Dass Hitler weiterhin ein mysterium tremendum et fascinosum darstellt, dafür war der am Vormittag des 22.9.2016 bis zum Bersten volle Vorlesungssaal selbst ein schlagender Beleg. Historiker sind halt auch nur Menschen, und Hitler zieht sie offenbar gleichermaßen in den Bann wie den Mann oder die Frau am Zeitungskiosk, im Buchladen oder vor dem Fernseher. Das Anliegen der Podiumsdiskussion war es indes, den aktuellen Hype um Hitler kritisch zu diskutieren. Dazu hatten Ulrich Herbert (Freiburg) und Andreas Wirsching (München) Birthe Kundrus (Hamburg) und Konrad Jarausch (Chapel Hill) geladen und FAZ-Herausgeber Jürgen Kaube (Frankfurt am Main) um die Moderation gebeten. Vermutlich war es also nicht nur Hitler, der lockte, sondern auch die Fach- und Medien-Prominenz.
Den Auftakt machte Ulrich Herbert mit einer Aufzählung fachwissenschaftlicher und populärer Neuerscheinungen der vergangenen Jahre, die von „Hitler und die Aufklärung“ und „Hitler’s Philosophers“ über „Hitler privat“ und „Adolf Hitler begegnet Karl May“ bis zu „Hipster Hitler“ reichte.1 Timur Vermesʼ Roman, der 2013 die Bestsellerliste eroberte, ist insofern paradigmatisch: Hitler ist – so er denn überhaupt jemals weg war – wieder da.2 Handelt es sich, so fragte Kaube, bei der populärkulturellen Präsenz des Diktators, die durch eine ganze Reihe wissenschaftlicher Arbeiten und drei neue Biografien flankiert wird3, um einen Starkult oder habe der Rummel um Hitler auch einen Sinn, sprich habe die anhaltende Beschäftigung mit dem Diktator auch einen wissenschaftlichen Mehrwert? Hitler sells, antwortete Andreas Wirsching, und zwar nicht zuletzt aufgrund der Faszination des Bösen. Im Großen und Ganzen herrschte unter den Diskutanten Einigkeit: Das viele Aufheben, das in den Medien und der Populärkultur weiterhin um Hitler, seine Hunde und seinen Hoden gemacht werde, sei abzulehnen. Dennoch sei die Forschung, deren Entwicklung Ulrich Herbert nachzeichnete, in einer Art spiralförmiger Bewegung zu Recht wieder bei Hitler angelangt. Habe dieser anfangs als „apologetischer Schimpfonkel“ gedient und somit zur Entlastung der willfährigen deutschen Bevölkerung beigetragen, sei er ab den 1970er-Jahren als „schwacher Diktator“ (Hans Mommsen) gezeichnet worden, dem die vielen kleinen und größeren Führer in der Provinz oder hinter der Front im Osten „entgegenarbeiteten“ (Ian Kershaw). Nachdem die Zustimmung, die Verantwortung, die agency der „ganz normalen Männer“ (Christopher Browning) und Frauen (Wendy Lower) immer deutlicher geworden und der Kenntnistand über den Holocaust nicht zuletzt durch die Öffnung der osteuropäischen Archive enorm angewachsen sei4, sei es nun sinnvoll, Hitlers persönlichen „Willen“, seine Gestaltungsmacht neu in den Blick zu nehmen.
Dem Sozialwissenschaftler Kaube mutete nicht zuletzt das Große-Männer-machen-Geschichte-Prinzip skurril an. Warum habe es so lange gedauert, einen Kenntnisstand über Hitler zu erarbeiten, der weder apologetische Tendenzen aufweise noch seine Rolle als Diktator unterschätze? Vieles sei doch bereits in Sebastian Haffners Anmerkungen nachzulesen. Weshalb nütze die Geschichtswissenschaft nicht das von anderen Disziplinen zur Erforschung etwa des Führerkults, der Gewaltbereitschaft oder von Organisationsstrukturen bereit gelegte Forschungsbesteck? Und überhaupt: Könne man diesen Mann nicht einfach ein für alle Mal „wegforschen“? Andreas Wirsching machte darauf aufmerksam, dass, wenngleich biografisch künftig höchstens Minimales zu erwarten sei, die Frage nach dem Verhältnis zwischen der Bevölkerung und Hitler immer wieder zu stellen sein werde. Birthe Kundrus erinnerte daran, dass nun auch die europäische und globale Dimension stärker berücksichtigt werde, und dass zudem ein erneuter Blick in die Weimarer Republik lohne, denn 1933 stelle, so pflichtete ihr Wirsching bei, weiterhin ein Explanandum dar. Wie war jene Gesellschaft verfasst, in der ein Mann wie Hitler auf einer von ihm selbst errichteten Bühne habe reüssieren können? Der Geschichtswissenschaft drohe das Geschäft jedenfalls nicht auszugehen.
Doch zurück zur Machtfülle des Sozialingenieurs und größten Verbrechers des 20. Jahrhunderts, so Konrad Jarausch. Jenseits aller Erkenntnisse über polykratische Herrschaftsstrukturen, der Beteiligung der Eliten sowie der einfachen Bevölkerung am Aufbau des „Dritten Reiches“ und ihrer Zustimmung zur „Judenpolitik“, trügen zahlreiche Entwicklungen dennoch die persönliche Handschrift des „Führers“. Hitlers Skrupellosigkeit und hohe Risikobereitschaft seien beim Weg in den Zweiten Weltkrieg entscheidend gewesen. Seine „spezifische Intelligenz“ beziehungsweise sein „Genie“ werde in der Kriegsführung unverkennbar. Auch ohne eine Grundsatzentscheidung Hitlers, so führte Ulrich Herbert aus, lasse sich die Dynamik des Völkermords an den europäischen Juden ohne den steten Bezug zum „Führer“ nicht verstehen. Nicht das polykratische Chaos, sondern die Effizienz des Regimes sei das Auffällige. Die „historische Vergewisserung“, welcher die Podiumsdiskussion diente, schien jedenfalls vor dem Hintergrund von Longerichs These eines starken Diktators Hitler stattzufinden. Es wird zu beobachten sein, ob die NS-Forschung diesem – jeglichen exkulpatorischen Verdachts erhabenen und auf einem mittlerweile profunden Kenntnisstand basierenden – ‚antistrukturalistischen‘ Pendelschlag folgt und welche gegenwärtigen wissenschaftlichen Tendenzen sowie gesellschaftlichen Entwicklungen sich darin widerspiegeln.
Abschließend lenkte Jürgen Kaube die Diskussion auf die im Januar vom Institut für Zeitgeschichte herausgegebene, wissenschaftlich kommentierte Edition von Hitlers „Mein Kampf“, die bereits im Vorfeld des Erlöschens der Urheberrechte Ende 2015 viel diskutiert worden war. Nun entbrannte ein kollegialer Streit zwischen Andreas Wirsching und Ulrich Herbert um die Vorzüge der Edition gegenüber „Onkel Karls Ausgabe“ – jener auf dem sprichwörtlichen ‚Dachboden‘ gefundenen Ausgabe von „Mein Kampf“ also, nach der man bisher zitiert habe. Ulrich Herbert hatte eine recht dezidierte Meinung zum nun vorliegenden „Altarbuch“, die der Direktor des IfZ so naturgemäß nicht stehen lassen konnte. Herbert stieß sich am „volkspädagogischen Ton“ der Einleitung, an der weihevollen Anmutung der beiden Bände und an den Kommentaren, die häufig im Stile eines „Hier irrt der ‚Führer‘“-Belegs daherkämen. Wirsching konterte souverän und erinnerte im Gegenzug nochmals an den Publikationskontext: Deutliche distanzierende Bemerkungen seien bei einem den Kreis der Fachhistoriker überschreitenden Publikum durchaus erforderlich. Unbestreitbar sei zudem die Notwendigkeit und Nützlichkeit der Kommentare für die Einordnung dieser zentralen Quelle des Nationalsozialismus. Am Ende war man sich also doch ein wenig uneinig, und zwar darüber, wie denn Nicht-Historiker anzusprechen und aufzuklären seien. Mit seiner treffenden Anspielung auf den entlarvenden Anspruch Frauke Petrys, den Begriff ‚völkisch‘ wieder positiv aufzuwerten, erinnerte Ulrich Herbert abschließend daran, wie akut der Bedarf an Information und Aufklärung derzeit ist. Wer nicht vor Ort war, und sich selbst einen Eindruck von der anregenden und – trotz des Themas – sehr unterhaltsamen Diskussion verschaffen möchte, kann dies ab dem 25. Januar bei ARD-alpha tun.
Sektionsübersicht:
Sektionsleitung: Ulrich Herbert (Freiburg) / Andreas Wirsching (München)
Birthe Kundrus (Hamburg)
Konrad Jarausch (Chapel Hill)
Moderation: Jürgen Kaube (Frankfurt am Main)
Anmerkungen:
1 Ulrich Herbert, Der alte neue Diktator, in: Die Zeit, Nr. 50/2015, vom 10. Dezember 2015, URL: http://www.zeit.de/2015/50/adolf-hitler-biographie-peter-longerich (30.09.2016).
2 Timur Vermes, Er ist wieder da. Roman, Köln 2012.
3 Siehe: Volker Ullrich, Adolf Hitler. Die Jahre des Aufstiegs 1889–1939. Biografie, Frankfurt am Main 2013; Peter Longerich, Hitler. Biographie, München 2015; Wolfram Pyta, Hitler. Der Künstler als Politiker und Feldherr. Eine Herrschaftsanalyse, München 2015.
4 Einen konzisen, aktuellen Überblick bietet: Bajohr, Frank/Löw, Andrea (Hrsg.): Der Holocaust. Ergebnisse und neue Fragen der Forschung, Frankfurt am Main 2015.