Kann es „linken“ Nationalismus geben? Eine historische Annäherung an den Zusammenhang zwischen Demokratie und Nationalismus

Kann es „linken“ Nationalismus geben? Eine historische Annäherung an den Zusammenhang zwischen Demokratie und Nationalismus

Organisatoren
Zentrum für Antisemitismusforschung, Technische Universität Berlin; Heinrich-Böll-Stiftung; Neuere Geschichte, Universität Trier
Ort
Schwerte
Land
Deutschland
Vom - Bis
02.03.2016 - 04.03.2016
Url der Konferenzwebsite
Von
Robin Simonow, Neuere Geschichte, Universität Trier; Jochen Wiesner, Institut für Deutschlandforschung, Ruhr-Universität Bochum; Philipp Frey, Tübingen

Die historische Nationalismusforschung hat bislang immer versucht das von ihr beschriebene Phänomen mit den Begriffspaaren der Inklusion und Exklusion sowie Partizipation und Aggression zu erklären. Der Entstehung von Nationalbewegungen und Nationalstaaten wurden unausweichlich exkludierende, antidemokratische, homogenisierende sowie destruktive Auswirkungen auf die Gesellschaftsordnungen zugeschrieben.1 Kann es jedoch auch einen ‚linken‘, demokratischen, nicht ausschließenden Nationalismus geben? Können ‚nationale Befreiungsbewegungen‘ emanzipatorisch sein? Kann Nationalismus im Kampf gegen ‚Fremdherrschaft‘ legitime Argumente für die Grundlegung eines demokratischen Gemeinwesens liefern? Und war der frühe, bürgerliche Nationalismus Ausdruck gesellschaftlichen ‚Fortschritts‘? Um diese Themen zu beleuchten, luden das Zentrum für Antisemitismusforschung der Technischen Universität Berlin, die Heinrich-Böll-Stiftung und der Lehrstuhl für Neuere Geschichte der Universität Trier vom 2. bis zum 4. März 2016 zu einer Tagung in die Katholische Akademie in Schwerte ein.

Statt der üblichen Reihung eines Referates an das nächste, nach dem die Vortragenden häufig wieder abreisen, setzte die Schwerter Tagung, die auch von Pina Bock (Leipzig) und Stefanie Schüler-Springorum (Berlin), die aus familiären Gründen nicht teilnehmen konnten, mit vorbereitet worden war, auf eine Serie von Workshops, in denen unter Leitung der Referentinnen und Referenten die Inhalte gemeinsam besprochen und diskursiv erarbeitet wurden. Die Ergebnisse der Workshop-Einheiten wurden dabei in regelmäßigen Plenumsdiskussionen und einer Plakatausstellung gesammelt und festgehalten. Am ersten Abend vermittelte Ken Loachs Spielfilm „Land of Freedom“ (1995) historische Anschauung zum Tagungsthema.

CHRISTIAN JANSEN (Trier) eröffnete die Tagung mit dem einzigen Plenumsvortrag. Es ging um die Definition grundlegender Begriffe zur Diskussion über Nation und Nationalismus sowie um eine erste Annäherung, was unter ‚links‘ verstanden werden kann. Jansen betonte zum einen den konstruierten Charakter der Nation, für deren Herausbildung sich die notwendigen Voraussetzungen erst im Zuge der Moderne mit ihren Möglichkeiten zur überlokalen Kommunikation durch Buchdruck, Post- und Verkehrsverbindungen entwickelten. Zum anderen wies Jansen auf die enge Verbindung von Nation und Staat hin: nur in staatlicher Form könne die Nation ihre Einheit und Selbstbestimmung bewahren. Diese enge Verbindung verwies schon zu Beginn auf das grundlegende Problem, ob Inklusions- und Exklusionsmechanismen auf die Nation oder eher auf den Staat zurückzuführen sind und wie diese Frage schließlich empirisch zu beantworten ist. Mit seiner Definition von ‚links‘ zielte Jansen auf eine politisch-gesellschaftliche Ebene ab, auf der die ‚Linke‘ grundsätzlich am Ziel der Gleichheit aller Individuen interessiert sei. In dieses Gleichheitspostulat seien immer weitere Gruppen eingeschlossen worden, sodass es seit Mitte des 20. Jahrhunderts (vermeintlich) universell gelte. Für eine erste Definition eines linken Nationalismus lehnte sich Jansen an dem subjektivistischen Nationsbegriff an, nach dem die Zugehörigkeit zu einer Nation auf einer freiwilligen Entscheidung beruht.

Die erste inhaltliche Sektion beschäftigte sich mit den historischen, politischen, ökonomischen und kulturellen Voraussetzungen für die Entstehung von Nationen und Nationalismus anhand drei ausgewählter Beispiele: Israel, den USA, und dem Baskenland. MARIANNE ZEPP (Berlin) beleuchtete dabei in ihrem Workshop zum Zionismus exemplarisch das enorm diffizile Verhältnis von einem jüdischen, zuweilen ‚ethno-religiösem‘, und demokratisch-liberalen Verständnis der israelischen Staatsbürgerschaft, welche die praktischen Grenzen zwischen den theoretischen objektivistischen und subjektivistischen Nationsbegriffen deutlich werden ließ.

Der Workshop von SEBASTIAN VOIGT (München) stellte für die USA eine voluntaristische Definition von Nation heraus, nach der universell geltende Werte und Normen die gemeinsame Grundlage der Gesellschaft bildeten und hiermit, zumindest potenziell, inkludierender seien als ein objektivistischer (ethnischer) Nationsbegriff. Als sozialer Kitt dienten keine klassischen Herkunftsmythen, sondern Symbole wie „Frontier“ oder „Life, Liberty and the pursuit of Happiness“, die sich allerdings oftmals in einer Differenz zwischen Anspruch und Wirklichkeit befänden, ohne dass sie in öffentlichen Auseinandersetzungen an Ausdrucksstärke verlieren würden.

JESUS CASQUETE (Berlin) verdeutlichte in seinem Workshop zum baskischen Nationalismus zunächst die historische Entwicklung von einem primär ethnisch grundierten zu einem kulturell verstandenen und potenziell inkludierenderen Nationsverständnis. Als Erklärung für diesen Wandel diente einerseits das repressive Vorgehen des Franco-Regimes gegenüber der baskischen Nationalbewegung, das zu einem zunehmend antifaschistischen Selbstverständnis nationalistischer Akteure und dementsprechend zur Schwächung völkischer Ideologien innerhalb ihrer Strukturen geführt habe. Andererseits erschien die Etablierung eines ethnisch homogenen Staates zunehmend unwahrscheinlich, da die starke Binnenmigration in Spanien die ethnische Konstellation im Baskenland wesentlich veränderte.

Die zweite Sektion beschäftigte sich mit nationaler Inklusion und fragte nach den Gründen, die das Konzept der Nation so attraktiv machen. Als Zugang zur Frage der Nationalen Identität dienten in dem Workshop unter Leitung von CHRISTIAN JANSEN (Trier) Quellen aus der Frühzeit des deutschen Nationalismus. Während anhand einiger Auszüge aus Johann Gottfried Herders Schriften dessen Nationsverständnis einer Sprach- und Kulturgemeinschaft betont wurde, verdeutlichte der Verfassungsentwurf für einen deutschen Nationalstaat des Burschenschafters Karl Follen (1819), dass die Schaffung eines Nationalstaats mit der Forderung nach zahlreichen Modernisierungsprogrammen, insbesondere auf den Gebieten des Gesundheits-, Wehr- und Bildungswesens, verknüpft war und hierüber den Menschen konkrete Vorteile in Aussicht stellte. Abschließend wurde anhand einer Polemik von Jakob Friedrich Fries die antijüdische Exklusion nach innen kontrastierend problematisiert, um auf die Ambivalenz bereits des frühen deutschen Nationalismus hinzuweisen.

Geschichte, Mythen und Feste standen im Workshop von HENNING BORGGRÄFE (Bad Arolsen) im Blickpunkt. Am Beispiel des Hermannsdenkmals zeigte Borggräfe auf, wie die Nationalbewegungen im 19. Jahrhundert für ihren primordialen Anstrich zwingend auf eine scheinbar ‚eigene‘ Geschichte und deren Vereinfachung in Form von nationalen Mythen angewiesen waren. Nationale Mythen hatten die Funktion, allgemeine Erinnerungen zu bewahren, um hierdurch eine historische und emotionale Verbindung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft als Schicksalsgemeinschaft herzustellen. Ihre weltliche Manifestation fänden diese Mythen in Festen und Feiern, die Geschichte ‚erlebbar‘ machten, den Anhängern der Nation eine gefühlte Teilhabe anböten sowie jenseits aller sozialen Unterschiede ein gemeinsames Gruppengefühl entstehen ließen.

Um das Tagungsthema auch in die lokale Öffentlichkeit zu tragen und eventuell zur aktuellen politischen Debatte über Nationalismus, Fremdenangst, Inklusion und Exklusion beizutragen, hatte die Katholisch Akademie für den zweiten Abend zu einer öffentlichen Podiumsdiskussion geladen, die allerdings nur auf geringe Resonanz stieß. Moderiert von Thorsten Mense (Leipzig) diskutierten Dieter Langewiesche (Tübingen) und Marianne Zepp (Berlin) das Tagungsthema.

Die letzte Sektion befasste sich mit Logiken nationaler Exklusion. Unter Leitung von HEIKO BEYER (Düsseldorf) fand eine Auseinandersetzung mit sozialwissenschaftlichen und psychologischen Erklärungen für exkludierendes Verhalten statt. Im Anschluss an Niklas Luhmann wurde danach gefragt, ob die Attraktivität nationaler Deutungen sich aus dem Zerbrechen alter Ordnungen in der Moderne erkläre und ob dem Nationalismus in einer funktional differenzierten Gesellschaft gewissermaßen die Rolle einer die einzelnen Teilsysteme integrierenden Begleitsemantik zukomme. Ausgehend vom Begriff der Semantik wurde die These entwickelt, dass die Grenze zwischen Inklusion und Exklusion größtenteils mit den Grenzen von Sprachgemeinschaften zusammenfalle. Mit dem Ansatz der psychologischen Vorurteilsforschung wurde betont, dass es eine gleichsam ‚normale‘ und ‚natürliche‘ Neigung zu verallgemeinernden Aussagen gebe, die sich allerdings im Falle irrationaler Vorurteile der rationalen Überprüfung verschließen würden.

Exklusion nach außen am Beispiel von Krieg stand im Mittelpunkt des Workshops unter der Leitung von DIETER LANGEWIESCHE (Tübingen), der am Beispiel zweier Texte von Ernst Moritz Arndt und Paul de Saint-Victor die Nation als Gemeinschaft definierte, die gemeinsam hasst. In diesem Blickwinkel ist die Nation eine emotionale Gemeinschaft, deren Mitglieder, wenn man dem Duktus folgen möchte, erst durch den (ewigen) Hass auf andere Nationen die Liebe zur eigenen Nation entdecken (können). Krieg und Hass würden daher zum einen als „Jungbrunnen“ der Nation angesehen und hätten zum anderen durch die Konstruktion eines äußeren Feindes disziplinierend nach innen gewirkt.

In einer Plakatausstellung wurden die Ergebnisse der Workshops und Tagung begutachtet. In der sich anschließenden Abschlussdiskussion wurden die Ergebnisse der Tagung noch einmal gebündelt. Die gelungene Symbiose von Nation und Staat vermag einerseits zum Teil den Erfolg nationalistischer Bewegungen im 19. Jahrhundert (und darüber hinaus), andererseits die Attraktivität nationaler Identifikation für die einzelnen Staatsbürger erklären. Anderen und vom Maßstab vergleichbaren kollektiven Identitäten ist es bisher nicht gelungen, emotionale, orientierende und sinnstiftende Angebote mit konkreten materiellen Anreizen zu verbinden. Problematisch blieb bis zum Ende die Debatte um den Begriff ‚links‘. Hierbei muss zwischen der in der Tagung verwendeten Definition, unter ‚links‘ sei die Beachtung demokratischer Verfahrensweisen, die Achtung der individuellen Menschenrechte sowie eine politische, nicht ethnisch exkludierende Definition der Nationszugehörigkeit zu verstehen, von dem Selbstverständnis historischer Akteure (etwa nationaler Befreiungsbewegungen, kommunistischer Parteien oder sozialistischer Staaten) als ‚links’ unterschieden werden.

Im methodischen Feedback lobten alle das ungewöhnliche didaktische Format – den Verzicht auf Frontalvorträge und die gemeinsame Erarbeitung der Themen mit Hilfe kurzer Inputs der Workshop-LeiterInnen und anhand von historischem Material.

Konferenzübersicht:

Einführung
Christian Jansen: Was ist eine Nation? Wie lässt sich Nationalismus definieren? Einführender Vortrag

Annäherungen an Nation und Nationalismus: Vorstellungen, Brainstorming, Theorien und Konzepte von Nation (zwei parallele Workshops)
Hennig Borggräfe (Bad Arolsen) und Marianne Zepp (Berlin)

Podiumsdiskussion zur Präsentation und Diskussion der Ergebnisse der Workshops

Was sind „Nationen“? Historische, politische, ökonomische, kulturelle Voraussetzungen für die Entstehung von Nationen und Nationalismus (drei parallele Workshops)
Marianne Zepp (Berlin): Zionismus/Israel
Sebastian Voigt (München): USA
Jesus Casquete (Berlin): Baskenland

Podiumsdiskussion zur Präsentation und Diskussion der Ergebnisse der Workshops

Nationale Inklusion: Warum funktioniert Nation so gut? Welche Angebote macht Nation den Menschen? (zwei parallele Workshops)
Christian Jansen (Trier): Nationale/kollektive Identität
Henning Borggräfe (Bad Arolsen): Geschichte, Mythen, Feste

Öffentliche Podiumsdiskussion: Kann es linken oder guten Nationalismus geben?
mit Dieter Langewiesche (Tübingen) und Marianne Zepp (Berlin)
Moderation: Thorsten Mense (Leipzig)

Nationale Exklusion: Wie, wen und warum schließen Nation und Nationalismus aus? (zwei parallele Workshops)
Heiko Beyer (Düsseldorf): Rassismus, Chauvinismus, Antiamerikanismus
Dieter Langewiesche (Tübingen): Krieg

Rundgang durch die Ausstellung mit Diskussion der Ergebnis-Plakate

Abschlussdiskussion

Anmerkung:
1 Vgl. stellvertretend Dieter Langewiesche, Nation, Nationalismus, Nationalstaat. Forschungsstand und Forschungsperspektiven, in: Neue Politische Literatur 40 (1995), S. 190–236.


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