In der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts erfuhren alle Bereiche der deutschen Gesellschaft im Zuge der Computerisierung einen umfassenden Wandel – ob in der Industrie, den Banken, dem Handel, der Polizei, den Verwaltungen, den Medien, der Forschung oder der Freizeitgestaltung. Allzu oft wurde dieser Wandel zwar auf einer Makro-Ebene adressiert, allzu selten hingegen wurde er historisch untersucht. Wie veränderten sich Arbeitsprozesse für die Mitarbeiter in der Praxis, wie organisierten sich Institutionen neu und wie formierten sich Widerstände und Gegenbewegungen der Computerisierung? Den historischen Wechselwirkungen von Informationstechnologie und Gesellschaft widmete sich auf dem 51. Historikertag in Hamburg ein Panel unter der Leitung des Potsdamer Professors und Direktors des dortigen Zentrums für Zeithistorische Forschung, Frank Bösch.
FRANK BÖSCH (Potsdam) eröffnete dementsprechend das Panel, das trotz direkter Konkurrenz zur prominent besetzten Podiumsdiskussion über Hitler und der Praxissession zur Digital History gut besucht war. Gegenüber den Digitalen Geschichtswissenschaften grenzte Bösch das Erkenntnisinteresse des Panels als Untersuchung der historischen Bedeutung der Computerisierung im Rahmen der generellen Zeitgeschichtsforschung ab. Er machte drei Herangehensweisen bisheriger Forschung aus: Erstens eine technikhistorische, die sich tendenziell auf Erfinder, deren Firmen und Erfindungen konzentrierte. Zweitens die medienwissenschaftliche, welche stark ideen- und diskursgeschichtlich orientiert war. Und drittens die stark auf den nationalen Rahmen ausgerichteten Perspektiven in der Geschichtswissenschaft. Demgegenüber sei es entscheidend, so Bösch, die alltägliche Nutzung in den Blick zu nehmen und dabei die Transferprozesse und internationalen Wechselwirkungen bis jenseits des Eisernen Vorhangs stärker zu berücksichtigen.
Diesen Anspruch griffen die Teilnehmer in ihren Beiträgen auf. RÜDIGER BERGIEN (Potsdam), der kurzfristig für Hannes Mangold (Zürich) eingesprungen war, fragte nach dem Zusammenhang zwischen der Computerisierung und dem Organisationswandel in den Sicherheitsbehörden der Bundesrepublik und der DDR im Zeitraum von 1960 bis 1989. Er stellte in seiner Forschung fest, dass der Wandel in den Behörden wie dem BKA, den LKA oder dem Ministerium für Staatssicherheit tiefgreifend war. Allerdings konnte er keine Belege für einen aufziehenden Überwachungsstaat finden, der gespeist von einer überlegenen Informationstechnologie seine Bürger einer vollständigen Kontrolle unterzog. Sicherlich ließe sich über den Zeitraum von den späten 1960er-Jahren bis in die 1980er-Jahre, in dem die Sicherheitsbehörden in Ost und West mit dem Computereinsatz begannen und ihn intensivierten, eine Effizienzsteigerung der Praxis und eine Beschleunigung der Informationsverarbeitung feststellen. Das führte zu einer quantitativen Steigerung. Gleichzeitig folgten die einzelnen Abteilungen in den Behörden oder deren regionalen Untergliederungen aber ihren eigenen Interessen in der Computerisierung, was oftmals zu sehr disparaten Entwicklungen, Mehrfachanschaffungen und Inkompatibilitäten führte, so Bergien. Spätestens 1982 scheiterte beispielsweise die Idee eines Gesamtsystems der Sicherheitsdienste in der DDR, als sich die HVA des MfS abkapselte und ein eigenes Rechenzentrum aufbaute. Als Quelle der Ablehnung gemeinsamer Entwicklungen machte Bergien vor allem zwei Ursachen aus: Zum einen schlugen die Behörden im Zuge der Computerisierung technologische Pfade ein, die sie nur schwer wieder verlassen konnten. Diese standen inkompatibel nebeneinander und ließen sich nur schwer zusammenführen – denn Metasprachen wie HTML setzten sich erst nach dem Ende der DDR durch. Zum anderen dominierte unter den Zeitgenossen die Auffassung, dass Daten nur in der eigenen Datenbank sicher seien. Die Einführung von Computern war vor Ort noch in den Denkstrukturen der industriellen Moderne verhaftet. Ungeachtet dessen lässt sich im Verlauf der Zeit dann aber eine Flexibilisierung, Dynamisierung, Beschleunigung und eine Stärkung horizontaler Kommunikationskanäle in den Sicherheitsbehörden festmachen. Für einen Orwell’schen Überwachungsstaat reiche dies aber nicht.
Der Traum von der perfekt lesbaren Gesellschaft trieb LAWRENCE FROHMAN (New York) um. Dabei legte auch Frohman seinen Schwerpunkt auf die staatliche Datennutzung, allerdings in Hinblick auf die Meldegesetzgebung in der Bundesrepublik und dem damit eng verbundenen Thema des Datenschutzes. Durch das ganze 20. Jahrhundert, so konstatierte er, war der deutsche Staat darum bemüht, seine Gesellschaft lesbar zu machen. Dazu entwickelten die deutschen Behörden ein auf dem Personenkennzeichen basierendes Kontrollsystem aus zahlreichen Einzelsystemen, das bis auf die kommunale Ebene reichte. Der Systemausbau wurde flankiert von einer datennutzungsfreundlichen Gesetzgebung. So zitierte Frohman trocken aus dem Bundesmeldegesetz: „Datenaustausch ist zu fördern“. Die Pläne zu einer weitreichenden Nutzung brachte schließlich eine Debatte um den Datenschutz in Deutschland hervor. Diesen sieht Frohman als die direkte Gegenideologie zur integrierten Datenverarbeitung der 1970er-Jahre. Zu Recht wies er darauf hin, die Computerisierung nicht nur in den Planungsdiskurs einzubetten, sondern den Blick stärker auf den Informationsbegriff zu legen – auch wenn hier eine saubere Definition jenseits von „Daten als Ressourcen“ wünschenswert gewesen wäre. Letzten Endes kassierten die Gerichte zwar das Personenkennzeichen, mit dem Personalausweisgesetz von 1986 sieht Frohman allerdings zahlreiche Elemente des Meldegesetzes der 1970er-Jahre übernommen, was den Behörden zahlreiche Hintertüren zur Datennutzung offen ließ. In der anschließenden Debatte warf Constantin Goschler primär die Frage auf, ob mit einer solchen Erzählung nicht die bekannte Foucault’sche Erzählung reproduziert werden würde. Frohman verneinte dies. Vielmehr wolle er gerade über die Aushandlungsprozesse zu der Frage der Datennutzung vor der Folie von Überwachungs- gegen Fürsorgestaat neue Erkenntnisse zur Frage des Datenschutzes und seiner Genese gewinnen.
An die Frage des Datenschutzes schloss JULIA ERDOGAN (Potsdam) mit ihrem Beitrag zu Hackern in Deutschland an. Erdogan, die zu diesem Thema vor zwei Jahren auf dem 50. Historikertag bereits den History Slam des Historikerverbandes gewinnen konnte, stellte gleich zu Beginn heraus, dass sich die Hacker hierzulande im Vergleich zu den Vereinigten Staaten erst mit der Verbreitung der Heimcomputer formierten. Es war die Zeit, in der die Debatte um den Datenschutz aufkochte. Der Diskurs bot den Hackern eine Bühne, auf der sie sich mit ihrer technischen Expertise beweisen konnten. Sie waren nicht Urheber des Diskurses, sondern trugen zu ihm bei. Hacken begreift Erdogan dabei als politische und kulturelle Praxis. Durch diese gelebte Praxis schwangen sich die Hacker zu Produzenten von Wandel auf. Vor allem durch Aufklärungsarbeit veränderten sie die Gesellschaft und leisten damit ihrem Beitrag zur Computerisierung Deutschlands. Der Prozess der Computerisierung, so Erdogan, wurde eben nicht nur von Unternehmen, Behörden oder Herstellern, sondern auch aus der Gesellschaft heraus vorangetrieben.
Aufklärungsarbeit leisteten die Hacker „direkt am Computer“ in zwei Bereichen. Zum einen setzten sie sich für eine Sicherung der Computersysteme ein, die von Hersteller- und Anwenderseite oftmals unzureichend geschützt wurde. Hacker drangen in diese Systeme ein und spähten sie aus; diejenigen, die sich für Datenschutz einsetzten, meldeten darüber hinaus die Sicherheitslücken den betroffenen Firmen. Zum anderen sensibilisierten sie durch öffentlichkeitswirksame Aktionen die bundesdeutsche Bevölkerung für die Möglichkeiten des Datenmissbrauchs – und damit letztlich für einen besseren Datenschutz. Beides allerdings führte laut Erdogan zu einer zunehmenden Kriminalisierung von Hackern. Hacker sahen sich im Laufe der 1980er-Jahre einer einseitigen Gesetzgebung gegenüber gestellt, die das Aufdecken von Sicherheitslücken, nicht aber deren fahrlässige Programmierung durch die Hersteller unter Strafen stellte. Aber nicht nur von Staatsseite ernteten die Hacker Kritik. Auch von linken Gruppen sahen sie sich dem Vorwurf ausgesetzt, durch ihr Verhalten systemstabilisierend zu wirken. In diesem zermürbenden Spannungsfeld war es letztlich die Wiedervereinigung, welche den bundesdeutschen Hackern um den Chaos Computer Club neue, engagierte Mitglieder aus dem ehemaligen Ostblock hinzugesellte. Deren Erfahrung der Datenverarbeitung in einem repressiven System gab den Anliegen der Hacker in Sachen Datenschutz und offener Computernutzung neuen Aufwind.
Wie wichtig, aber auch wie anschlussfähig eine konsequent digitalhistorische Perspektive für die breitere zeithistorische Forschung sein kann, zeigten nicht nur die vier Beiträge. Allein die Verbindungen zum Konferenzthema Glaube und zum Partnerland Indien sind ein weiterer Beleg, wie innovativ und facettenreich Digitalgeschichtsschreibung sein kann. So legten die Beiträge den im Laufe des Digitalen Zeitalters zunehmenden Glauben in Daten und deren Wahrheitsgehalt in nachvollziehbarer Form offen. Darüber hinaus hätte sich aber ein eigenes Panel allein zur Verwendung religiöser Metaphorik und Praktik im Digitalen Zeitalter von den Evangelisten der Informationstechnologie bis hin zur Erlösungshoffnung und Spiritualismen des New Age im Cyberspace gestalten lassen können. Zur Geschichte der Computerisierung Indiens indes veröffentlichte erst 2015 Dinesh C. Sharma eine international viel gelobte, preisgekrönte und quellenfundierte Monografie. 1 Es ist daher abzusehen, dass auch auf den kommenden Historikertagen die Digitalgeschichte eine prominente Rolle einnehmen wird.
Sektionsbericht:
Sektionsleitung: Frank Bösch (Potsdam)
Frank Bösch (Potsdam): Motor von Reformen? Digitale Daten und sozioökonomischer Wandel
Larry Frohman (New York): Population Registration and the Discourse on Privacy Protection in West Germany
Rüdiger Bergien (Potsdam): Computerisierung als Organisationswandel. Polizei und Nachrichtendienste in der DDR und BRD, 1960-1989
Julia Erdogan (Potsdam): Gegenkontrolle: Bundesdeutsche Hacker in internationaler Perspektive
Anmerkung:
1 Dinesh C. Sharma for The Outsourcer: The Story of India’s IT Revolution , Cambridge 2015.