Börsenkrisen und Spekulationsblasen existieren seit dem Ende des 17. Jahrhunderts. Gerade für die frühe Neuzeit und das 19. Jahrhundert ist jedoch nur selten der Blick darauf gerichtet worden, wie die Teilnehmer am Aktienhandel solche bedrohlichen und auch heute noch schwer fassbaren Situationen erlebten und welche Erklärungsversuche sich ausbildeten. Genau diese Perspektive einzunehmen, war Ausgangsidee des von Renate Dürr, Daniel Menning, Marlene Keßler und Rafael Streib organisierten Workshops „Nach dem Crash. Akteure und ihr Umgang mit Börsenkrisen (17.–19. Jahrhundert)“, der vom 07. bis 08. April 2016 im Rahmen des Tübinger Sonderforschungsbereiches 923 „Bedrohte Ordnungen“ stattfand. Ausgehend von der Beobachtung, dass der Handel mit Aktien auf geographisch stark konzentriertem Raum stattfand und sich an ihm nur wenige, sozial eng vernetzte Akteure beteiligten, stand die Frage nach dem lokalen Umgang mit Börsenkrisen im Zentrum. Gefahndet wurde dabei nach den Deutungs-, Erklärungs- und Bewältigungsmustern der Auswirkungen von Kurseinbrüchen sowie den Perspektiven und Handlungsräumen der betroffenen Akteure.
Mit kritischem Bezug auf die Spekulationsphasentypologie von John Kenneth Galbraith1 wies DANIEL MENNING (Tübingen) in seinem Eröffnungsvortrag darauf hin, dass der Versuch, das gemeinsame Wesen von Börsenkrisen aufzuzeigen, nicht mit Wertungen der historischen Ereignisse aus dem Nachhinein einhergehen dürfe. Typologien wie die Galbraiths liefen Gefahr, mit ihrer Konzentration auf wiederkehrende, zentral-institutionelle Strukturen singuläre Veränderungen, Entwicklungsmomente oder Lerneffekte zu verdecken. Statt von der Warte des späteren Betrachters ‚sinnvolle‘ und ‚fixe‘ Ideen der Spekulanten voneinander zu trennen, könne man jene Ideen als Ankerpunkt nutzen, um von ihnen aus die Gesellschaften, in denen sie entstehen, möglicherweise besser zu beschreiben. Dies gelte gerade für eine Zeit wie das 18. Jahrhundert, in der Menschen die Logik von Finanzprodukten erst langsam zu verstehen begannen. Die Frage, wie Spekulationssysteme Vertrauen bei den Menschen erzeugten und wie der konkrete Umgang mit Crashs aussah, verspreche insofern neue historische Erkenntnis. 1720, so zeigte Menning anhand einer Hamburger Gedenkmünze auf, stand die menschliche Gier im Zentrum der Kritik, und nicht etwa die finanziellen Institutionen. Damit aber sei Galbraiths Konzeption der Folgen von Spekulation zu eng gedacht. Statt also nach dem gemeinsamen Wesen der Krisen zu fragen, müsse zunächst der historische Entwicklungscharakter der Zeit nach Börsencrashs herausgearbeitet werde.
Im Anschluss daran stellte MARLENE KESSLER (Tübingen) ihre Überlegungen dar, wie die Börsenspekulanten der so genannten Mississippi-Blase in Paris 1720 wahrgenommen wurden und welchen Handlungsspielraum diese Akteure nach dem Crash hatten. Bereits in der Euphorie 1719 habe man von den „mississippiens“ mit einer Mischung aus Faszination und Skepsis gesprochen, wobei die Kritik oftmals auch religiös motiviert gewesen sei, da man den Aktienhandel mit Wucher, Sklavenhandel und Gier in Verbindung brachte. Nach dem Einbruch des Aktienkurses sei die Kritik an den Aktionären schärfer geworden. Diesen wurde nun auch zur Last gelegt, dass die gesamte Pariser Stadtgesellschaft an den Folgen des Aktienhandels leiden musste, da mit der gescheiterten Papiergeldeinführung Geld- und Nahrungsmittelknappheit sowie Teuerung einhergingen. Angesichts einiger weniger großer ‚Gewinnler‘, auf die sich die Wahrnehmung hauptsächlich richtete, hätten auch die vielen kleinen Aktionäre, die massive Verluste einstreichen mussten, kein Mitleid mehr erwarten können. Damit begründete Keßler die These, es sei kein Diskurs entstanden, der für die verschuldeten Aktionäre die Selbstdarstellung als Opfer oder die offensive Einforderung von Hilfeleistungen möglich gemacht hätte. Die Regierung selbst habe sich diese Entwicklung der öffentlichen Meinung zunutze gemacht und die Aktionäre unter den Generalverdacht der Spekulation gestellt, welche ex post kriminalisiert wurde.
Im Jahr 1720–21 verortete sich auch der Vortrag RAFAEL STREIBs (Tübingen), der die Räume der South Sea Bubble in London ins Visier nahm. Er stellte die Frage, wie sich Orte finanziellen Wirkens mit der Krise veränderten. Durch den raumgeschichtlichen Fokus, so Streibs These, sei es möglich, die Makro- und Mikrostrukturen der (Stadt-)Gesellschaften Londons während und nach der Bubble von 1720 sichtbar zu machen. Auf diese Weise könne deutlicher werden, wer mit wem handelte (und wer explizit nicht), welches Selbstbild die Akteure besaßen und wie sie sich von anderen Gruppen abgrenzten. Beispielhaft führte Streib dies anhand der Untersuchung von Räumen wie der Royal Exchange, Kaffeehäusern oder dem Viertel The Mint vor. Streib wies auch auf die spezifischen Veränderungen nach dem Crash hin, der eine Neuaushandlung der Funktionen von Räumen bewirkt habe. So habe das Mint, eine Zufluchtsstätte bankrotter Aktionäre, nach der Krise Mietpreissteigerungen erfahren und sei nach 1723 aufgelöst worden – dies könne vermutlich mit dem massiven Zustrom infolge der Bubble erklärt werden.
Den letzten Vortrag des ersten Tages hielt EVE ROSENHAFT (Liverpool), die zwei Projekte für „bubble companies“ in Braunschweig untersuchte. Obwohl beide Vorhaben von Londoner Finanzleuten angestoßen worden seien, hätte sich ihre konkrete Ausgestaltung deutlich unterschieden: während bei dem einen Projekt ernsthafte Geschäftsabsichten im Vordergrund gestanden hätten, sei das andere wohl von vornherein nur auf kurzfristige Gewinne und das Ausnutzen der Spekulationsmanie hin angelegt gewesen. Rosenhaft konnte zudem zeigen, wie unterschiedlich die Erfahrungen und Wahrnehmungen deutscher und britischer Unternehmer mit den ‚modernen‘ Praktiken des Aktienhandels waren und was geschah, wenn zwei unterschiedliche Finanzkulturen aufeinandertrafen. Die Korrespondenz über beide Projekte sei im Verlauf der Verhandlungen auf deutscher Seite durcheinandergeraten und habe für immer neue Missverständnisse und Verständigungsschwierigkeiten gesorgt. Rosenhaft zeichnete nach, wie der auf beiden Seiten vorhandene, anfängliche Enthusiasmus schließlich in Enttäuschung gegenüber dem jeweiligen Verhandlungspartner umschlug: Die Deutschen hätten sich schließlich als eine weitere, von den Briten ausgenutzte South-Sea-Kolonie beschrieben, während die Briten den Deutschen mangelndes Verständnis mit Finanzierungsanlagen dieser Art attestierten. Nach dem Scheitern beider Projekte 1722 veränderten diese Erfahrungen den Diskurs in Deutschland zum Negativen – Braunschweig als Investitionsplatz erschien nun abwegig und die Existenz der Bubble-Spekulationen als grundlegend verderblich und schädlich.
Am zweiten Tag sprach zuerst PHILIP HOFFMANN-REHNITZ (Münster) über Entscheidungsvorgänge moderner Gesellschaften während Krisen und darüber, welche Rolle dem Faktor Zeit dabei zukomme. Für krisenhafte Situationen sei die Wahrnehmung typisch, dass nicht genügend Zeit vorhanden sei, um ‚richtig‘ entscheiden zu können – gleichzeitig erfordere aber gerade Krisenbewältigung gedanklich ausgereiftes Handeln. Dieses Paradox führe zu einer ‚diabolischen‘ Situation: Wichtige Entscheidungen würden unter Zeitdruck getroffen, obwohl die betreffenden Akteure wüssten, dass man Ursache der Krise und Folgen des Handelns nicht ausreichend verstehe. Diese Zusammenhänge beschrieb der Referent anhand verschiedener Finanzkrisen des 18. Jahrhunderts. Er konnte zeigen, dass Akteure in Hamburg oder Schottland, die von ausgebauten Informationsnetzen abhängig waren, sich gezwungen sahen, schnell – und damit ungenügend reflektiert – zu reagieren, während ein solchen Netzwerkzwängen enthobener Akteur wie die Bank of England in London genug Zeit hatte, um rationale Entscheidungen zu treffen.
Der Vortrag von JASPER KUNSTREICH (Oxford / Frankfurt am Main) läutete sodann den Wechsel ins 19. Jahrhundert ein. Der Referent vertrat die These, dass die Wirtschaftskrise von 1857 im Gegensatz zur vorherrschenden Forschungsmeinung nicht eine der ‚ersten‘ Weltwirtschaftskrisen, sondern vielmehr die ‚letzte lokale‘ Krise gewesen sei. Am Beispiel von Akteuren in Hamburg und weiteren Hansestädten zeigte Kunstreich einerseits auf, wie diese im Angesicht einer Liquiditätskrise reagierten – indem sie das Konkursrecht veränderten und so der Krise entgegenwirkten – und wie sie andererseits durch diese Veränderung die Grenzen traditioneller Bewältigungsstrategien überwanden. Dies spiegele, so das Resümee, die Transformation der auf Grundbesitz gebetteten Ständegesellschaft in die ‚moderne‘, kapitalistisch orientierte und organisierte Gesellschaft ab 1857 wider.
Mit der Gründerkrise 1873 hatte auch der Vortrag von GEORG SIMMERL (Berlin) einen deutschen Bezugsrahmen. Simmerl stellte das von Hans Rosenbergs Werk2 geprägte Narrativ infrage, dass die Krise den Niedergang des Liberalismus mit sich gebracht habe. Stattdessen betrachte der Liberalismus, fasse man ihn als Regierungsrationalität im Foucault’schen Sinne, Wirtschaftskrisen als eine normale Situation, gegenüber der man die Forderungen des Marktes antizipieren müsste, um Stabilität wiederherzustellen. Bei aller Liberalismuskritik, die die Basis des Narrativs bildete, sei die deutsche Politik dann auch liberalen Dogmen verhaftet geblieben. Letzteres machte der Referent an den Reichstagsreden Heinrich von Delbrücks 1875 und Karl von Hofmanns 1876 deutlich.
CATHERINE DAVIES (Hagen) sprach ebenfalls über den Gründerkrach von 1873. Sie konzentrierte sich auf die Rationalisierung von Verlusten durch die Aktionäre. Diese seien, so ihre These, unterschiedlich ausgefallen, je nachdem, welcher sozialen Schicht die Geschädigten angehörten. Für ihre Untersuchung wählte Davies auf der einen Seite zwei Betrugsprozesse in München und Wien, in denen die Beschuldigten mit Schneeballsystemen ihre klein- und unterbürgerlichen Anleger um ihr Erspartes gebracht hatten. In beiden Fällen habe das Gericht den wenig begüterten Klägern Gewinnsucht vorgeworfen und deren Handeln damit als irrational gebrandmarkt. Dem stellte Davies auf der anderen Seite eine Untersuchung der Gründerkrachprozesse 1874/75 entgegen, in denen die Kläger der Mittel- und Oberschicht angehörten. Hier hätten die Richter, unter der Annahme, dass die Kläger grundsätzlich wussten, was sie taten, deren Handeln als rationale Verhaltensweise angesehen. Damit erschienen die Finanzskandale um 1870 als Zeitpunkt, wo vormoderne und moderne Finanzverständnisse aufeinanderträfen.
Mit einem Spottlied gegen Staat und Kirche führte JÜRGEN FINGER (Paris) in den ‚krach‘ der Union Générale im Jahr 1882 ein. Mit riskanten Transaktionen und unredlichen Mitteln habe diese katholische Bank ihren Börsenwert vervielfacht und nach dem Platzen der Spekulationsblase jüdischen Bankiers die Schuld zugeschoben. Finger richtete den Blick dabei auf die katholischen Akteure in und im Umfeld der Bank selbst. Diese hätten sich zusammen mit dem Leiter der Union Générale, Paul Eugène Bontoux, mit ausländerfeindlichen und antisemitischen Parolen als Verschwörungsopfer darstellen können und die Verantwortung für den ‚krach‘ darüber hinaus der jungen Republik zuschreiben können. Damit hätten sie ihr eigenes Fehlverhalten zu überspielen gesucht. Insgesamt habe die Erschütterung von 1882 zwar zu riesigen Verlusten geführt, gleichzeitig aber eine liberalisierende Modernisierung der veralteten Finanzgesetzgebung in Gang gesetzt.
Als Kommentatorin führte JOYCE GOGGIN (Amsterdam) zum Ende der Tagung hin einige Beobachtungen aus. Das Finanzielle besitze eine tiefe kulturelle Verankerung in den menschlichen Gesellschaften, was sich am transnational übergreifenden Diskurskonstrukt zeige – Blasen gehörten als „epidemic contagion“ zum Verhältnis von menschlichem Handeln und finanzieller Logik dazu. Zudem sei der Markt, wie Philip Hoffmann-Rehnitz angesprochen hatte, „the great Unknown“, das nicht verstanden werde. Eine Möglichkeit des Menschen, darauf zu reagieren, sei, das Marktgeschehen popkulturell zu verarbeiten und greifbar zu machen. So hätten die Menschen auf Krisen im 17./18. Jahrhundert etwa mit Spottliedern reagiert, während heute Ähnliches in Kinofilmen nachzuvollziehen sei.
Die Abschlussdiskussion leitete RENATE DÜRR (Tübingen) mit verschiedenen Beobachtungen ein. Es lasse sich konstatieren, dass viele Wahrnehmungs- und Handlungsmuster aus dem Ende des 19. Jahrhunderts sich auch schon im frühen 18. Jahrhundert wiederfinden ließen und umgekehrt. Die Epochengrenzen zwischen Vormoderne und Moderne verschwämmen damit auf mehreren Ebenen von sozialer Schichtung über politische Reaktionen bis hin zu religiösen Diskursen. Je genauer man die Details betrachte und vergleiche, desto deutlicher werde der Konstruktionscharakter in der Gegenüberstellung der Epochen. Jenseits dieser Epochengrenzen würden überzeitliche Muster aufscheinen. Dies gelte sowohl für bestehende Diskurse, in die Akteure ihr Handeln einbetteten, als auch für weitere (theologische, medizinische etc.) Diskurse selbst, die wiederum das Setting beeinflussten. Gebündelt werden könnten alle diese Wandlungen und Erfahrungen in dem Faktor der Emotion, wie etwa Wut, Gier und Enttäuschung. Dieser lasse sich quer über alle Akteure, ihre Diskurse und Agencies hinweg überzeitlich beobachten und biete somit ein wirkungsvolles Interpretament für die Wechselwirkungen zwischen finanziellen Krisen und menschlichen Gesellschaften.
In der Abschlussrunde wurden verschiedene Fragen und Ergebnisse diskutiert. ‚Der Markt‘ könne nicht als geschlossene, einheitliche Struktur gefasst werden – vielmehr vereinige er verschiedene Segmente und Ziele, Logiken, Erfahrungen und Akteure in sich, die miteinander in Wechselbeziehungen stünden. Kommunikation spiele eine große Rolle für das Funktionieren oder Scheitern dieser Prozesse; die Frage danach, wie Probleme weitergegeben werden, berge großes Potenzial, um sowohl die Unterschiede des Reagierens als auch die Ähnlichkeiten herauszuarbeiten. Eine wichtige Rolle scheine auch der Faktor Informalität zu spielen, denn deutlich werde, dass immer wieder offizielle und inoffizielle Finanzwelten auseinanderträten – welche Bedingungen und welche Folgen dies habe, müsse erst noch verstanden werden. Beschäftige man sich mit dem Finanziellen und seiner Wahrnehmung, so ein weiterer Punkt, befasse man sich eigentlich mit den menschlichen Emotionen, die mit Finanzfragen in Verbindung stünden. Daraus leite sich die Frage ab, wie menschliche Gesellschaften überhaupt Märkte und Finanzlogiken imaginierten und was Markt und Geld am Ende für den Menschen überhaupt (gewesen) seien.
Konferenzübersicht:
Daniel Menning (Tübingen): Eröffnungsvortrag
Marlene Keßler (Tübingen): “Celui qui se hâte de s’enrichir, ne sera pas innocent“ – Die Wahrnehmung der Börsenspekulanten in Paris 1720
Rafael Streib (Tübingen): Räume der South Sea Bubble (1720)
Eve Rosenhaft (Liverpool): Colonising Braunschweig: Germans and the Bubbles of 1720
Philip Hoffmann-Rehnitz (Münster): Diabolische Zeiten. Probleme und Paradoxien des Entscheidens in Finanzkrisen des 18. Jahrhunderts
Jasper Kunstreich (Oxford / Frankfurt am Main): Alles schon dagewesen? Die Krise von 1857 und das Krisenmanagement in Hamburg, Lübeck und Bremen
Georg Simmerl (Berlin): Die Gründerkrise in der deutschen Öffentlichkeit: Niedergang des Liberalismus?
Catherine Davies (Hagen): Die Rationalisierung von Verlusten nach dem Gründerkrach 1873
Jürgen Finger (Paris): Katholische Spekulanten oder: wie man eigenes Fehlverhalten zum Verschwinden bringt. Der „krach“ der Union Générale 1882
Joyce Goggin (Amsterdam) / Renate Dürr (Tübingen): Abschlusskommentare
Anmerkungen:
1 John Kenneth Galbraith, Eine kurze Geschichte der Spekulation, Frankfurt am Main 2010.
2 Hans Rosenberg, Große Depression und Bismarckzeit. Wirtschaftsablauf, Gesellschaft und Politik in Mitteleuropa, Berlin 1967.