Migration und Grenzprozesse. Politiken und Praktiken von Zugehörigkeit und Exklusion vom 19. bis ins 21. Jahrhundert

Migration und Grenzprozesse. Politiken und Praktiken von Zugehörigkeit und Exklusion vom 19. bis ins 21. Jahrhundert

Organizer(s)
Margit Fauser / Anne Friedrichs / Levke Harders, Universität Bielefeld
Location
Bielefeld
Country
Germany
From - Until
29.01.2016 -
Conf. Website
By
Christian Ulbricht, Universität Bielefeld

Wie werden Grenzen in einer territorialen und kulturellen Dimension sozial konstruiert? Mit dieser Fragestellung beschäftigte sich der interdisziplinäre Workshop „Migration und Grenzprozesse. Politiken und Praktiken von Zugehörigkeit und Exklusion vom 19. bis ins 21. Jahrhundert“ an der Universität Bielefeld am 29. Januar 2016. Die Organisatorinnen des Workshops MARGIT FAUSER (Bielefeld), ANNE FRIEDRICHS (Bielefeld) und LEVKE HARDERS (Bielefeld) verfolgten mit dem Workshop das Ziel, Prozesse der Grenzziehung und des Grenzabbaus von staatlichen und nicht-staatlichen Akteuren genauer zu bestimmen.

Aus historischer und soziologischer Perspektive wurden in drei Panels folgende Fragen aufgeworfen: Erstens, unter welchen sozialen Bedingungen kommt es zu einer Grenzverschiebung? Zweitens, wie kann die Herstellung von In- und Exklusionspraktiken im 19. Jahrhundert beschrieben werden und drittens, wie wurden und werden die grenzübergreifenden Bewegungen von Menschen im lokalen Raum kontrolliert? Die abschließende Keynote von ANDREAS FAHRMEIR thematisierte in einem Überblick die historischen Forschungen zur Migrationskontrolle vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart.

Grenzverschiebungen

LUTZ HÄFNER (Göttingen) zeigte in seinem Vortrag, dass die bäuerlichen Arbeitsmigrierenden im zaristischen Russland sehr oft temporär und zirkulär Grenzen überquerten und sich somit in europäische Trends der Migration des 19. Jahrhundert einordnen lassen. Diese Form der Migration hatte alleine durch ihr Ausmaß von ca. 8,4 Prozent der ländlichen Bevölkerung nach der Revolution von 1905 beachtliche Konsequenzen für die russische Gesellschaft. Aufgrund der Migration war die Verbreitung von Infektionskrankheiten akut, und die bedrohte „Volksgesundheit“ wurde zu einem Instrument des Migrationsmanagements. Die vornehmlich männliche Migration führte zur Verschiebung der symbolischen Grenzen der patriarchalen Strukturen einer Dorfgemeinschaft. Die Frauen übernahmen nun „männliche“ Aufgaben und erwarben damit einhergehend einen erhöhten Grad an Freiheit und Selbstständigkeit. Zudem fungierten die „Bauern-Arbeiter“ als Brückenbauer zwischen ländlicher und städtischer Kultur. Wurde in dem Vortrag von Lutz Häfner noch beschrieben, wie die „Bauern-Arbeiter“ Grenzen im zaristischen Russland unterlaufen, so griff BETTINA BRUNS (Leipzig) in ihrem Vortrag den Aspekt der Grenzverschiebung am Beispiel der EU und ihrer Migrationspolitik mit den Drittstaaten auf. Die Kooperation zwischen der EU und den Drittstaaten, die keine Beitrittsperspektiven haben, habe das Ziel, diese stärker an die EU zu binden und gleichzeitig eine verstärkte Abschottung gegenüber unerwünschten Migrierenden zu erreichen. Die EU verlagere damit das liberale Paradox, welches den fundamentalen Widerspruch zwischen den universellen Menschenrechten und den partikulären Bürgerrechten beschreibt, von ihrem Territorium auf das der Drittstaaten. In den Drittstaaten werde dann die Migrationspolitik wie z.B. in der Ukraine fast vollständig privatisiert und dadurch das liberale Paradox in der Öffentlichkeit weniger erkennbar bzw. politisierbar. Im ersten Panel erklärten die Vortragenden anschaulich, wie aus migrantischer und staatlicher Perspektive Grenzen territorial und symbolisch verschoben bzw. unterlaufen worden sind.

Herstellung von In- und Exklusion

In dem zweiten Panel zur Herstellung von In- und Exklusion thematisierten die zwei Vorträge von MICHAEL SCHUBERT (Paderborn) und LEVKE HARDERS (Bielefeld) die Frage, wie zur Mitte des 19. Jahrhundert Migrierende anhand welcher Kategorien bzw. Merkmale ein- und ausgegrenzt worden sind. Michael Schubert argumentierte, dass die Herstellung von illegaler Migration zum einen mit der inneren Sicherheit und zum anderen mit der Wohlfahrt begründet wurde. Die Verwaltung der „Legitimitätslosen Individuen“ wurde durch die staatlichen Kartellkonventionen verwirklicht, die 1851 in die Gothaer Konvention mündeten. Mit den Kartellkonventionen setzten sich die deutschen Staaten gegen die Kommunen durch, um den Aufenthalt von Migrierenden zu bestimmen. Als „Musterstaat“ kann in diesem Kontext Preußen genannt werden, der die Kommunen zwang die Einwanderung nach utilitaristischen Gesichtspunkten zu bewerten.

Auch der Beitrag von LEVKE HARDERS (Bielefeld) ging der Frage nach, inwiefern Migrationsfragen durch das Primat des Ökonomischen entschieden worden sind. Anhand des Fallbeispiels des „heimatlosen“ Franz Hubers, der sich im Herzogtum Schleswig und Holstein um die dänische Staatsbürgerschaft bewarb, zeigte Levke Harders wie Zugehörigkeiten hergestellt werden. Mit Hilfe des analytischen Rahmens der „Politics of Belonging“ von Yuval-Davis wurden die unterschiedlichen Handlungsrationalitäten der Akteure herausgearbeitet. Die staatliche Ausschlusspraxis verdeutlicht, dass Franz Huber weiterhin als ein Ausländer begriffen wird. Die Stadtgemeinde sieht hingegen Huber aufgrund seiner handwerklichen Expertise als zugehörig an. Huber selbst fühlt sich als Bürger Flensburgs. Der Fall demonstriert, dass Migrierende gleichzeitig staatlich exkludiert und im lokalen Raum inkludiert sein konnten.

Migrationskontrolle im lokalen Raum

Die bereits im zweiten Panel aufgeworfene Frage des Zusammenhangs von staatlicher und lokaler Ein- und Ausgrenzungspraktiken, wurde im letzten Panel gezielt aufgegriffen. Beide Vorträge befassten sich mit der strukturellen Divergenz von nationaler und lokaler Politik, die je nach Kontext variiert. MARGIT FAUSER (Bielefeld) interessiert die Frage, inwiefern Städte weniger das territoriale Erbe des Nationalstaats antreten, sondern sich hier vielmehr neue Konfigurationen von Grenzen zwischen Nationalstaat und urbanen Raum ergeben. Sie vertritt die These einer Reterritorialisierung der Grenzregimeforschung. Die Stadt als Grenzraum wird weder von der Grenzforschung noch von Stadtforschung thematisiert. Dabei ist die urbane Migrationskontrolle mit ihren multiplen Feldern wie beispielsweise den polizeilichen Aktivitäten, den sozialen Diensten und der Wohnungs-, Arbeits- und Familienpolitik sowie der Kontrolle von öffentlichen Räumen und der Entwicklungskooperation zwischen Städten zentral für die Herstellung von Grenzen. Die Stadt muss deswegen als Grenzraum verstanden werden.

Im Anschluss thematisierte ANNE FRIEDRICHS (Bielefeld) die Ein- und Ausgrenzungen im Ruhrgebiet zwischen 1885 und 1900 mit Schwerpunkt auf der Praxis der Ausweisung von „Ruhrpolen“ innerhalb des Bochumer Landkreises. Die Praktiken auf der lokalen Ebene offenbaren in der Zeit der Nationalstaatsbildung die Spannungen und Resistenzen der Kommunen gegenüber der preußischen Ausweisungspolitik, da diese zum Beispiel die angeordneten Abschiebungen nicht weiterverfolgten. Zugleich wurde deutlich, wie sich die Interessen des preußischen Innenministeriums mit den Anliegen mancher Kommunen verschränkten, sodass die Gründe für die Ausweisungen neben der ökonomischen Bewertung der Migrierenden zunehmend durch nationale oder religiöse Merkmale wie „Pole“ oder „Jude“ bestimmt wurden. Die Vorträge zeigten deutlich, dass sich das Nationale in der Grenzpolitik nicht automatisch in einen Top-Down Ansatz durchsetzt und stattdessen Städte und Kommunen als wichtige Akteure in der Aushandlung von Grenzen zu betrachten sind.

Der abschließende Keynote-Vortrag von ANDREAS FAHRMEIR (Frankfurt am Main) gab einen umfassenden Forschungsüberblick zur Migrationskontrolle vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Fahrmeir stellte die Entwicklung der Migrationsforschung, ihre Paradigmenwechsel, Themenschwerpunkte und Lücken vor. Seit dem 19. Jahrhundert können Narrative über eine moderne Migrationspolitik identifiziert werden, die für Europa im Kern in drei Phasen eingeteilt werden können. Im frühen 19. Jahrhundert wurde die Migration vor allem vor dem Hintergrund der Verhinderung von politischen Revolutionen gemanagt. Zudem spielten in der Selektion der erwünschten Immigranten ökonomische und religiöse Determinanten eine wichtige Rolle. Im späteren 19. Jahrhundert wurde im Zuge des „Nation-Building“ die kulturelle Homogenitätsvorstellung der Gesellschaft für die Bestimmung von erwünschten/unerwünschten Immigrierenden immer bedeutsamer. Ab den 1960er-Jahren sind die Rassendiskurse weitestgehend überwunden und Nationalstaaten entkoppeln die Selektion von Immigrierenden und potenziellen Staatsbürger/innen von askriptiven Merkmalen. In dem heutigen Grenzregime treten stärker ökonomische Faktoren in den Vordergrund, die darauf hinweisen, dass eine individualistische Selektion von Immigrierenden und potenziellen Staatsbürger/innen dominanter wird. Die Entwicklung von Techniken zur verstärkten Anwerbung von Hochqualifizierten sei hier nur als ein Beispiel genannt. Allerdings bleibt die Frage noch offen, inwiefern die Zuschreibung eines Klassenstatus wie zum Beispiel „hochqualifiziert“ im Zusammenhang mit der Kategorie Rasse steht. Mit anderen Worten: Wie ist in dem heutigen Migrationsregime von westlich-liberalen Gesellschaften das Zusammenspiel von Race und Class zu formulieren?

Konferenzübersicht:

Lutz Häfner (Göttingen): Grenzbrecher. Bäuerliche Arbeitsmigrant/innen im zaristischen Russland zwischen „Bauernbefreiung“ (1861) und Erstem Weltkrieg

Bettina Bruns, (Leipzig): Innen, außen dazwischen? Zur Auslagerung der EU-Migrationspolitik in Drittstaaten

Michael Schubert, (Paderborn): Vom Primat der ‚Bevölkerung‘ zur ‚Gothaer Konvention‘ (1851): Die Herstellung illegaler Migration im Deutschen Bund

Levke Harders (Bielefeld): Praktiken der (Nicht-)Zugehörigkeit: Westeuropäische Migrationen zur Mitte des 19. Jahrhunderts

Margit Fauser (Bielefeld): Die Stadt als Grenzraum. Zur Reskalarisierung der Einwanderungskontrolle im 21. Jahrhundert

Anne Friedrichs (Bielefeld): Zwischen nationaler Grenzziehung und lokalem Eigensinn. Ausweisungen und Einbürgerungen im Ruhrgebiet (1885-1900)

Andreas Fahrmeir (Frankfurt am Main): Migrationskontrolle vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Neue Antworten auf alten Fragen?


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