Die internationale Solidarität, die in der Debatte um die Flüchtlinge derzeit oft eingefordert wird, hat ältere Wurzeln. Sie verweist auf christliche und sozialistische Traditionen, aber auch auf die Neuen Sozialen Bewegungen, die seit den Protesten gegen den Vietnamkrieg in den 1960er-Jahren verstärkt aufkamen. Letztere setzten sich für politisch oder rassisch Verfolgte in Lateinamerika, Asien und Afrika ein oder für den Aufbau neuer Staaten mit sozialistischer Ausrichtung. Neben bestehenden Organisationen wie Gewerkschaften, Stiftungen, Medien oder den Kirchen sammelten in der Bundesrepublik auch zivilgesellschaftliche Gruppen Spenden, bauten Organisationsbüros auf, unterstützten politische Flüchtlinge, organisierten öffentliche Kampagnen oder halfen selbst vor Ort. In der DDR erreichte nicht nur die parteioffizielle internationale Solidarität eine massenhafte Unterstützung, etwa für den Kampf des ANC in Südafrika, für die Befreiungsbewegungen in Angola, die Sandinistas in Nicaragua oder für Angela Davis in den USA, sondern auch hier formierten sich einzelne unabhängige Zusammenschlüsse, die unter größeren Schwierigkeiten Spenden sammelten und verschifften – oft unter dem Dach der Kirche.
Eine internationale Tagung am Zentrum für Zeithistorische Forschung (ZZF) in Potsdam untersuchte die Wahrnehmungen und Praktiken dieser grenzübergreifenden Solidarität. Wie die Veranstalter in ihrer Einführung unterstrichen, ging die Konferenz damit einem normativ aufgeladenen, mobilisierenden Begriff nach, der auf eine weltanschaulich-ethische Verbundenheit und freiwilliges Engagement verweist. In Ost und West bedeutete Solidarität unterschiedliches; in welcher Beziehung die damit verbundenen Praktiken standen, war eine der Leitfragen.
In einem Impulsvortrag analysierte FRANK BÖSCH (Potsdam) die Solidarität mit den sogenannten Boat People aus Indochina in den 1970/80er-Jahren, um daraus grundsätzliche Fragen abzuleiten. Das Fallbeispiel deutete er als einen Übergang von einer weltanschaulichen Solidarität hin zu einem humanitären Engagement, das sich als eher unpolitisch verstand. Neue und alte Opfernarrative, wie die Vertreibung der Deutschen, der Anti-Kommunismus und der Holocaust, mobilisierten dabei emotional eine breite gesellschaftliche Unterstützung für die Flüchtlinge. Das überparteiliche, zunächst stark bürgerliche Engagement für die Boat People zeige, dass Solidaritätsbewegungen nicht allein im linken Spektrum zu verorten sind. Zivilgesellschaftliche Solidarität und staatliche Bürokratie seien zudem nicht nur als Gegensätze zu fassen, sondern dynamisierten sich im Fall der Vietnamflüchtlinge trotz Reibungen vielfach gegenseitig. Zudem zeigte Bösch die zentrale Rolle der Bildmedien, die eine breite Unterstützung in der Bevölkerung förderten, aber auch die eigenständigen Aktionen von JournalistInnen, die selbst Flüchtlinge in die Bundesrepublik brachten. Die anschließende Diskussion fragte vor allem nach Analogien zur Gegenwart, dem Status des Quellenbegriffs „Solidarität“ und den Perspektiven der VietnamesInnen auf diese Praxis.
Das erste Panel widmete sich der internationalen Solidarität vor dem Hintergrund der deutsch-deutschen Systemkonkurrenz. STEFANIE SENGER (Potsdam) untersuchte deutsch-deutsche Kontakte bei der Unterstützung der sandinistischen Revolution in Nicaragua. Die Beziehungen zivilgesellschaftlicher Nicaragua-Gruppen in Ost- und Westdeutschland seien zwar durch Kommunikations- und Kontaktblockaden stark begrenzt worden. Wenn sie in Deutschland und Nicaragua dennoch zustande kamen, orientierten sie sich wenig an den strukturellen Bedingungen des Kalten Krieges, sondern folgten eigenen Logiken. So gestalteten sich die Handlungsräume aller Gruppen vor allem anhand ihrer Zugehörigkeit zum internationalen Solidaritätsnetzwerk der Sandinistas und zur blockübergreifenden Friedens- und Menschenrechtsbewegung. KONRAD SZIEDAT (München) verband für die Erforschung der westdeutschen Solidarität mit der polnischen Solidarność netzwerkanalytische mit emotionsgeschichtlichen Ansätzen. Mittels Materialien wie Ansteckern oder Langspielplatten hätten sich westdeutsche Linke so sehr mit der polnischen Gewerkschaftsbewegung identifiziert, dass auch die Veränderung hiesiger Arbeitsverhältnisse zu einer greifbaren Vision wurde. LUTZ MAEKE (Berlin) verdeutlichte, in welchem Ausmaße die Palästinensische Befreiungsorganisation (PLO) sich die Rivalität zwischen der Bundesrepublik und der DDR zunutze machte, indem die verschiedenen Gruppen in ihr von beiden Seiten Unterstützung anforderten. Aufgrund dieser Wettbewerbssituation befanden sich die beiden Staaten somit in einem Zugzwang, ihre Förderung weiter zu erhöhen. In seinem Kommentar lenkte KIM CHRISTIAENS (Leuven) die Diskussion vor allem auf Fragen der Einordnung der vorgestellten Solidaritätsbewegungen in eine breitere internationale Friedens- und Menschenrechtsbewegung.
Im zweiten Panel ging es um die Solidarität im Kampf um die Menschenrechte. CAROLINE MOINE (Versailles) analysierte den Lebensweg des bundesdeutschen evangelischen Theologen Helmut Frenz, der nach 1970 ein bekannter Menschenrechtsaktivist in Chile und ab 1975 zum Generalsekretär der bundesdeutschen Sektion von Amnesty International wurde. An diesem Beispiel zeigte sie, wie die Geschichte der transnationalen Netzwerke der Chile-Solidarität – zwischen Lateinamerika, Nordamerika, Ost- und Westeuropa – einerseits von einer Reihe individueller wie institutioneller Bedingungen charakterisiert war, andererseits wie der Menschenrechtsdiskurs von konfessionellen Kulturen und vom spezifischen Kontext der neuesten deutschen Geschichte geprägt war (unter anderem dem Bezug zur NS-Geschichte und zur RAF-Gewalt). FELIX A. JIMÉNEZ (Boston) stellte in seinem Beitrag heraus, dass das Beziehen auf den internationalen Menschenrechtsdiskurs für die politisch Verfolgten in Argentinien, die unter der autokratischen Herrschaft Peróns litten, die einzige Möglichkeit darstellte, die schwach ausgeprägte internationale Solidarität zu befördern. Die 1978 in Argentinien ausgetragene Fußball-Weltmeisterschaft verhalf dabei zum entscheidenden Durchbruch. Auch die Frage nach der Wirksamkeit der Solidaritätsmobilisierung warf er dabei auf. Anschließend stellte BENJAMIN MÖCKEL (Universität Köln) erweiterte Möglichkeiten des Menschenrechtsaktivismus dar, derer sich weite Kreise der westdeutschen Bevölkerung seit den 1970er-Jahren bedienten. Durch Warenboykotte und die Bevorzugung fair gehandelter Produkte wollten sie auf die Menschenrechtssituation in den Herkunftsländern Einfluss nehmen. Problematisierend wägte er auch die Reaktionen multinationaler Konzerne auf diese Konsumkritik ab, die der These einer Moralisierung der Märkte nicht Rechnung trügen. In der Diskussion angesprochen wurde die Bedeutung von Amnesty International und dessen nationalen Sektionen für solidaritätsgeleitete Mobilisierungen, aber auch forschungspraktische Fragen, etwa zum Zugang zu den Archiven der AI-Sektionen. Gleichfalls ging es um Kontinuitäten und Verbindungen zwischen der Chile- und Argentinien-Solidarität.
Der zweite Veranstaltungstag knüpfte mit einem sehr lebhaften Panel zu Solidaritätsbrigaden an eine Filmvorführung am Vorabend an, die den Einsatz von FDJ-Brigaden 1989 gezeigt hatte. CHRISTIAN HELM (Hannover) präsentierte seine Forschungsergebnisse über die westdeutschen Brigaden für Nicaragua. Neben den Motiven der TeilnehmerInnen fanden die Interessen der Sandinistas besondere Beachtung, die das propagandistische Potenzial der ausländischen HelferInnen im Land nutzten, um eine befürchtete Invasion der USA zu verhindern. Die Propaganda unterstützte auch die Wahrnehmung der BrigadistInnen von der US-amerikanischen Aggression und der ursprünglichen Ziele der Revolution, die viele enttäuschende Erfahrungen vor Ort auszugleichen imstande gewesen sei. Auch ERIC BURTON (Wien) hob in seinem Beitrag zu den FDJ-Brigaden der Freundschaft die Aushandlungsprozesse mit den GastgeberInnen hervor, wobei die Arbeitsregime zwischen den FDJ-BrigadistInnen und lokalen ArbeiterInnen ständig neu bestimmt wurden. Er stellte damit auch einige Thesen von Hubertus Büschel (Universität Groningen) und von Ulrich van der Heyden (Humboldt Universität zu Berlin) zur Debatte. Zudem seien Mitglieder der Freundschaftsbrigaden nicht lediglich der verlängerte Arm der DDR gewesen, sondern verbuchten eigene Interessen. Der Moderator des Panels JOHANNES SCHWARTZ (Erfurt) fragte nach den eigentlichen Motivationen der verschiedenen Akteure sowie nach der von Burton in Frage gestellten strukturellen Erklärung des Scheiterns von Brigaden. Auch wurde diskutiert, welche Rolle und welchen Platz Frauen in den Brigaden einnahmen.
Das letzte Panel drehte sich um die Solidarität in der DDR mit Antirassismus und Bürgerrechten. SOPHIE LORENZ (Heidelberg) stellte ihre Forschung zur Solidaritätskampagne der DDR für die Freilassung von Angela Davis vor. Dabei wurde deutlich, dass sie – trotz aller Propaganda – nicht allein mit den Mechanismen des Kalten Krieges beschrieben werden kann. Vielmehr basierte sie auf „rot-schwarzen Verbundenheitsvorstellungen“, die sich seit den 1920er-Jahren entwickelt hätten. Dennoch hätten sich die schwarzen BürgerrechtlerInnen in den USA längst von einer Führungsrolle der UdSSR losgesagt – was zu Spannungen zwischen der DDR und Angela Davis führte. ANJA SCHADE (Hannover) referierte über den Blick von exilierten Mitgliedern des Kampfes gegen das Apartheid-Regime in Südafrika auf ihre neue Heimat, die DDR. Wie sie mit diversen ZeitzeugInneninterviews untermauerte, erlebten sie die Solidarität der DDR-Bevölkerung als durchgehend positiv. Dennoch erfuhren sie im realsozialistischen Alltag, insbesondere aber nach 1989 Formen der rassistischen Ausgrenzung, die sich die Exilierten zumeist aus den Reisebeschränkungen erklärten, denen die DDR-Bevölkerung unterlag. Der Moderator DETLEF SIEGFRIED (Kopenhagen) fragte in diesem Kontext unter anderem nach historischen Erklärungen jenseits des Kalten Krieges. Diskutiert wurde vor allem, inwieweit die staatliche Solidarität der DDR ein ernst gemeintes Anliegen war oder lediglich propagandistischen Zwecken diente. Die Mobilität der Exilierten zwischen Afrika und Europa und ihre Wahrnehmung der politischen und sozialen Lage ihrer neuer Heimat wurden ebenfalls diskutiert.
Im Abschlussvortrag spitzte KIM CHRISTIAENS (Leuven) die These zu, dass die neue Solidarität der westdeutschen Linken ohne die staatliche Solidarität der Ostblockstaaten sich nicht hätte ausprägen können. Die Ostblockstaaten hätten somit zur Entdeckung der Dritten Welt beigetragen. Zudem förderte die Delegitimierung des Kommunismus die neue Faszination an der außereuropäischen Welt. Für die außereuropäischen Aktivisten sei dagegen Europa ein Modell gewesen, um dessen anti-faschistisches Erbe nun gegen den Kolonialismus aufzugreifen. Seine Thesen wurden lebhaft diskutiert.
Abschließend bilanzierten Caroline Moine (Versailles) und Frank Bösch (Potsdam) den Ertrag der gesamten Tagung mit Verweis auf übergreifende Befunde. Der Erfolg der Solidaritätsbewegungen war sehr unterschiedlich: In einigen Fällen konnten sie erfolgreich mobilisieren (wie zu Chile oder Südafrika), in anderen fanden sie kaum Gehör. Der jeweilige Bezug zu Deutschland, aber auch zu den USA scheint von Bedeutung gewesen zu sein, wobei besonders die Spannung zu den USA mobilisierte. Medien und die neuen globalen Medienstrukturen spielten zudem eine Schlüsselrolle. Zwischen den Motiven der Freiwilligen in Ost- und Westdeutschland gab es durchaus Ähnlichkeiten. Recht gering waren anscheinend in beiden Staaten die Kooperationen mit Gruppen aus anderen Ländern. Dennoch fiel für beide deutsche Staaten eine ausgeprägte Diversität der solidarischen Akteure auf, deren Beziehungen zueinander noch tiefer gehend untersucht werden müssen. Die einzelnen Beiträge zeigten neue Forschungsmethoden, die einerseits den Spezifika des Quellenmaterials Rechnung tragen und andererseits die Geschichtsschreibung aus den Zeitzeugen-Diskursen befreien. Viele meist private Archivbestände seien aber noch wenig erforscht worden. Auch sollten noch weitere Quellentypen in Betracht gezogen werden, etwa Fernseh- und Radiosendungen von beiden Seiten des Eisernen Vorhangs. Verstärkt sollte darüber hinaus auch der Gender-Aspekt Beachtung finden.
Die lokalen Akteure in den solidaritätsempfangenden Organisationen und Ländern wurden in vielen Beiträgen als äußerst aktiv beschrieben und nehmen eine wichtige Rolle bei dem Zustandekommen sowie in der Ausgestaltung der Solidaritätsbeziehungen ein. Sie dürfen nicht als Objekte der deutschen Solidarität dargestellt, sondern müssen ebenso dekonstruiert werden, um eine möglichst genaue Analyse der Beziehungen vorzunehmen. Biografische Zugänge scheinen dafür vielversprechend zu sein, da sie es erlauben, jenseits der institutionellen oder parteilichen Dimensionen weitere wichtige Aspekte des Themas zu erschließen. Tatsächlich sind Querschnittperspektiven, die über mehrere Solidaritätskampagnen hinausgehen, rar und bedürfen weiterer Betrachtung, um Kontinuitäten herauszuarbeiten. Angesprochen wurde damit auch die Frage der räumlichen und zeitlichen Grenzen einer Solidaritätskampagne. Der spezifische Einfluss der deutsch-deutschen Beziehungen auf internationale Solidarität in beiden Staaten muss ebenfalls noch näher erforscht werden. Als wegweisend wurde auch die Frage diskutiert, welche Qualifikationen die Akteure erlernten und inwieweit heutige Formen des Engagements (wie ein „Freiwilliges Soziales Jahr“ oder ehrenamtliche Hilfe für Flüchtlinge) mit diesen früheren Gruppen zusammenhängen.
Die Solidaritätsgeschichte, so wurde deutlich, ist kein ausgeforschtes Gebiet, sondern bietet noch weiterhin zahlreiche Desiderate. Indem sie ForscherInnen aus verschiedenen Horizonten zusammenbrachte, hat die Tagung aber einen zentralen Beitrag geleistet, diese Desiderate zu bestimmen, und damit wichtige Perspektiven für die weitere Forschung zu eröffnen.
Konferenzübersicht:
Impulsvortrag
Frank Bösch (ZZF / Universität Potsdam): Ziviles Engagement und bürokratische Hilfe: Die „Boat People“ aus Südostasien und die bundesdeutsche Solidarität mit Flüchtlingen
Panel “Deutsch-deutsche Solidarität in der Systemkonkurrenz”
Stefanie Senger (ZZF Potsdam): Reiz der Revolution. Das sandinistische Nicaragua und die deutsche Solidarität aus Ost und West
Konrad Sziedat (IfZ/LMU München): ‚Solidarität mit Solidarnosc‘ and beyond: Transnationale gefühlte Gemeinschaften und verflochtene Transformationen in Ost und West
Lutz Maeke (IfZ Berlin): Die doppelte deutsche Palästina-Solidarität
Panel “Solidarität im Kampf um Menschenrechte”
Caroline Moine (Universität Versailles): Menschenrechtsaktivismus für Chile in Ost- und Westdeutschland
Felix A. Jiménez (Boston College): West German solidarity and human rights activism for Argentina, 1975–1983
Benjamin Möckel (Universität Köln): Global Solidarity for Sale: Menschenrechtsaktivismus als Konsumpraxis in der Bundesrepublik in den 1970er und 1980er Jahren
Panel “Brigaden der Solidarität vor Ort”
Christian Helm (Universität Hannover): Reisen für die Revolution. Solidaritätsbrigaden als Praktik der bundesdeutschen Nicaragua-Solidarität
Eric Burton (Universität Wien): „Stark abhängig vom Partner“: Solidarität und ihre Grenzen bei den Brigaden der Freundschaft der FDJ
Panel “Bürgerrechte und Antirassismus”
Sophie Lorenz (Universität Heidelberg): ‚Schwarze Schwester Angela‘: ‚Rot-Schwarze‘ Verbundenheitsvorstellungen und die DDR-Solidaritätskampagne für Angela Davis
Anja Schade (Universität Hannover/FU Berlin): „Free Nelson Mandela“ Die Solidarität der DDR aus Sicht des African National Congress
Abschlussvortrag
Kim Christiaens (KU Leuven): Europe at the crossroads of three worlds: Tales of Revolution and Solidarity in postwar Europe