Russlanddeutsche in einem vergleichenden Kontext. Neue Perspektiven der Forschung

Russlanddeutsche in einem vergleichenden Kontext. Neue Perspektiven der Forschung

Organisatoren
Bundesinstitut für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa (Oldenburg); Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS) der Universität Osnabrück; Nordost-Institut – Institut für Kultur und Geschichte der Deutschen in Nordosteuropa (IKGN) e.V., Lüneburg
Ort
Berlin
Land
Deutschland
Vom - Bis
18.11.2015 - 19.11.2015
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Von
Anna Flack, Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS), Universität Osnabrück

Die Erforschung der Kultur und Geschichte der Russlanddeutschen besitzt sowohl in historischer Perspektive als auch gegenwärtig eine hohe Relevanz. Über Jahrhunderte haben Deutsche die Geschichte des Russländischen Reichs, der Sowjetunion sowie ihrer Nachfolgestaaten mitgeprägt. Bis heute sind von dort rund 2,4 Millionen Menschen als (Spät-)AussiedlerInnen nach Deutschland eingewandert. Russlanddeutsche sind somit integraler Bestandteil deutscher und (post-)sowjetischer Geschichte und Gegenwart. Darüber hinaus prägen die nach dem Ersten und Zweiten Weltkrieg nach Übersee ausgewanderten Russlanddeutschen bzw. ihre Nachfahren nord- und südamerikanische Gesellschaften. Von dieser alles andere als homogenen Gruppe, die weitgehend aus dem bundesdeutschen Migrationsdiskurs verschwunden zu sein scheint, handelten die Beiträge zu dieser internationalen und interdisziplinären Tagung, die in den Räumen der Niedersächsischen Landesvertretung beim Bund in Berlin stattfand und von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien (BKM) gefördert wurde.

Wie nehmen Russlanddeutsche sich selbst wahr, wie werden sie von anderen wahrgenommen und wie möchten sie wahrgenommen werden? Welche Narrative spielen bei der Identitätskonstruktion eine Rolle? Ist die Rede von „den“ Russlanddeutschen überhaupt noch haltbar? Welche Erinnerungen und Erfahrungen teilen Russlanddeutsche mit anderen Migrantengruppen? Können und dürfen Russlanddeutsche mit anderen Migrantengruppen verglichen werden? In welchem Ausmaß waren Ukrainedeutsche an der deutschen Besatzungs- und Vernichtungspolitik während des Zweiten Weltkriegs beteiligt? Unter anderem mit diesen Fragen setzten sich die Vortragenden, Kommentierenden und Diskutierenden auseinander.

Die Tagung brachte ForscherInnen aus Deutschland, Russland und Nordamerika zusammen. Wie JANNIS PANAGIOTIDIS (Osnabrück) und HANS-CHRISTIAN PETERSEN (Oldenburg) in ihren einleitenden Überlegungen darlegten, bestand ein zentrales Anliegen darin, gängige Narrative der Russlanddeutschen als „Volk auf dem Weg“, als Opferkollektiv und als historische „Heimkehrer“ aus unterschiedlichen Perspektiven zu beleuchten und bisher primär national funktionierende Forschungslandschaften miteinander in Dialog zu bringen.

Die bei der Identitätsbildung relevanten Deutungsmuster der Russlanddeutschen standen im Fokus der ersten Sektion. ERIC J. SCHMALTZ (Alva) zeichnete anhand von Organisationsbildungen der erfolgreichen, gut integrierten zweiten und dritten Generation der Russlanddeutschen im Amerika der 1960er-Jahre ein „ethnic heritage revival“ nach, welches er im Kontext von 1968, dem Prager Frühling sowie den Bürgerrechtsbewegungen in den USA und Kanada verortete. Ziel der bis heute existierenden russlanddeutschen Organisationen sei es, die ethnisch-deutsche Herkunft zu bewahren, wobei man sich über die russländische Herkunft als „Germans from Russia“ von anderen „German Americans“ unterscheide. Wie lange dieses Revival andauern und ob es in einen breiteren Multikulturalismus münden werde, bleibe fraglich.

Auch der in der heutigen Ukraine gebürtige Gottlieb Leibbrandt, dessen Biographie MARTIN MUNKE (Chemnitz) in einer parallelen Betrachtung mit der Biographie seines Bruders Georg Leibbrandt präsentierte, ist in den 1950ern nach Kanada ausgewandert. Als Akademiker und NSDAP-Mitglieder erforschten beide die „Volksgruppe“ der Russlanddeutschen, wobei sie stets deren „Deutschtum“ betonten und sie daher als „wertvolles kolonisatorisches Element“ erachteten. Der Topos des „Unterwegsseins“ als zentrales Merkmal der Russlanddeutschen schlug sich darin nieder, dass Gottlieb Leibbrandt nach 1945 Mitbegründer der von der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland herausgegebenen Zeitschrift „Volk auf dem Weg“ war.

Der gegenwartsbezogene Beitrag von GESINE WALLEM (Berlin) thematisierte die Frage, inwiefern sich Russlanddeutsche rechtliche Regelungen des Aufnahmeverfahrens für SpätaussiedlerInnen im Lager Friedland für ihre Identifikation zu eigen machen. Wallem konzentrierte sich auf die Interaktionen von staatlichen und migrantischen AkteurInnen, wodurch zum einen deutlich wurde, wie deutsche Ethnizität materialisiert wird, wenn sie anhand von Dokumenten überprüft wird. Zum anderen hälfen nicht-staatliche AkteurInnen Russlanddeutschen bei der Aneignung und strategischen Nutzung bestimmter Narrative, die als Indiz für deutsche Identität anerkannt sind.

Russlanddeutsche Migrationen in ostdeutsche Kleinstädte, nach Südamerika sowie von der Bundesrepublik Deutschland wieder zurück nach Russland bzw. in die GUS waren Gegenstand des zweiten Panels. Die unterschiedlichen Selbst-Konstruktionen zweier nach dem Ersten Weltkrieg nach Paraguay ausgewanderter Mennonitengruppen waren Thema des Beitrags von JOHN EICHER (Iowa City). Während die „Menno-Kolonie“ Russland freiwillig verlassen und Paraguay nur als eine Station auf dem Weg zu Gott angesehen habe, seien die BewohnerInnen der „Fernheim-Kolonie“ vor der Entkulakisierung geflohen und hofften, nach Russland zurückkehren zu können. Die daraus resultierenden unterschiedlichen Narrative und Positionierungen gegenüber dem nationalsozialistischen Deutschland seien trotz der gemeinsamen russländischen Herkunft zunächst nicht kompatibel gewesen, weswegen keinerlei Kontakte zwischen den benachbarten Kolonien bestanden hätten. Inzwischen habe sich das jedoch geändert.

Mit dem Phänomen Remigration beschäftigte sich MARKUS KAISER (Almaty). Zu unterscheiden sei zwischen endgültigen RückkehrerInnen nach Russland bzw. die GUS, die aufgrund enttäuschter Erwartungen oder aus religiösen Gründen remigrierten, und TransmigrantInnen, welche z.B. aus beruflichen Gründen pendelten. Manche Russlanddeutschen würden an bestehende Netzwerke anknüpfen und in ihre Heimatdörfer zurückkehren, andere lediglich in die kulturelle Heimat Russland. Innerhalb von drei Jahren seien 10.000 bis 12.000 Russlanddeutsche remigriert. Verlässliche Zahlen gebe es jedoch aufgrund von Doppelstaatsbürgern und mangelhafter statistischer Erfassung nicht.

Anhand des Fallbeispiels von Russlanddeutschen in Genthin in Sachsen-Anhalt illustrierte RENÉ KREICHAUF (Berlin) die lokale Segregation von MigrantInnen in einer Kleinstadt – ein von der meist auf Großstädte fokussierten Forschung bisher kaum beachtetes Thema. Durch die kommunale Regulierung des Siedlungsverhaltens – Russlanddeutsche wurden konzentriert in einem Stadtteil einquartiert – seien Kulturkontakte zwischen Einheimischen und Russlanddeutschen gezielt erschwert worden. Diese Tatsache sowie der schlechte Zustand der Wohnhäuser habe die Stigmatisierung der Russlanddeutschen zur Folge. Zudem schätze die Aufnahmegesellschaft die Anzahl von Zugewanderten im Stadtteil höher ein, als es der Realität entspreche.

In den Beiträgen der dritten Sektion wurden die Russlanddeutschen mit russischen Juden, Krimtataren und sogenannten polnischen Repatrianten verglichen. Laut JAMES CASTEEL (Ottawa) haben die Erinnerungen von russischen Juden/Jüdinnen und Russlanddeutschen an die Sowjetunion und an ihre Migrationserfahrungen das Potenzial, die bundesdeutsche Erinnerungskultur herauszufordern und zu verändern. Erinnerung thematisierte er dabei als einen transkulturellen Prozess zur Herausbildung von Diaspora-Identitäten. An literarischen Beispielen zeigte Casteel, dass das Opfernarrativ für russische Juden/Jüdinnen keine so große Rolle spiele wie für deutsche Juden/Jüdinnen oder – in abnehmendem Maße – für Russlanddeutsche.

Wie unterschiedlich KrimtatarInnen und Sowjetdeutsche ab den 1980er-Jahren für ihre Autonomie innerhalb der Sowjetunion kämpften, beschrieb NIKITA PIVOVAROV (Moskau). Während erstere versucht hätten, ihre Interessen gegenüber dem Zentralkomitee der Kommunistischen Partei radikal durchzusetzen, hätten letztere eher auf bürokratischem Wege agiert. Mehrfach habe die Regierung die Wiederherstellung der jeweiligen Autonomie in Aussicht gestellt. Die Versprechungen wurden letztlich jedoch nicht realisiert, weswegen die KrimtatarInnen auf die Krim binnen- und die Sowjetdeutschen in die Bundesrepublik Deutschland emigrierten.

ANNA SOSNA-SCHUBERT (Osnabrück) präsentierte die 100-jährige gemeinsame Geschichte von Deutschen und PolInnen in Ostwolhynien. In den 1930/40er-Jahren wurden sie aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit nach Kasachstan deportiert, wo sie in einer Schicksalsgemeinschaft solidarisch zusammengelebt hätten, bis die Russlanddeutschen zum Feind der Sowjetunion erklärt wurden und sich die Polnischstämmigen distanzierten. Im Alltagsleben habe die Ethnizität nach dem Krieg und bis in die 1990er-Jahre keine Rolle gespielt; für die Aussiedlung nach Deutschland bzw. Repatriierung nach Polen habe sie hingegen die Basis gebildet.

In den an die Panels anschließenden Kommentaren von DITTMAR DAHLMANN (Bonn), LEO LUCASSEN (Amsterdam/Leiden) und DIETMAR NEUTATZ (Freiburg) sowie den Konferenzbeobachtungen von KATRIN BOECKH (Regensburg), ANKE HILBRENNER (Bonn) und DMYTRO MYESHKOV (Freiburg) wurde kritisch hinterfragt, mit welchem Identitätsbegriff die jeweiligen ReferentInnen operierten. Generell seien Termini wie Diaspora oder Transnationalismus problematisch, zumal sie Vorstellungen von Kulturen als Containern implizierten. Vielmehr wurde der prozessuale, flexible und hybride Charakter von Identitäten akzentuiert und Alternativbegriffe (Zugehörigkeit, imagined community) vorgeschlagen. Nichtsdestotrotz ernteten die Forschungen auf Mikroebene Lob, weil durch die qualitative Betrachtung einzelner Fallbeispiele Identifikationsressourcen und Integrationshemmnisse nachvollziehbar geworden seien.

In den anschließenden Diskussionen wurde wiederholt in Zweifel gezogen, ob Russlanddeutsche mit anderen MigrantInnen verglichen werden dürften, schließlich seien sie deutsche „Heimkehrer“. Entgegengehalten wurde dem, dass Vergleiche auf zusätzlichen Erkenntnisgewinn abzielten und Besonderheiten einer Gruppe so erst herausgearbeitet werden könnten. Gerade die Behauptung, Russlanddeutsche würden sich leichter integrieren, erfordere einen Vergleich mit anderen MigrantInnen. Zudem wurde angeregt, Deutsche aus und in anderen osteuropäischen Ländern in die Betrachtungen einzubeziehen. Die russlanddeutsche Geschichte habe großes Potenzial, sich in die nationale bundesdeutsche Geschichte einzuschreiben – wenn nicht ausschließlich Leid und Opfertum im Vordergrund stünden, sondern auch positive Elemente ins Zentrum gerückt würden. Dazu gehöre, vor dem Hintergrund geringer Osteuropakompetenz auf Seiten einheimischer Deutscher, Russlanddeutsche als „Vermittler der Geschichten“ anzusehen. Ferner könnten Russlanddeutsche aufgrund ihrer Sozialismuserfahrungen einheimischen Deutschen den Wert von Errungenschaften wie Rechtsstaatlichkeit und Konsumvielfalt bewusstmachen, welche heutzutage so selbstverständlich seien, dass sie für Bundesdeutsche nicht als identitätsstiftende Narrative gelten. Dass im Rahmen dieser Tagung Russlanddeutsche in neue, interdisziplinäre Zusammenhänge und größere historische und soziale Kontexte eingebettet wurden, fand großen Zuspruch. Um die transnationalen, verflechtungs- und globalgeschichtlichen Ansätze fortzuführen, wurde angeregt, die russlanddeutsche Geschichte als Teil der Postcolonial Studies zu betrachten – ein vielversprechender Ansatz, der eine deutliche Erweiterung bisheriger Forschungsperspektiven ermöglichen könnte.

Hervorzuheben ist, dass die Vortragenden in unterschiedlichen Disziplinen, wie Soziologie, Politikwissenschaft, Kulturwissenschaft und Geschichte beheimatet sind. So wurde die Tagung durch vielfältige Forschungsperspektiven und -praktiken bereichert. Konsequent wäre es gewesen, hätte man diese Transdisziplinarität auch auf die Auswahl der KommentatorInnen und KonferenzbeobachterInnen ausgeweitet, welche allesamt HistorikerInnen waren.

Umrahmt wurde die Tagung von dem Film „Friedland“ der Regisseurin Frauke Sandig, der Flucht und Vertreibung seit dem Zweiten Weltkrieg, die Aussiedlermigration und die aktuellen Fluchtbewegungen thematisierte, und der Podiumsdiskussion „Normalfall Migration?“ Die Journalistin und Autorin ULLA LACHAUER (Stuttgart) moderierte das Gespräch zwischen dem Migrationsforscher JOCHEN OLTMER (Osnabrück), dem Historiker VIKTOR KRIEGER (Heidelberg) und der Schriftstellerin ALINA BRONSKY (Berlin).

Die Diskussion drehte sich um eigene Migrations- und Integrationserfahrungen, die Bewusstwerdung der Bundesrepublik als Einwanderungsland und die Herausforderungen der gegenwärtigen Fluchtmigration. Betont wurde, dass der Migrationsgeschichte aufgrund nach wie vor dominierender Homogenitätsvorstellungen im deutschen Schulunterricht bisher eine viel zu geringe Rolle zukomme. Unter anderem an der Museumskonzeption Friedland, welches im März 2016 seine Tore für BesucherInnen öffnet, zeige sich hingegen ein aufkeimendes Bewusstsein für russlanddeutsche Geschichte als transnationale Migrationsgeschichte.

Konferenzübersicht:

Eröffnung und Einführung durch die Veranstalter
Joachim Tauber (Lüneburg)
Jannis Panagiotidis (Osnabrück)
Hans-Christian Petersen (Oldenburg)

Sektion 1 – Identitäten

Eric J. Schmaltz (Alva): What’s in a Name? Russian Germans, German Russians, or Germans from Russia, and the Challenges of Hybrid Identities

Martin Munke (Chemnitz): Zwischen Russland, Deutschland und Amerika. Russlanddeutsche Identitätskonstruktionen im „kurzen“ 20. Jahrhundert am Beispiel von Georg und Gottlieb Leibbrandt

Gesine Wallem (Berlin): Legal Categorization and Ethnic Identification. An Ethnographic Analysis of Russian German Identity Constructions

Kommentar: Dittmar Dahlmann (Bonn)

Diskussion

Sektion 2 – Migration

John Eicher (Iowa City): Comparative Narratives: Russlanddeutsche Migration Stories

Markus Kaiser (Almaty): Einmal Deutschland und wieder zurück. Umkehrstrategien von (Spät-)Aussiedlern im Kontext sich wandelnder Migrationsregime

René Kreichauf (Berlin): Das Siedlungsverhalten von Spätaussiedler/innen in ostdeutschen Kleinstädten

Kommentar: Leo Lucassen (Amsterdam/Leiden)

Diskussion

Grußwort
Staatssekretär Michael Rüter, Bevollmächtigter des Landes Niedersachsen beim Bund

Podiumsdiskussion: Normalfall Migration?
Alina Bronsky (Berlin)
Viktor Krieger (Heidelberg)
Jochen Oltmer (Osnabrück)
Moderation: Ulla Lachauer (Stuttgart)

Sektion 3 – Vergleich

James Casteel (Ottawa): Transcultural Memories and Diasporic Identities among Russian German and Jewish Migrants from the former Soviet Union to Germany

Nikita Pivovarov (Moskau): A Lost Opportunity: The Politics of the CPSU Central Committee with regard to “Soviet Germans” and Crimean Tatars (1987–1991)

Anna Sosna-Schubert (Osnabrück): Deutsche Spätaussiedler und polnische Repatrianten – „Alte Nachbarn“ aus Kasachstan. Ein Beispiel der deutsch-polnischen Koexistenz in der Diaspora

Kommentar: Dietmar Neutatz (Freiburg)

Diskussion

Konferenzbeobachtung
Katrin Boeckh (Regensburg), Anke Hilbrenner (Bonn/Bremen), Dmytro Myeshkov (Freiburg)


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