69. Baltisches Historikertreffen

69. Baltisches Historikertreffen

Organisatoren
Baltische Historische Kommission
Ort
Göttingen
Land
Deutschland
Vom - Bis
21.05.2016 - 22.05.2016
Url der Konferenzwebsite
Von
Stefan Donecker, Department of History and Civilisation, European University Institute Florence

Die Baltische Historische Kommission folgte dem bewährten Schema der Historikertreffen vergangener Jahre und widmete den Samstagvormittag aktuellen Projekten und Forschungsberichten aus allen Teilbereichen baltischer Geschichte. Im zweiten Teil der Tagung stand ein eng umrissenes Rahmenthema im Mittelpunkt – in diesem Jahr die Historiographie Livlands während der Frühen Neuzeit.

Nach der Eröffnung der Konferenz durch den Vorsitzenden der Baltischen Historischen Kommission MATTHIAS THUMSER (Berlin) berichtete zunächst THOMAS BRÜCK (Schwerin) über den Stand der Arbeiten an dem Editionsprojekt zur Rigaer Chronik des Johann Witte: Der Text, bekannt als „Rotes Buch inter archiepiscopalia“, wurde von dem Rigaer Ratsherrn Johann Witte um die Mitte des 17. Jahrhunderts angefertigt und war als Grundlage einer Stadtchronik Rigas gedacht. Die Aufzeichnungen Wittes beruhen auf einem oder mehreren älteren Texten, deren Herkunft unbekannt ist und die bisher dem späteren Ratsherrn Hermann Helewegh (um 1420–1489) zugeschrieben wurden. Brück verwies nochmals auf die Tatsache, dass die bisherigen Editionen aus dem 18. und 19. Jahrhundert auf unvollständigen und fehlerhaften Abschriften basieren. Um den Originaltext zu erschließen, nahm Brück bei mehreren Archiv- und Bibliotheksaufenthalten den Text des Witteschen Autographs auf und versah ihn mit einem kritischen Apparat sowie einem Sachapparat, deren Bearbeitung noch nicht abgeschlossen ist. Parallel dazu werden weitere Texte, die mit dem Haupttext im Zusammenhang stehen, für die Edition vorbereitet, darunter die erhaltenen Fragmente der „Livländischen Chronik“, die Witte im Auftrag der Krone Schwedens anfertigen sollte.

Die Vorträge über „Neue Forschungen zur baltischen Geschichte“ eröffnete SERGEJ POLEKHOV (Moskva), der den Teilnehmerinnen und Teilnehmern der Tagung Einblicke in aktuelle russische Editionsprojekte zu den russisch-livländischen Beziehungen im Spätmittelalter gewährte, an deren Publikation er selbst gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen aus dem Bereich der Archivwissenschaften, der Paläographie, Diplomatik und Philologie beteiligt ist. Sowohl zu Groß-Novgorod und Pleskau als auch zu Polozk liegen Urkundenbücher aus der Sowjetzeit vor (1949 bzw. 1977–89 veröffentlicht), die aber den Anforderungen der modernen Forschung nicht mehr gerecht werden, zumal sie sich auf den russischen Text beschränken und deutsche und lateinische Textvarianten nicht einbeziehen. Der für das Verständnis der Quellen oft unerlässliche Sprachvergleich ist somit nicht möglich. Die neuen Editionen sollen diesem und anderen Mängel der sowjetischen Urkundenbücher Abhilfe schaffen: Der Bestand an Urkunden wurde durch neue Archivfunde signifikant vergrößert, und die Quellen werden anhand moderner Editionsprinzipien wiedergegeben. Da zwischen Livland und Novgorod, Pleskau und Polozk intensive politische und wirtschaftliche Beziehungen bestanden, werden die Quelleneditionen auch für die baltische Geschichtsforschung von großer Relevanz sein. Polekhov wies in diesem Zusammenhang etwa auf die Verträge zwischen Pleskau und dem livländischen Zweig des Deutschen Ordens hin, die zwischen 1481 und 1509 abgeschlossen wurden, oder auf die Korrespondenz deutscher Kaufleute aus Polozk mit Riga.

Der folgende Vortrag von TRUDE MAURER (Göttingen) stand unter dem markanten Titel „Unnütz, emanzipiert und nicht einmal standesgemäß“. Mit dieser abschätzigen Äußerung hatte die Familie der Baronesse Margarete von Wrangell im späten 19. Jahrhundert die akademischen Ambitionen der jungen Frau kommentiert, ohne sie jedoch von ihren Studienplänen abhalten zu können. Anhand ausgewählter Biographien zeigte Maurer, wie Studentinnen aus den Gouvernements Estland, Livland und Kurland trotz fehlender gesellschaftlicher Akzeptanz und trotz institutioneller Hindernisse ihren Studienwunsch an deutschen Universitäten verwirklichten konnten, bis hin zur Promotion. Besonderes Augenmerk legte Maurer in ihrer Darstellung auf das soziale Selbstverständnis akademisch gebildeter Frauen und ihren Handlungsspielraum, ein selbstbestimmtes Leben jenseits herkömmlicher Frauenrollen zu führen.

Die Vorträge am Samstagvormittag beendete ADAM BRODE (Pittsburgh) mit der Präsentation seines Dissertationsprojekts, das die Umgestaltung Rigas zu einer nationalen Hauptstadt während der 1920er- und 1930er-Jahre sowie die Auswirkungen dieses Prozesses auf die nicht-lettische Bevölkerung der Stadt, vor allem auf Deutschbalten, Russen und Juden, untersucht. Indem er Impulse der anglo-amerikanischen „spatial history“ aufgreift, fragt Brode nach der symbolischen Bedeutung und der von ethnischen Gesichtspunkten geprägten Wahrnehmung und Nutzung markanter Gebäude. Als Beispiele dienen ihm dabei das frühere deutsche und das russische Stadttheater, die zur nationalen Oper bzw. zum nationalen Theater Lettlands umgewidmet wurden, sowie das Saeimagebäude und das Rathaus, die ebenfalls eine Umdeutung von einem deutschbaltischen in einen lettischen Kontext erfuhren.

Der zweite Teil der Tagung war der Geschichtsschreibung im frühneuzeitlichen Livland gewidmet. Im 16., 17. und frühen 18. Jahrhundert brachte Livland ein umfangreiches und auch im länderübergreifenden Vergleich bemerkenswertes historiographisches Schrifttum hervor. Um der Vielfalt dieser Epoche gerecht zu werden, beschäftigten sich die Vortragenden gezielt mit jenen livländischen Geschichtsschreibern, die bislang im Schatten der Ausnahmeerscheinung Balthasar Russow standen und nur wenig Aufmerksamkeit seitens der Geschichtsforschung erfahren hatten. Chronologisch wie inhaltlich schloss die Tagung damit an das 61. Baltische Historikertreffen des Jahres 2008 an, das unter dem Thema „Geschichtsschreibung im mittelalterlichen Livland“ stand.

Nach einleitenden Bemerkungen von STEFAN DONECKER (Wien) stellte DENNIS HORMUTH (Marburg) die Aufzeichnungen des Rigaer Stadtschreibers Johann Schmiedt vor, die sich mit den Ereignissen des Livländischen Krieges in den Jahren 1558 bis 1562 beschäftigen. Die Quelle ist Teil eines Codex an der Königlichen Bibliothek in Kopenhagen, der neben der erzählenden Darstellung weitere amtliche Dokumente, Briefe und weitere kurze Berichte enthält. Der fragmentarische Charakter der Schrift, die wohl als unvollendete Materialsammlung zu verstehen ist, bietet, so Hormuth, aufschlussreiche Einblicke in die Schreibpraxis und Arbeitsweise eines frühneuzeitlichen Chronisten. Ebenso ermöglicht der Text Rückschlüsse auf Schmiedts Selbstverständnis als Vertreter der städtischen Elite und auf die Bedeutung, die er Integration und Einheit der Stadtgemeinschaft zumaß.

ENIJA RUBINA (Rīga) sprach anschließend über ein weiteres Werk der städtischen Geschichtsschreibung Rigas, die sogenannte „Wieckensche Chronik“. Das Werk ist in Dutzenden von Abschriften erhalten geblieben, wurde aber ungeachtet seiner Popularität unter Zeitgenossen kaum erforscht und lediglich in Auszügen publiziert. Während die Identität des Autors der anonym verfassten und später einem gewissen Gotthard Wiecken zugeschriebenen Chronik offen bleiben muss, tendiert Rubina dazu, den Hauptteil des Werkes auf die Zeit nach 1618 zu datieren. Zahlreiche Fortsetzungen, Anhänge und Kürzungen in den verschiedenen Handschriften lassen die Überlieferungsgeschichte der Wieckenschen Chronik äußerst kompliziert erscheinen. Umso deutlicher vermochte Rubina aber die politische Intention hinter der Chronik herauszuarbeiten, die dem vom Rigaer Rat propagierten Bild der Kalenderunruhen einen Gegenentwurf entgegenhielt, der für die Aufständischen Partei ergriff und den Rat scharf kritisierte.

In seinem Vortrag zu Nikolaus Specht und dessen „Oratio de Livonia“ machte MARTIN KLÖKER (Osnabrück) die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Tagung mit dem für die Frühe Neuzeit charakteristischen Textgenre der Oratio, der akademischen Rede, vertraut. Der aus einer Revaler Kaufmannsfamilie stammende Specht hielt 1629 an der Universität Wittenberg eine im Folgejahr gedruckte Lobrede auf sein Vaterland, die eine Fülle landeskundlicher Informationen bietet. Auch wenn die historische Dimension nicht im Vordergrund steht, sind die res gestae ein unverzichtbarer Teil der Rede, da die Gegenwart Livlands nur aus der Geschichte heraus verstanden werden kann. Klöker charakterisierte Specht als eine vielseitig gebildete Gelehrtenpersönlichkeit, der lange Zeit sowohl eine Laufbahn im Bereich der Historiographie als auch ein Kirchenamt offen standen. Für die Geschichte der livländischen Geschichtsschreibung sind Autor und Werk von unbestreitbarer Bedeutung, da Spechts panegyrische Deutungen historischer Zusammenhänge als wichtige Zeugnisse der stadtbürgerlichen Mentalität jener Zeit und ihres Zugangs zur Vergangenheit angesehen werden können.

Der erste Tag des Historikertreffens wurde von AIJA TAIMIŅA (Rīga) mit ihren Ausführungen über den Geschichtsschreiber Jürgen Helms und sein Werk beschlossen. Das Manuskript der in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts verfassten Chronik des Jürgen Helms wurde bei einem Brand im Jahr 1797 zerstört, sodass ihre Inhalte aus Auszügen des 18. Jahrhunderts rekonstruiert werden mussten. Die in jenen Auszügen überlieferten Zeichnungen, vor allem die Skizzen von Burgen und Festungen, sind von einem ungewöhnlichen Detailreichtum. Die phantasievollen Darstellungen haben zwar wenig mit der Realität livländischer Festungsarchitektur zu tun, übten aber einen nachhaltigen Einfluss auf die Historienmalerei des 19. Jahrhunderts aus und prägten das populäre Bild des mittelalterlichen Livland. In ihrem Vortrag stellte Taimiņa somit eine Verbindung zum 67. Baltischen Historikertreffen des Jahres 2014 her, das sich mit der Visualisierung baltischer Geschichte und deren Erforschung im Zuge des „iconic turn“ befasst hatte.

Den Sonntagmorgen eröffnete JANET LAIDLA (Tartu) mit einem Referat über die handschriftlich weit verbreitete, aber nie gedruckte Lode-Werner-Chronik. Die Autorenschaft des 1677 fertiggestellten Textes ist bis heute ungeklärt, da die deutsche Version den Gutsherren Gustav von Lode und die lateinische Fassung den Theologiestudenten und Hauslehrer David Werner als Autor nennt. Im Gegensatz zu den anderen Hauptwerken der livländischen Geschichtsschreibung der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts, den pro-schwedischen Chroniken des Thomas Hiärn und Christian Kelch, vertrat die Lode-Werner-Chronik den Standpunkt der Estländischen Ritterschaft und versuchte, wie Laidla nachdrücklich betonte, deren Vorrechte und Privilegien durch historische Argumente zu rechtfertigen.

Mit einer besonders dubiosen Figur unter den livländischen Gelehrten des späten 17. Jahrhunderts befasste sich anschließend AIVAR PÕLDVEE (Tallinn). In seinem Vortrag bot Põldvee einen anschaulichen Einblick in die abenteuerliche Biographie des Johann Wolfgang Boecler, dessen wiederholte Übertritte vom Katholizismus zum Protestantismus und umgekehrt ihm unter Zeitgenossen den Ruf eines unzuverlässigen Opportunisten einbrachten. Anhand von Boeclers Hauptwerk, „Der einfältigen Ehsten abergläubische Gebräuche, Weisen und Gewonheiten“ sowie seiner verlorenen oder nicht über das Planungsstadium hinausgelangten Schriften veranschaulichte Põldvee auch die Arbeitsweise Boeclers als Gelehrten und sein Potential als Historiograph, die eine unbefangene Neuevaluierung dieser umstrittenen Gelehrtenpersönlichkeit nahelegen.

Mit BOGUSŁAW DYBAŚ (Wien) wandte sich die Tagung schließlich der polnischsprachigen Geschichtsschreibung zu. Jan August Hylzen gehörte jener Gruppe des livländischen Adels an, die sich im 17. und 18. Jahrhundert aufgrund ihres Wohnsitzes in Polnisch-Livland enger an die polnisch-litauische Republik band. Sein umfangreiches, 1750 in polnischer Sprache veröffentlichtes Buch spiegelt die Mentalität und das Geschichtsdenken dieser Gruppe wider. Hylzen sah sich selbst als Angehöriger einer „livländische Nation“, die er wiederum als Teil der polnisch-litauischen Adelsnation verstand. Diesem Selbstverständnis versuchte er durch ein komplexes und vielschichtiges Werk, das Züge einer traditionellen Chronik mit einer Art Wappenbuch sowie einer geographischen und politischen Analyse verband, gerecht zu werden.

Den Schlusspunkt der Tagung setzte PAULS DAIJA (Rīga), dessen Ausführungen die Brücke zur Historiographie des Aufklärungszeitalters schlugen. Daija beschreibt einen grundsätzlichen Paradigmenwechsel in der Geschichtsschreibung des 18. Jahrhunderts: Während die Verfasser nach wie vor dem intellektuellen Milieu der deutschbaltischen Eliten entstammten, waren nun auch die Letten, wenn auch nur passiv, als Adressaten historisch-didaktischer Texte am historiographischen Diskurs beteiligt. Am Beispiel von Autoren wie Friedrich Bernhard Blaufuss und Gustav von Bergmann zeigte Daija, wie die Narrative livländischer Geschichtsschreibung für ein lettischsprachiges Publikum adaptiert wurden.

Konferenzübersicht:

Matthias Thumser (Berlin): Eröffnung

Projektpräsentation

Thomas Brück (Schwerin): Die Rigaer Chronik des Johann Witte

Neue Forschungen zur baltischen Geschichte

Sergej Polekhov (Moskva): Neue russische Urkundeneditionen zu den russisch-livländischen Beziehungen (Polozk, Novgorod, Pleskau/Pskov)

Trude Maurer (Göttingen): „Unnütz, emanzipiert und nicht einmal standesgemäß“? Studium und Promotion baltischer Frauen an deutschen Universitäten (bis 1918)

Adam Brode (Pittsburgh): Die Wiedererfindung Rigas. Städtischer Raum und ethnische Zugehörigkeit in der Hauptstadt Lettlands 1918–1934

Geschichtsschreibung im frühneuzeitlichen Livland

Stefan Donecker (Wien): Aetas historicorum. Einführende Bemerkungen

Dennis Hormuth (Marburg): Die Chronik des Rigaer Stadtschreibers Johann Schmiedt – eine Quellenautopsie

Enija Rubina (Rīga): Die Wieckensche Chronik und die politische Instrumentalisierung der Geschichte im frühneuzeitlichen Livland

Martin Klöker (Osnabrück): Der Historiker als Pastor? Nikolaus Specht und seine „Oratio de Livonia“ (1630)

Aija Taimiņa (Rīga): Jürgen Helms. Die Fata Morgana einer „alten geschrieben Liefländischen Chronica“

Janet Laidla (Tartu): The Lode-Werner Chronicle as a Statement and a Handbook

Aivar Põldvee (Tallinn): Johann Wolfgang Boecler. Eine ungeschriebene Geschichte

Bogusław Dybaś (Wien): Der (polnisch-)livländische Historiker Jan August Hylzen und seine Geschichte Livlands (1750)

Pauls Daija (Rīga): Continuities and Differences between 17th- and 18th-Century Representations of Livonian History

Resümee und Abschlussbemerkungen


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Englisch, Deutsch
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