grenzziehung und somit auf Mensch-Tier-Verhältnisse und auf das Leben des jeweiligen tierlichen Individuums. In Bereichen wie der Planung von Gehegen im Zoo zeigt sich eine Entwicklung, die mit dem Stichwort der Entgrenzung beschrieben werden kann. Damit war die Tagung in diesem transdisziplinären Rahmen mit seinen unterschiedlichen Perspektiven aufschlussreich.

Konferenzübersicht:

Einführung
Stefanie Hennecke (Kassel), Mieke Roscher (Kassel)

Keynote
Clemens Wischermann (Konstanz): Liminale Leben(s)räume. Grenzverlegung zwischen urbanen menschlichen Gesellschaften und anderen Tieren im 19. & 20. Jh.

Sektion 1
(Moderation: Stefanie Hennecke)
Anna-Katharina Wöbse (Gießen) / Derk Ehlert (Berlin): Urbanes Wildtiermanagement. Möglichkeiten der Konfliktlösung und Gestaltung von Tier-Mensch-Verhältnissen in Großstädten.

Sektion 2
(Moderation: André Krebber)
Wiebke Reinert (Kassel) / Mieke Roscher (Kassel) / Ariane Röntz (Kassel): Der Zoologische Garten als „anderer Raum.“ Ideen und Konzepte von Inklusion, Exklusion und Grenzsicherung zwischen Tier und Mensch in zoologischen Gärten.

Sektion 3
(Moderation Wiebke Reinert)
Siegfried Becker (Marburg) / Thomas E. Hauck (Kassel): Habitat Großstadt. Ideen, Planungsmethoden und Gestaltungsansätze für von Tieren und Menschen gemeinsam bewohnte urbane Räume.

Anmerkung:
1 Vgl. Thomas E. Hauck / Wolfgang W. Weisser: Animal-Aided Design, Freising 2015.


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