Experten des Ökonomischen – Ökonomie der Experten: Wirtschaftliche Praktiken und Expertenkulturen in der Vormoderne (12. bis 18. Jahrhundert)

Experten des Ökonomischen – Ökonomie der Experten: Wirtschaftliche Praktiken und Expertenkulturen in der Vormoderne (12. bis 18. Jahrhundert)

Organizer(s)
Philip Knäble, Graduiertenkolleg „Expertenkulturen des 12. bis 18. Jahrhunderts“, Georg-August-Universität Göttingen; Lukas Wolfinger, Abteilung für Lateinische Philologie des Mittelalters und der Neuzeit, Georg-August-Universität Göttingen
Location
Göttingen
Country
Germany
From - Until
08.06.2016 - 09.06.2016
Conf. Website
By
Alexander Winnefeld / Inga Schürmann, Graduiertenkolleg „Expertenkulturen des 12. bis 18. Jahrhunderts“, Georg-August-Universität Göttingen

„Experten des Ökonomischen – Ökonomie der Experten“ lautete die Dichotomie, unter der der diesjährige Workshop des Göttinger Graduiertenkollegs „Expertenkulturen des 12. bis 18. Jahrhunderts“ sich vornahm, Wechselwirkungen zwischen ökonomischen Praktiken und Expertenwissen in ihrer Bedeutung für die Herausbildung vormoderner Expertenkulturen zu beleuchten und nach der Etablierung von Experten der Ökonomie in Spätmittelalter und Früher Neuzeit zu fragen. Dabei sollte der Fokus explizit auf Akteuren liegen, denen in der Meistererzählung vom Kaufmann als Wegbereiter der Moderne für gewöhnlich wenig Raum zugestanden wird. Die Organisatoren, PHILIP KNÄBLE (Göttingen) und LUKAS WOLFINGER (Göttingen), hatten als Ziel des Workshops formuliert, anhand von exemplarischen Fallstudien Heuristiken einer vielfach eingeforderten kulturwissenschaftlichen Wirtschaftsgeschichte auszuloten, um ein besseres Verständnis vormoderner Ökonomien zu erreichen.

Die erste Sektion des Workshops unter dem Thema „Ökonomische Experten und die Entstehung der Ökonomie als Wissenschaft“ wurde von ALEXANDER ENGEL (Göttingen) eröffnet, der nach der Vorgeschichte des Ökonomen vor seiner Professionalisierung im akademischen Betrieb des 19. Jahrhunderts fragte. Er verfolgte dabei die These, dass bereits in der Frühen Neuzeit die Anfänge der Wirtschaftswissenschaft in Form eines systematisierenden, publizierten Reflexionswissens erkennbar seien. In seinem Vortrag beleuchtete Engel diese „Präprofessionsökonomen“ näher und bestimmte als verbindendes Element ihre Zugehörigkeit zu bestimmten Betätigungsfeldern: Bei ihnen handelte es sich überwiegend um (1) Akademiker aus Nachbardisziplinen (z.B. Kameralwissenschaften, Moralphilosophie), (2) Personen mit (quasi-)öffentlichen Funktionen, die sich in ihren jeweiligen Aufgabengebieten mit ökonomischen Fragen beschäftigten, und/oder (3) um Rentiers aus der Finanz- und Landwirtschaft, die ihre konkreten Erfahrungen in ein systematisches Verständnis umwandeln konnten. Letztere hätten in besonderem Maße Einfluss auf die vorakademische Wirtschaftswissenschaft entwickelt und dabei eine zunehmende Zweckbefreiung des Ökonomischen bewirkt: Die Auseinandersetzung mit wirtschaftlichen Fragen sei nicht mehr auf die praktische Lösung konkreter Probleme zugeschnitten gewesen und habe so – zugespitzt formuliert – zum „Hobby reicher Leute“ werden können.

Einen konkreten Experten des Ökonomischen nahm KOLJA LICHY (Gießen) mit Karl von Zinzendorf (1739-1813) in den Blick, der seit 1762 eine Stelle als Kommerzienrat im Habsburger Reich innehatte. Anhand seines Beispiels untersuchte Lichy, wie sich in der Frühen Neuzeit eine ökonomische Expertensphäre auf der Grundlage von fundiertem Erfahrungswissen ausbilden konnte. Karl von Zinzendorf gelangte über seinen Bruder Ludwig nach Wien und wurde von diesem vermittels eines strengen Lehr- und Lektüreplans auf eine Stellung in der ökonomischen Verwaltung vorbereitet. Obwohl der Besitz solchen spezifischen Wissens als Qualifikation durchaus geschätzt worden sei, habe man sich um eine Distanzierung von pedantischer Gelehrsamkeit bemüht und eine mondäne Lebensführung als ebenso wichtiges Erfordernis für die Tätigkeit in der Verwaltung erachtet. Lichy zeigte, wie in der Folge dieser Umstände die Karriere von Karl von Zinzendorf im Wesentlichen auf seiner Zugehörigkeit zum Adelsstand und seinen ausführlichen Reiseberichten beruhte. Auf der Grundlage informeller Vorgänge habe er sich so ein breites empirisches Expertenwissen angeeignet und zum ökonomischen Experten aufsteigen können.

Einblicke in das englische Milieu ökonomischer Expertise gewährte TIM NEU (Göttingen), der in seinem Vortrag die Ablösung des Schatzmeisters Sidney Godolphin im Jahre 1710 unter Rückgriff auf das Deutungsmuster von Systemvertrauen und Expertenskepsis erklärte.1 Der Kampf um die Amtsenthebung Godolphins stelle sich dar als ein Konflikt zwischen den regierenden Whigs und Tories, in dem die Frage nach der Qualifikation Godolphins an die nach der Kompetenz für den staatsfinanziell bedeutsamen public credit geknüpft worden sei: Die Whigs hätten sich bemüht, den Kredit direkt mit der Person des Schatzmeisters zu verbinden und diesen damit zum Garanten der finanziellen Absicherung zu machen. Sie propagierten auf diese Weise Vertrauen in die Person – Godolphin – und Skepsis gegenüber einem komplexen Kreditsystem. Die Tories hätten hingegen den Einfluss des Schatzmeisters auf den Erfolg des Kredits geleugnet und diesen stattdessen als von der Qualität des politischen Systems abhängig dargestellt. Sie formulierten somit Expertenskepsis an der Person und Systemvertrauen zu den politischen Strukturen – und hatten mit diesem, den Mechanismen von Expertenkulturen gemäßen Ansatz letztlich Erfolg.

„Religiöse Akteure als wirtschaftliche Experten“ waren das verbindende Thema der zweiten Sektion des Workshops. Den Auftakt bildete TANJA SKAMBRAKS (Mannheim), die am Beispiel der Monti di Pietà „Ökonomische Expertise in Diskurs und Praxis“ zu konkretisieren versuchte. Die Monti di Pietà, christliche Pfandleihhäuser, die der unteren Mittelschicht Zugang zu Kleinkrediten ermöglichten, waren seit dem 15. Jahrhundert insbesondere durch den Franziskanerorden propagiert worden. Die Entstehung von etwa 200 dieser Institutionen im Italien des 15. und 16. Jahrhunderts war von einem Diskurs über Zins und Wucher begleitet, der letztlich in ihre Legitimierung und eine allgemeine Lockerung des Wucherverständnisses mündete. Skambraks zeichnete drei Stufen des Transfers und der Transformation von Expertise nach. Ab den 1470er-Jahren habe sich zunächst ein juristischer Diskurs entwickelt, der unter anderem die Zinsnahme als stipendium laboris für erbrachte Leistungen verteidigte. In einem zweiten Schritt seien dann im juristischen Diskurs etablierte Argumente von franziskanischen Predigern in Streitgesprächen aufgegriffen und als Teil einer „Performance“ von Expertise angewandt worden. Zuletzt sei dann auf der Ebene der Legislative, die durch den Erlass von Statuten für das Funktionieren des einzurichtenden Monte zu sorgen hatte, auf die in den vorherigen Stufen entwickelte Expertise zurückgegriffen worden.

PHILIP KNÄBLE warf in seinem Beitrag die Frage auf, inwiefern man die spätmittelalterlichen Scholastiker als Wirtschaftsexperten bezeichnen könne. Entgegen dem in den Wirtschaftswissenschaften dominierenden Ansatz einer wirtschaftsfernen und Innovationen unterbindenden Scholastik demonstrierte er anhand der Franziskaner und Dominikaner Petrus Olivi, Geraldus Odonis, Bernardino von Siena und Antoninus von Florenz, dass die Bettelorden für ihre Predigt- und Seelsorgetätigkeit über ein umfangreiches Wissen über die ökonomische Praxis verfügten. Allerdings sei nicht allein das Wissen ausschlaggebend für den Status als ökonomischer Experte, sondern die Inszenierung und Anrufung als Experte erfolge in sozialer Interaktion. Am Beispiel einer Anfrage spanischer Kaufleute aus Antwerpen an die Theologen der Pariser Sorbonne zu Beginn des 16. Jahrhunderts zeigte Knäble auf, dass für strittige Fälle aus dem Handelsalltag auch das Urteil von Theologen relevant sein konnte. Die Rechtfertigung der Kaufleute griff dabei die von den Scholastikern hervorgebrachte Argumentation auf, wie sie auch auf dem 5. Laterankonzil beschlossen wurde, indem sie auf das Gemeinwohl und das Risiko der Geschäfte sowie die großen Anstrengungen der Kaufleute und die Kosten für ihre Bediensteten verwiesen.

Den Schlusspunkt des Tages setzte ein in Kooperation mit dem Göttinger Zentrum für Mittelalter- und Frühneuzeitforschung anberaumtes Streitgespräch, in dessen Rahmen die Diskutanten ANNETTE KEHNEL (Mannheim), PHILIPP RÖSSNER (Manchester) und ANDREAS MEYER (Marburg) angehalten waren, in bewusst zugespitzter Form über „Spätmittelalterliche Religion als Wirtschaft?“ zu diskutieren. Die Diskutanten waren zum einen dazu aufgefordert, zu der Frage Stellung zu beziehen, inwiefern es lohnenswert sei, spätmittelalterliche Religions- und Frömmigkeitsgeschichte unter ökonomischen Gesichtspunkten zu untersuchen, andererseits sollte darüber gesprochen werden, ob die Heilsökonomie insgesamt als Bestandteil der spätmittelalterlichen Wirtschaft anzusehen und diese somit in wirtschaftshistorische Darstellungen unbedingt einzubeziehen sei.

Zum Eingang seines Beitrags mit dem Titel „Sacrum commercium und profaner Profit“ konstatierte LUKAS WOLFINGER ein weitgehendes Fehlen ökonomischer Untersuchungen zum Ablasswesen, da die Kirchen- und Frömmigkeitsgeschichte lange zu wenig an ökonomischen Fragestellungen, die Wirtschaftsgeschichte zu wenig an religiösen Phänomenen interessiert gewesen sei. Mit Raimund Peraudi und Johannes von Paltz stellte er zwei Experten der Heilsökonomie näher vor, deren Tätigkeit sowohl das Ausmaß des Ablassmarktes, die Professionalität der Organisation, des Marketings und des Vertriebs, als auch die spätmittelalterlichen Vorstellungen von der Funktionsweise der Heilsökonomie verdeutlicht. Peraudi, einer der bekanntesten päpstlichen Ablasskommissare, prägte wesentlich die Ablasslehre seiner Zeit, schuf eine eigene Liturgie für die Ablassverkündung sowie neue Indulgenzprivilegien, in denen er aus mehreren Heilsangeboten eine „umfassende geistliche Lebensversicherung“ zusammenstellte. Neben Ablässen wurde darin auch die Bruderschaft der gesamten Kirche versprochen, ein Punkt auf den Johannes von Paltz, unter anderem Mitarbeiter Peraudis, in seiner Schrift „Coelifodina“ näher eingeht, in der er verschiedene Arten und Möglichkeiten der Teilhabe an und der Vermittlung von bona spiritualia unterscheidet. Letztendlich seien bona spiritualia als produzierbar, akkumulierbar, übertragbar und kapitalisierbar verstanden worden. Dieses „Heilskapital“ sei im Spätmittelalter vielfach mit dem diesseitigen Kapital verflochten gewesen und habe gemeinsam mit diesem einen zusammenhängenden Wirtschaftskreislauf gebildet.

Anschließend sprach COLIN ARNAUD (Berlin) zum „Wirtschaftsdiskurs der Textilunternehmer in Italien“. Er skizzierte zunächst das Aufkommen einer neuen, praktischen Caritas-Vorstellung im 16. und 17. Jahrhundert, die mit dem Wandel des positiven Bettlerbildes des Mittelalters zur Gleichsetzung des Bettelns mit Müßiggang einherging und in der Entstehung von Zucht- und Arbeitshäusern mündete. In der Forschung sei dieser Wandel dadurch erklärt worden, dass mit der Reformation Armut von einem moralischen zu einem sozialen Problem geworden sei; so habe eine allgemeine Zunahme der Armut sowohl protestantische als auch katholische Gesellschaften überfordert. Arnaud bemühte stattdessen einen hiervon abweichenden Erklärungsansatz, indem er anhand der Statuten verschiedener Einungen von Textilunternehmern im Italien des 13. bis 16. Jahrhunderts die Umdeutung des Arbeit-Gebens zur caritativen Praxis herausarbeitete. Bereits im 14. Jahrhundert habe sich hier die Auffassung etabliert, dass es das Arbeitgeben durch den Unternehmer und nicht die Arbeit des Lohnarbeiters sei, die letzteren ernähre. Die ältere Auffassung vom Ordo laboratoris als dem Nährstand sei somit umgekehrt und das Arbeit-Geben zu einem Akt der Nächstenliebe erklärt worden. Arbeit und Caritas wurden in der Förderung von Armenhäusern und Mädchenheimen verquickt, die einerseits die Nachfrage der Textilwirtschaft nach Arbeitskräften stillten, andererseits Armen und Waisen ein Auskommen bescheren sollten.

Die dritte Sektion des Workshops stand unter den Leitbegriffen „Experten – Wissen – Ökonomie“. Zunächst erörterte GION WALLMEYER (Göttingen) in seinem Vortrag die Möglichkeiten und Probleme der Anwendung eines modernen ökonomischen Marktbegriffs in Form eines kontrollierten Anachronismus auf die lateinischen Herrscherhöfe des späten Mittelalters. Am Beispiel der Kreuzzugsberatungen des späten 13. und frühen 14. Jahrhunderts vertrat er die These, dass es an einigen Höfen einen Wissens-Markt für kreuzzugsbezogene Expertise gegeben habe. Ratgeber wie Fidenzio von Padua, Marino Sanudo oder Pierre Dubois versuchten diesen höfischen Wissensbedarf durch die Akquise neuen geographischen, merkantilen und universitären Wissens zu befriedigen, welches sie an Herrscherhöfen von Neapel bis London im Tausch für Sozialprestige oder eine höfische Karriere feilboten. Im frühen 14. Jahrhundert verfestigte sich auf diese Weise eine marktförmige Berater- bzw. Gutachterkultur mitsamt entsprechenden Bewertungsgremien, die bis zum Beginn des 100-jährigen Krieges währte. Gleichzeitig wies Wallmeyer allerdings auch darauf hin, dass eine solch anachronistische Anwendung des Marktbegriffs aufgrund mangelnder Quellenevidenz für die Konkurrenz der Marktakteure sowie des Widerspruchs zwischen dem inhärent egalitären Marktkonzept und dem hierarchisch stratifizierten System „Hof“ nicht frei von Problemen sei.

Der Beitrag von HEINRICH LANG (Bamberg) widmete sich anhand der Beispiele der Familien Welser und Spina der ökonomischen Praxis von Kaufmannbankiers im 16. Jahrhundert. Vor der Akademisierung der Ökonomie seien diese die maßgeblichen Wirtschaftsexperten gewesen, die über spezialisiertes Wissen über Buchführung und Handelsgebräuche verfügten. Erlernt worden sei dieses Wissen durch die praktische Ausbildung der Kaufmannbankiers in den Kontoren der Väter und in den Häusern ihrer Geschäftspartner, vor allem in Italien, was zu einer Vergemeinschaftung innerhalb der europaweit vernetzten Gruppe von Kaufmannbankiers führte. Sichtbar würden diese ‚Communities of Practice‘ (Wenger) in der Korrespondenz zwischen Geschäftspartnern, in denen besonders Wechselbriefe als gruppenbezogene Sonderform der Kommunikation erschienen, die Außenstehenden aufgrund ihrer Fachsprache nicht zugänglich gewesen seien. Nachrichten über Geschäftsverläufe, Messen, Preislisten oder Wechselkursrelationen hätten weniger der Information über ökonomisch relevante Sachverhalte gedient, sondern die Korrespondenten in ein Geschäfts- und Wissenssystem integriert und den Zugang zur Community gesichert.

MIRIAM MÜLLER (Göttingen) betrachtete in ihrem Vortrag die Sammlungen von Professoren im 18. Jahrhundert in ihrer Eigenschaft als ökonomische Faktoren im Leben der Gelehrten. Da um 1800 Universitäten vielfach noch keine eigenen Lehrsammlungen unterhielten, waren die für die Lehre notwendigen Objekte von den Professoren selbst anzuschaffen und zu unterhalten. Anhand des Helmstedter Professors Gottfried Christoph Beireis und des Göttinger und später Jenaer Professors Christian Wilhelm Büttner zeigte Müller auf, dass gut aufgestellte Sammlungen ökonomische Faktoren waren, die für Stellenberufungen und Gehaltsverhandlungen nutzbar gemacht werden konnten. Büttner etwa sei nicht zuletzt dank seiner vom Vater geerbten und auf Reisen erweiterten naturhistorischen Sammlung auf eine Göttinger Professur berufen worden, für die er eigentlich kaum die nötigen Qualifikationen besessen habe. Beireis wiederum habe im Zuge seiner Bewerbung auf den Helmstedter Lehrstuhl für Physik im Jahre 1759 versprochen, die Sammlungen zweier verstorbener Kollegen aufzukaufen und die Objekte, sofern er bis zu seinem Tod in Helmstedt bleiben sollte, anschließend der Universität zu vererben. Sammlungen waren also ein Faktor, der sich positiv auf Anstellung und Bezahlung der Professoren auswirkte, doch konnte ihr dauerhafter Unterhalt gleichzeitig zu einer finanziellen Last werden, was um 1800 dazu führte, dass mehr und mehr Professoren ihre Sammlungen an die Universitäten verkauften, die ihrerseits darauf bedacht waren, sich dadurch vom einzelnen Lehrstuhlinhaber unabhängiger zu machen. Oftmals seien die verkaufenden Professoren in der Folge die ersten Direktoren der neuen Universitätssammlungen geworden.

In der Abschlussdiskussion wurde von den Teilnehmer/innen noch einmal auf einige im Verlauf des Workshops wiederholt anklingende Fragen Bezug genommen. Die in den Vorträgen vorgestellten Protagonisten, neben Kaufleuten und Proto-Unternehmern auch Adelige und Geistliche, offenbarten eine heterogene Zusammensetzung der Akteure im ökonomischen Feld. Das ließ die Frage nach einer Neukonzeptionierung des Wirtschaftsbegriffs für die Vormoderne aufkommen. Plädiert wurde für eine Ausweitung des Untersuchungsgegenstandes, die der religiösen, sozialen und politischen Einbettung Rechnung trage, allerdings nicht in Beliebigkeit verfalle. Dabei sei es wenig sinnvoll, vorschnell neue Definitionen von Wirtschaft und Markt zu postulieren, vielmehr solle vor allem eine Untersuchung der Kontexte von ökonomischen Praktiken und den mit ihnen verbundenen Wissensformen geboten werden. Sie verspreche tiefere Einblicke in unterschiedliche vormoderne Konzepte und Stile von Wirtschaft.

In Bezug auf die Wissensformen wurde in der Diskussion auch der Expertenbegriff thematisiert und insbesondere der Zusammenhang von Erfahrungswissen und Expertenwissen angesprochen, die gerade nicht als einander ausschließende Gegenbegriffe zu verstehen seien. Die Trennung von praktischem Wissen, das in körperlichen Routinen erworben wurde, und gelehrtem Wissen, das die Semantiken des Ökonomischen in besonderem Maße prägte, ließ sich in den Fallbeispielen nicht aufrecht halten. Stattdessen zeigten die Vorträge vielfach eine Verschränkung beider Wissensformen in Diskursen und Praktiken der ökonomischen Akteure.

Konferenzübersicht:

I. Ökonomische Experten und die Entstehung der Ökonomie als Wissenschaft

ALEXANDER ENGEL (Göttingen): Ökonomien der Ökonomen. Lebensunterhalt, Motive und Tätigkeitskontexte nationalökonomischer Experten im 17. und 18. Jahrhundert

KOLJA LICHY (Gießen): Der unfreiwillige Experte. Karl v. Zinzendorf und ökonomisches Wissen als Karriereoption

TIM NEU (Göttingen): Der Experte, der keiner sein durfte. Sidney Godolphin, public credit und die Krise von 1710

II. Religiöse Akteure als ökonomische Experten

TANJA SKAMBRAKS (Mannheim): Ökonomische Expertise in Diskurs und Praxis der spätmittelalterlichen Monti di Pietà

PHILIP KNÄBLE (Göttingen): Gerechte Preise, Wucher und Gemeinwohl. Der Scholastiker als Wirtschaftsexperte?

Öffentliche Abendveranstaltung in der Veranstaltungsreihe „Göttinger Streitgespräche zu Mittelalter und Früher Neuzeit“: Spätmittelalterliche Religion als Wirtschaft? Diskutanten: ANETTE KEHNEL (Mannheim), PHILIPP RÖSSNER (Manchester), ANDREAS MEYER (Marburg), Moderation: LUKAS WOLFINGER (Göttingen)

LUKAS WOLFINGER (Göttingen): Sacrum commercium und profaner Profit. Zu den Experten und Instrumenten der spätmittelalterlichen Heilsökonomie

COLIN ARNAUD (Berlin): Der Wirtschaftsdiskurs der Textilunternehmer in Italien (13.-16. Jh.). Eine neue Caritas-Vorstellung

III. Experten – Wissen – Ökonomie

GION WALLMEYER (Göttingen): Gab es einen höfischen Wissens-Markt für kreuzzugsbezogene Expertise im 13. und 14. Jahrhundert?

HEINRICH LANG (Bamberg): Wissensdiskurse in der ökonomischen Praxis. Kaufmannbankiers als Experten der Märkte im 16. Jahrhundert

MIRIAM MÜLLER (Göttingen): Sammelnde Professoren. Die Ökonomie der Objektakquisition an Universitäten des 18. Jahrhunderts

Anmerkung:
1 Vgl. dazu den während des Workshops viel zitierten Aufsatz von Frank Rexroth, Systemvertrauen und Expertenskepsis. Die Utopie vom maßgeschneiderten Wissen in den Kulturen des 12. bis 16. Jahrhunderts, in: Björn Reich / Frank Rexroth / Matthias Roick (Hrsg.), Wissen, maßgeschneidert. Experten und Expertenkulturen im Europa der Vormoderne, München 2012 (= Beiheft der Historische Zeitschrift, 57), S. 12-44.