Im 4. und 5. November fand an der Universität Paderborn der vierte Workshop des Arbeitskreises für Historische Belgienforschung in Kooperation mit dem im Sommer 2016 gegründeten „Belgienzentrum“ (BELZ) der Universität Paderborn sowie der Virtuellen Fachbibliothek (ViFa) Benelux statt. Der Einladung von Sebastian Bischoff (Paderborn), Christoph Jahr (Berlin), Tatjana Mrowka (Köln) und Jens Thiel (Münster / Berlin) folgten zahlreiche etablierte Expertinnen und Experten der belgischen Geschichte sowie Vertreterinnen und Vertreter des wissenschaftlichen Nachwuchses, die ihre laufenden bzw. abgeschlossenen Promotionsprojekte vorstellten. Die Vielfalt und Komplexität Belgiens und der belgischen Geschichte spiegelte sich in den Themenfeldern und methodischen Zugängen wider. In vier chronologisch arrangierten Sektionen von der Frühen Neuzeit bis in die Gegenwart führte die Tagung verschiedene Forschungserkenntnisse zusammen und wurde dadurch ihrem Anspruch auf Förderung der gesellschaftlichen „Belgienkompetenz“ gerecht. Diese charakterisierte Sabine Schmitz als Vorsitzende des BELZ in ihrem Grußwort als eine notwendige Vertiefung der historischen Kenntnisse wie auch des Austausches.
Die erste Sektion „Aspekte der belgischen Geschichte von der Frühen Neuzeit über die Revolution von 1830 bis zum Ersten Weltkrieg“ eröffnete CHRISTIAN MÜHLING (Würzburg). Unter dem Rückgriff auf das Konzept der Memoria verdeutlichte er, wie die katholische Geschichtsschreibung der südlichen Niederlande zum Ende des 17. Jahrhunderts und dem Beginn des 18. Jahrhunderts den Achtzigjährigen Krieg als Religionskrieg zur Abwehr der protestantischen Häresie stilisiert habe. Indem er den Quellenkorpus über das Werk Jean Chrysostôme Bruslé de Montpleinchamps hinaus weitete, zeigte er den Beitrag der Geschichtsschreibung zu einer katholischen Identitätsbildung in den habsburgischen Niederlanden auf, die zumindest aus heutiger Perspektive als eine frühe Form eines „belgischen Sonderbewusstseins“ gewertet werden kann. FELICIA KOMPIO (Berlin) gewährte in ihrem Beitrag erste Einblicke in ihr Dissertationsprojekt zur belgischen Revolution von 1830 in transnationaler Perspektive. Ausgehend von der These eines sich verdichtenden kommunikativen Referenzrahmens in Europa skizzierte sie die Herausbildung neuer Partizipationsformen und –praktiken auf der Straße in den Revolutionshandlungen der Städte Brüssel, Bristol und Leipzig. Sie verdeutlichte dadurch, dass nicht nur die politischen Ideen der Französischen Revolution gesellschaftlich diskutiert, sondern auch jene Partizipationspraktiken ausgehandelt worden seien, die Manfred Gailus für die Revolutionen 1948/49 schließlich als „Straßenpolitik“ bezeichnete. 1 Im letzten Vortrag dieser Sektion wandte sich CHRISTINA REIMANN (Göteborg / Berlin) dem Wandel der Migrationskontrolle in Antwerpen als Tor nach Amerika um 1900 zu. Sie führte aus, dass, hervorgerufen durch US-amerikanische Kontrollforderungen, neben einem quantitativen Zuwachs der Abschiebungen, der insbesondere durch die Kooperation der belgischen Regierung mit dem Transportunternehmen „Red Star Line“ vorangetrieben worden sei, auch ein Wandel der Praktiken stattgefunden habe. Auf der Grundlage des Bedeutungszuwachses der Staatsbürgerschaft als zentralem Ordnungsprinzip sei eine Kriminalisierung und Stigmatisierung der Migrantinnen und Migranten als Krankheitsübermittler erfolgt, die mit Hotellistenchecks, Gesundheitstest und Festsetzungen einhergegangen sei.
Die zweite Sektion „Aspekte der belgischen Geschichte im Ersten Weltkrieg und in der Zwischenkriegszeit“ konzentrierte insbesondere auf deutsch-belgische Erinnerungsorte und Erinnerungen an den Ersten Weltkrieg. Den Auftakt bildete UTZ THIMM (Gießen). Er stellte die Stadt Gießen als einen belgischen Erinnerungsort vor, indem er die zahlreichen Verflechtungen zwischen Belgien und der mittelhessischen Stadt aufzeigte. Neben der Verwicklung Gießener Bürger in direkte Kriegshandlungen und der Mitwirkung des Professors Jan Versluys bei der flämischen Umgestaltung der Universität Gent legte er den Schwerpunkt auf die belgischen Insassen des Kriegsgefangenenlagers in Gießen, das er anhand zahlreicher Quellen detailliert beschrieb und sowohl die ernährungstechnische Versorgung durch Hilfsorganisationen als auch die Ausbeutung durch die Gießener Wirtschaft herausstellte. Einen Forschungsüberblick über das Gedenken an den Ersten Weltkrieg in Belgien gewährte GENEVIÉVE WARLAND (Louvain), indem sie ein interdisziplinäres und transuniversitäres Projekt der Universitäten Löwen, Gent, Brüssel und Anderlecht präsentierte. Sie hob hervor, dass insgesamt 34 Dissertationsprojekte die Themenfelder der Kriegserfahrungen im belgischen Heer, insbesondere der Gefühle Ehre und Scham, und der Erinnerung an den Krieg in Denkmälern und Straßennamen in Lüttich und Antwerpen, in frankophonen und flämischen Kriegsromanen der Zwischenkriegszeit und in heutigen Bevölkerungsgruppen untersuchen. Der abschließende Vortrag der Sektion von WINFRIED DOLDERER (Berlin) stellte die Löwener Universitätsbibliothek als deutsch-belgischen Erinnerungsort vor. Während das Niederbrennen der Bibliothek im Ersten Weltkrieg den deutschen Soldaten ohne Widersprüche zugeschrieben werden und somit gerade in der Kriegspropaganda der Alliierten einen gewichtigen Platz einnehmen konnte, waren die Verantwortlichen der erneuten Zerstörung im Zweiten Weltkrieg nach dem Wiederaufbau in der Zwischenkriegszeit nicht zweifelsfrei zu identifizieren. Auch wenn belgische Nachforschungen die britisch-deutschen Schuldzuweisungen zuungunsten der deutschen Seite aufzulösen versuchten, sei die Schuldfrage bis heute nicht eindeutig geklärt. Dolderer stellte abschließend heraus, dass sowohl Konrad Adenauer mit der Annahme der Ehrendoktorwürde der Universität Löwen 1958 als auch Joachim Gauck durch die Einweihung eines Gedenksteines 2014 den Weg zur Etablierung des deutsch-belgischen Erinnerungsortes geebnet habe
Im anschließenden Abendvortrag widmete sich SOPHIE DE SCHAEPDRJVER (Pennsylvania State University) erneut der belgisch-deutschen Geschichte des Ersten Weltkrieges, indem sie überzeugend für den Zäsurcharakter des Jahres 1916 argumentierte. Im neuen Erwartungshorizont des Abnutzungskrieges habe sich die deutsche Besatzungspolitik grundlegend verschoben. Das Ziel der Legitimierung des Besatzungsregimes durch eine lediglich demonstrative Gegenüberstellung zu den belgischen Eliten sei durch die Deportation der Arbeitskräfte und der materiellen Ausbeutung des Landes verworfen worden. Diese Veränderung spiegele sich insbesondere in der Exekution Gabrielle Petits wider, die einerseits als Fortführung der Konflikte mit der belgischen Elite und andererseits als Opfer aus den Reihen der unbekannten Masse zu deuten sei. Darauf aufbauend habe sich auch der belgische öffentliche Diskurs gewandelt, nämlich vom Durchhalten und Patriotismus zur Solidarität und Anprangerung der Kollaborateure.
Der zweite Tagungstag begann mit der Sektion „Aspekte belgischer Geschichte im Zweiten Weltkrieg und der frühen Nachkriegszeit“, die verschiedene Verflechtungen der belgisch-deutschen/österreichischen Geschichte herausarbeitete. Zunächst wandte sich ANDREA HURTON (Wien) dem Forschungsdesiderat der österreichischen Widerstandskämpferinnen und –kämpfern in der belgischen Résistance zu. Sie erläuterte, dass nach der Annexion Österreichs Belgien als Exilland für zahlreiche Jüdinnen und Juden aus Österreich fungiert habe, von denen ca. 50 der belgischen Résistance beigetreten sein, die sich insbesondere im Brüsseler Stadtteil Molenbeek organisiert habe. Auf der Grundlage von Erinnerungsberichten und Interviews verdeutlichte sie die „Soldatenarbeit“ der ca. 25 Frauen im Sinne der Kontaktaufnahme zu Wehrmachtsoldaten und derer ideologischen Beeinflussung. Aufgrund der enormen Denunziationswahrscheinlichkeit starb ein Großteil der Aktivistinnen und Aktivisten in Ausschwitz, auf Todesmärschen oder in Lüneburg-Kaland. ALEXANDER WÄLDNER (Hannover) diskutierte die Präsenz von Belgierinnen und Belgiern an der Universität Hannover im Nationalsozialismus. Er unterstrich, dass diese sowohl als Täter im Sinne von Lehrern und Mannschaftsführern im Langemarck-Studium als auch als Opfer in der Zwangsarbeit aufgetreten sein. Mit Hilfe der Personalakten des Studentenwerk Hannover konnte er von 475 Langemarck-Studentinnen und Studenten sowie Lehrkräften 87 und von 850 Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern 102 belgischer Herkunft nachweisen. Die Sektion beendete JULIANO DE ASSIS MENDONÇA (Köln) mit seinem Beitrag zum belgischen Schmuggel im Nachkriegsdeutschland. Er stellte heraus, dass neben amerikanischen insbesondere belgische Soldaten einen regen Kaffee- und Tabakschmuggel betrieben, der seinen Höhepunkt mit der Währungsreform erreicht habe, jedoch bis in die Mitte der 1950er-Jahre fortgesetzt wurde. Neben dem Schmuggel in den Garnisonsstädten beschrieb er zudem einen ausgeprägten Grenzschmuggel, wobei beide durch die rechtliche nahezu immunitätssichernde Sonderstellung der Soldaten gegenüber den deutschen Behörden begünstigt worden sein. Aufgrund der damit einhergehenden engen Verflechtung des Alltags von Besatzern und Besetzten stellte er die begründete These auf, dass der Schmuggel als Katalysator für die deutsch-belgischen Beziehungen gedient habe.
Die letzte Sektion der Tagung „Aspekte belgischer Geschichte seit dem Zweiten Weltkrieg“ legte den Schwerpunkt auf die belgische Kolonial- und Einwanderergeschichte bis zur Gegenwart. DANIEL TÖDT (Berlin) eröffnete diese mit seinem Vortrag zur belgischen Entwicklungspolitik und afrikanischen Elitenbildung. Er skizzierte den belgischen Entwicklungskolonialismus als legitimatorische Reaktion auf die gewandelte internationale Ordnung nach 1945. Nach dem Vorbild der Erziehung der belgischen Arbeiterschaft im ausgehenden 19. Jahrhundert sollte somit eine afrikanische Kollaborationselite zivilisiert und moralisiert werden. Die gewünschte Anpassung an eine europäische Elite bei gleichzeitiger Distinktion derselbigen habe, so die zentrale These, durch die unerfüllten Erwartungen gewichtig zum Niedergang des belgischen Kolonialstaates beigetragen. An diesen Vortrag knüpfte JULIEN BOBINEAU (Würzburg) an, indem er die erinnerungspolitisch geprägten Kolonialdiskurse in Belgien und der Demokratischen Republik Kongo analysierte. Während in Belgien bis in die 2000er-Jahre ein koloniales Vergessen, Verdrängen und Verklären vorgeherrscht habe, das durch Geschichtsverfälschungen in Schulbüchern und Universitäten, der Glorifizierung der Zivilisierung durch das Königliche Museum für Zentralafrika sowie durch Generationenkonflikte getragen worden sei und erst durch zivilgesellschaftliches Engagement nun breit diskutiert werde, habe ebenso die authenticité-Kampagne des Präsidenten der DR Kongo Mobutu in ihrer Rückbesinnung auf afrikanische Wurzeln eine Auseinandersetzung mit der Kolonialzeit unterdrückt. Den Abschluss der Tagung bildete der gegenwartsbezogene Vortrag von SABINE SCHMITZ (Paderborn) zu muslimischen Identitäten in Belgien in der Gegenwartsliteratur. Auf der Grundlage der Theorie des Narratives stellte sie einen Textkorpus, nämlich Rachida Lambrabets „Dschihab (Über die Liebe und den Hass)“, Ismaël Saidis „Djihad“ und Fikry El Azzouzis „Drarrie en de nacht (Wir da draußen)“, vor anhand dessen sie den Anstoß zur neuen Identitätsbildung im transgenerischen Erzählmodus verdeutlichte, der sich sowohl auf Muslime als auch die übergreifende Mitte der Gesellschaft beziehe.
Konferenzübersicht:
Eröffnung der Tagung
Sebastian Bischoff (Paderborn) / Christoph Jahr (Berlin) / Tatjana Mrowka (Köln) / Jens Thiel (Münster/Berlin)
Grußworte
Volker Peckhaus (Dekan der Fakultät für Kulturwissenschaften der Universität Paderborn) / Sabine Schmitz (Vorstandsvorsitzende des Belgienzentrums (BELZ) Universität Paderborn)
Sektion 1: Aspekte belgischer Geschichte von der Frühen Neuzeit über die Revolution 1830 bis zum Ersten Weltkrieg
Moderation: Bernd Liemann (Münster/Gent)
Christian Mühling (Würzburg), Wie der Achtzigjährige Krieg zum Religionskrieg wurde: Jean Chrysostôme Bruslé de Montpleinchamp und die südniederländische Religionskriegsmemoria
Felicia Kompio (Berlin), “À mon pays je dois la vie, il me devra la liberté”. Brüssel im August 1830 in europäischer Perspektive"
Christina Reimann (Göteborg / Berlin), "Alles was Recht ist": Hotellistenchecks, Gesundheitstests und Festsetzungen von Migrierenden in Antwerpen um 1900
Sektion 2: Aspekte belgischer Geschichte im Ersten Weltkrieg und in der Zwischenkriegszeit
Moderation: Sebastian Bischoff (Paderborn)
Utz Thimm (Gießen), Gießen: ein belgischer Erinnerungsort des Ersten Weltkriegs
Geneviève Warland (Louvain), Anerkennung und Ressentiment: Erfahrungen und Erinnerungen des Ersten Weltkrieges in Belgien
Winfried Dolderer (Berlin), „Furore teutonico...“. Die Löwener Universitätsbibliothek als deutsch-belgischer Erinnerungsort
Öffentlicher Vortrag
Sophie de Schaepdrijver (Pennsylvania State University, USA), The Year of Reckoning: the Belgians in 1916
Moderation: Christoph Jahr (Berlin)
Sektion 3: Aspekte belgischer Geschichte im Zweiten Weltkrieg und der frühen Nachkriegszeit
Moderation: Jens Thiel (Münster/Berlin)
Andrea Hurton (Wien), Österreicherinnen in der belgischen Résistance. Eine topographische und archivalische Spurensuche in Brüssel und Malines/Mechelen
Alexander Wäldner (Hannover), Belgier_innen an der Technischen Hochschule Hannover in der NS-Zeit
Juliano de Assis Mendonça (Köln), Der Schmuggel durch belgische Soldaten im Nachkriegsdeutschland, 1946–1956
Sektion 4: Aspekte belgischer Geschichte seit dem Zweiten Weltkrieg
Moderation: Tatjana Mrowka (Köln)
Daniel Tödt (Berlin), „Vers l’avenir“: Belgischer Entwickungskolonialismus und afrikanische Elitenpolitik nach 1944
Julien Bobineau (Würzburg), „Das große Schweigen.“ Koloniale Diskurse in Belgien und in der DR Kongo seit 1960
Sabine Schmitz (Paderborn), Muslimische Identitäten in Belgien: Entwurf eines Narrativs in der belgischen Gegenwartsliteratur
Verabschiedung durch Tatjana Mrowka (Köln), Sebastian Bischoff (Paderborn), Christoph Jahr (Berlin) und Jens Thiel (Münster/Berlin)
Anmerkung:
1 Manfred Gailus, Straße und Brot. Sozialer Protest in den deutschen Staaten unter besonderer Berücksichtigung Preußens, 1847-1849, Göttingen 1990.