Avantgarden der Biopolitik. Jugendbewegung, Lebensreform und Strategien biologischer „Aufrüstung“

Avantgarden der Biopolitik. Jugendbewegung, Lebensreform und Strategien biologischer „Aufrüstung“

Organizer(s)
Archiv der deutschen Jugendbewegung
Location
Witzenhausen
Country
Germany
From - Until
21.10.2016 - 23.10.2016
Conf. Website
By
Felix Ruppert, Institut für Europäische Ethnologie/ Kulturwissenschaft, Philipps-Universität Marburg

Im 18. und 19. Jahrhundert findet eine vermehrte Zuwendung zu den biologischen Wissenschaften statt, deren erworbenes Wissen auch in den öffentlichen Diskurs vordringt. Mit den neuen Erkenntnissen gehen auch neue Krankheiten und Ängste einher. Der Verfall des eigenen Körpers durch nervliche Schwächen, geerbt oder hervorgerufen durch eine ungesunde Lebensweise, führt zur Furcht vor der Degeneration der gesamten Gesellschaft. Diese Gesellschaft konstituiert sich in Teilen „völkisch“ als biologischen und rassischen „Volkskörper“, der vor schädlichen Einflüssen geschützt werden muss, um nicht in die „Barbarei“ zurück zu fallen. Ende des 19. und zu Anfang des 20. Jahrhunderts äußern sich die Bemühungen zur Gesundung des „Volkskörpers“ auch in der Jugendbewegung und der damit eng verknüpften Lebensreformbewegung in Deutschland. Diese Bemühungen, die in vielfachen Spielarten von einigen Akteuren der Bewegungen gedacht, propagiert oder praktiziert wurden, bildeten unter der Überschrift „Avantgarden der Biopolitik“ das interdisziplinär präsentierte Thema der Jahrestagung des Archivs der deutschen Jugendbewegung 2016.

An seinen Einführungsvortrag anknüpfend, in dem er zunächst mit einer Analyse der Nerven- und Sexualdiskurse vom 18. bis in das frühe 20. Jahrhundert die Basis für die anschließenden Themen schuf, führte KARL BRAUN (Marburg) am Beispiel des Arztes Max Hodann (1894-1946) die Anfänge eines aufgeklärten Umgangs mit der menschlichen Sexualität aus. Hodann, der während seines Studiums Mitglied des Wandervogels wurde und sich darüber hinaus in der Bewegung und für die Jugend engagierte, wurde vor allem in der Sexualreform tätig und trat gegen die repressive Sexualmoral in der Weimarer Republik ein. Er betrieb Sexualaufklärung und setzte sich für Geburtenkontrolle ein. Hierbei vertrat er eine sozialistische Eugenik im Sinne der Sozialhygiene und forderte den ‚vernünftigen‘ Einsatz von Verhütungsmitteln. Vernünftiger Einsatz bedeutete für Hodann einerseits Verhütung dort, wo „schädigendes Erbgut“ die Gesellschaft schwäche und keine Verhütung, wo „wertvolles Erbgut“ sonst verloren ginge.

Im Diskurs um den „kindlichen und jugendlichen Körper um 1900“ spiele die Eugenik ebenfalls eine zentrale Rolle, wie MEIKE SOPHIA BAADER (Hildesheim) herausarbeitete. Hierbei standen Akteurinnen und Akteure des Kindes- und Mutterschutzes im Fokus, denen, wie Ellen Key (1849-1926), lediglich der Schutz gesunder Kinder wichtig war. Die „eugenisch verantwortete Mutterschaft“, wie sie Adele Schreiber (1872-1957) forderte, nennt BAADER einen „eugenischen Feminismus“, der aus einer Mutter-Kind-Schutz Perspektive agiere. Bei der Partnerwahl sollte darauf geachtet werden, dass die Voraussetzung für „gute Erbmasse“ gegeben sei: Alkoholkranke und Menschen mit geistiger Behinderung sollten keinen Nachwuchs zeugen können und zur Sicherheit sterilisiert werden. Durch die Erhebung von Statistiken erfuhr der kindliche und jugendliche Körper eine Normierung nach biologistischen Merkmalen. Die Anführung von Konfession und Herkunft der Eltern sollte, im Zusammenhang mit den körperlichen Merkmalen der Kinder, rassistische und antisemitische Vorurteile quasiwissenschaftlich untermauern.

Zwar war eugenisches Denken in dieser Zeit weit verbreitet, jedoch trat es in unterschiedlicher Intensität auf. Drastische Forderungen an die Rassenhygiene kamen auch aus dem Bereich der völkischen Bewegung, wie UWE PUSCHNER (Berlin) an dem Beispiel von Richard Ungewitter (1869-1958) darstellte. Ungewitter könnte bei oberflächlicher Betrachtung als etwas verschrobener Reformer gelten, der das „Volksheil“ in Nacktheit, vegetarischer Ernährung und Abstinenz gegenüber Rauschmitteln sehe. Jedoch dienten diese Aspekte lediglich zur Erziehung der Mitglieder seines ‚Treubundes für aufsteigendes Leben‘, der Männern „germanischer Abkunft“ vorbehalten war und „über den schädlichen Einfluss von Fremdrassen im Volkskörper“ aufklären sollte. Ähnliches zeigte PUSCHNER am Werk Gustav Simons‘ (1861-1914), der vor allem eine vegetarische, gesunde Ernährung propagierte. Nach Simons besitze jede „Rasse“ eine eigentümliche Ernährung, die somit eine besondere Rolle für das Wohlergehen eines Volkes im biologistischen, kulturellen und zivilisatorischen Sinne spiele. Nach dieser Argumentation sei eine der ‚germanischen Eigenart‘ entsprechende Ernährung obligatorisch, um der Degenerierung entgegenzuwirken. Einen weiteren Schritt zur Stärkung der vermeintlichen arischen Rasse sah Ungewitters Treubund in ‚Zuchtsiedlungen‘, wie dem Projekt Wodanshöhe, in dem eine Vielzahl deutscher Frauen mit einem ausgewählten Kreis junger, „arischer“ Männer zum reinen Zuchtzweck zusammenleben sollte. Das Vorhaben scheiterte jedoch an der überschätzten Bereitschaft seitens junger Damen.

Mit „Freie Liebe oder Zucht“ überschrieb FELIX LINZNER (Marburg) seinen Vortrag über Friedrich „Muck“ Lamberty (1891-1984) und die „Neue Schar“. Lamberty, der bereits früh in Lebensreformkreisen sozialisiert wurde, arbeitete zunächst in einem Reformhaus, bewegte sich bald in den Reihen des Wandervogels, wo er aber erst nach dem Ersten Weltkrieg zunehmend aktiv wurde. Während er mit seiner Neuen Schar, seiner stetig wachsenden Anhängergruppe, durch Deutschland zog, propagierte er seine „Revolution der Seele“, ein Programm, das lebensreformerische mit völkischen und religiösen Ideen vereinte. Eine individualistische geistige Entwicklung der Jugend, die das Land in eine neue, völkische Ordnung bringe. Als die Neue Schar über den Winter in einer Jugendherberge verweilte kam es zum sogenannten ‚Sündenfall‘ Mucks. Trotz vorgeschriebener Askese soll Lamberty mit mehreren seiner Anhängerinnen uneheliche Kinder gezeugt haben. Seine Vorstellung, den deutsch-völkischen Messias zu zeugen, den Heilsbringer, der die Revolution über das Alte durchsetzen könne, führte zum Zerwürfnis mit vielen seiner Sympathisanten und Mitgliedern der Neuen Schar.

Sexualität und vor allem die Sexualität der Jugend war im frühen 20. Jahrhundert Thema von weitreichenden Diskussionen, die bereits zu dieser Zeit auch medial geführt wurden. Die Zeitschrift „Der Anfang. Zeitschrift der Jugend“, herausgegeben von Siegfried Bernfeld und Georges Barbizon, erschien monatlich von Mai 1913 bis Juli 1914 und verstand sich als Sprachrohr der Jugend. Jede und jeder Jugendliche ab dem 14. Lebensjahr, die Stimmen der „Mädels“ einzufangen war etwas Neues, wurde aufgefordert Artikel einzusenden, um ihren Problemen, Sorgen und Nöten Gehör zu verschaffen und gemeinsam gegen die Unterdrückung ihrer Autonomie in Schulen und im Elternhaus hervorzutreten. VANESSA HAUTMANN (Marburg) ging vor allem auf die Themen Sexualität und Geschlechtlichkeit und wie sie im ‚Anfang‘ diskutiert wurden ein. Trotz der generellen Befürwortung der Emanzipation der Frauen und regelmäßigen Berichterstattung über die damalige Frauenrechtebewegung wurde seitens der männlichen Autoren ein eher konservatives Geschlechterbild vertreten. Ähnlich verhielt es sich mit der Sexualität. Man forderte zwar bessere und frühzeitige sexuelle Aufklärung, doch darin lag zugleich die Warnung vor der unaufgeklärten Erotik, den „nackten medusenäugigen Wahrheiten“, die zum Verderben führten. Gerade im Zusammenhang mit Sexualität wurde Frauen von Autor Friedrich Mono die Fähigkeit zur Autonomie abgesprochen. Die Zeitschrift hatte nur kurz Bestand, da sie schnell als „sittlich gefährlich“ eingestuft und verboten wurde. Die presserechtliche Verantwortung der Zeitschrift lag in den Händen des Reformpädagogen und Gründer der Freien Schulgemeinde Wickersdorf Gustav Wynekens (1875-1964). Über dessen pädagogisches Prinzip, das nicht selten im ‚Anfang‘ beworben wurde, berichtete GABRIELE GUERRA (Rom).

Einen weiteren biopolitischen Aspekt innerhalb der Jugendbewegung, in welchem die körperliche Macht direkt zum Ausdruck kommt, stellte SVEN REISS (Kiel) anhand der „Renaissance des Eros paidikos“ vor. Der Begriff, der dem griechisch-antiken Bildungsideal des „pädagogischen Eros“ entliehen ist, beschreibt ursprünglich die enge Beziehung zwischen dem Knaben und seinem Lehrmeister, durch die eine Erziehung erst erfolgen könne. Bis wohin eine solche Schüler-Lehrer-Beziehung reicht und wo sexualisierte Gewalt beginnt ist eine schwierige Gratwanderung, die in der weitestgehend patriarchalen Jugendbewegung bis in die Gegenwart nicht selten in der Ermächtigung über den Jugendlichen endete. Die Idealisierung der Schönheit des Knaben, wie sie häufig in Literatur und Kunst in der Jugendbewegung zu finden ist, Hans Blühers (1888-1955) männerbündische Thesen und das Eros-Konzept Gustav Wynekens spielten schon früh eine Rolle, später wurde versucht anhand von Schriften der Homosexuellenbewegung der 1970er-Jahre eine Legitimierung zu konstruieren.

MERET FEHLMANN (Zürich) beobachtet um die Jahrhundertwende (19./20.) eine erneute Rezeption des Buches Das Mutterrecht (1861) von Johann Jakob Bachhofen (1815-1887), in dem er die menschliche Entwicklungsgeschichte beschreibt und dem bestehenden Patriarchat eine „Gynaiokratie“, der Begriff Matriarchat ist ein Neologismus der 1880er-Jahre, vorstellt. Während die Ideen Bachofens in der Jugendbewegung durch die starke patriarchale Ausrichtung, verstärkt durch Hans Blühers „Männerbundideal“, nur schwer rezipierbar waren, gab es im Bereich der Lebensreform und der Frauenbewegung Anstöße. Die Gründung von Mutterschutzbünden, leichte Veränderungen im Familienleben und die weiter oben genannten eugenischen, feministischen Ideen sorgten für einen gewissen Anstieg der Autonomie der Frauen. Zugleich wurden die Entwicklungen aus patriarchaler Sicht mit Sorge betrachtet. Als eine weitere völkische Vertreterin in der Frauenbewegung nannte FEHLMANN Lenore Ripke-Kühne (1878-1955), die der Deutschen Glaubensbewegung angehörte und in ihrem Buch Magna Mater (1928) mit der Wiederkehr der „Großen Mutter“ ein Matriarchat beschreibt. Das Buch erschien im Verlag Eugen Diederichs‘ (1867-1930), dessen Verlagsprogramm CHRISTINA NIEM (Mainz) untersuchte. Diederichs stand der Jugend- und Lebensreformbewegung nahe, nicht nur, weil er Teile ihrer Schriften verlegte. Durch seine Bemühungen bildete sich um ihn der freistudentische Serakreis, mit dem er jugendbewegte Sonnenwendfeste veranstaltete. Mit dem Ersten Weltkrieg erhielt das Programm, den Verlag sah Diederichs als universellen Kulturverlag, eine völkisch-nationale Prägung.

Mit der Analyse der jeweiligen gesellschaftskritischen literarischen Hauptwerke von Hermann Popert (1871-1932) und Hans Paasche (1881 – 1920) arbeitete JOHN KHAIRI-TARAKI (Marburg) die darin geschilderten Körperlichkeitsdarstellungen heraus. Sowohl in Poperts Helmut Harringa (1910), als auch in Paasches Die Forschungsreise des Afrikaners Lukanga Mukara ins innerste Deutschland (1912/13) projizieren die Autoren ihre eigene, für sie vernünftig und gesund erscheinende, Lebensweise auf die jeweiligen Protagonisten, die im scharfen Kontrast zu den anderen auftretenden Figuren stehen. Diese stellen die „verkommenen“ Deutschen dar, die von den Protagonisten mit Verwunderung studiert (Lukanga Mukara) oder voller Ekel betrachtet werden (Helmut Harringa). Erst als der afrikanische Forscher 1913 zum Ersten Freideutschen Jugendtag auf den Hohen Meißner steigt und die ‚reinen‘, unversehrten Jugendlichen sieht, wächst in ihm Hoffnung für Deutschland. Die Autoren waren gemeinsame Herausgeber der Zeitschrift „Der Vortrupp. Halbmonatsschrift für das Deutschtum unserer Zeit“. Die Körperlichkeitsbilder ihrer Romane, die fast zeitgleich erschienen, spiegelten die im Vortrupp vertretenden Ansichten.

Die Vielseitigkeit der Themen, die auf der Tagung dargeboten wurden, zeigt wie sehr völkisch-nationales Gedankengut, „Ab- und Aufwertung der Rasse“, die Angst vor vermeintlichen Fremdkörpern im Volk und verschrobene Körperlichkeitsansichten auch Akteure der Jugend- und Lebensreformbewegung beschäftigten und lenkten. Aus heutiger Sicht mag das meiste befremdlich erscheinen, doch waren die Gedanken in dieser Zeit weit verbreitet und durchflossen viele Diskurse. Die vielen Verknüpfungen innerhalb der Vorträge verweisen jedoch auch darauf, dass es häufig Gruppen von Anhängern oder gewisse Strömungen innerhalb der Bewegung waren, die nicht repräsentativ für die gesamte Jugend- und Reformbewegung und auch nicht für die gesamte deutsche Gesellschaft dieser Zeit stehen. Dennoch ist es unabdingbar diese Tendenzen innerhalb der Bewegungen bei der Forschung zu berücksichtigen und immer wieder auf sie aufmerksam zu machen. Die Auslegung dieser Tagung, die Präsentation der Themen und deren fortwährende Beforschung sind ein wichtiger wissenschaftlicher Beitrag zur Erforschung der Jugend- und Lebensreformbewegung und somit zur neuesten Geschichte Deutschlands.

Die begleitende Ausstellung „Gegen Sumpf und Fäulnis – leuchtender Menschheitsmorgen“ die von FELIX LINZNER (Marburg) kuratiert wurde, ist bis zum 31. August 2017 im Archiv der deutschen Jugendbewegung auf Burg Ludwigstein zu besuchen. Sie zeigt die Bemühungen und Erwartungen innerhalb und an die Jugend- und Lebensreformbewegung, den Bedrohungen der Moderne zu trotzen. Hierbei blickt LINZNER auch auf Kontinuitäten bis in die heutige Zeit.

Konferenzübersicht:

Susanne Rappe-Weber (Witzenhausen); Eckart Conze (Marburg): Begrüßung

Karl Braun (Marburg): Zur Einführung

Felix Linzner (Marburg) / Susanne Rappe-Weber (Witzenhausen): Ausstellungseröffnung „Gegen Sumpf und Fäulnis – leuchtender Menschheitsmorgen“

Karl Braun (Marburg): Jugendbewegung, Sexualaufklärung, Sozialhygiene. Das Beispiel Max Hodann (1894 – 1946)

Vanessa Hautmann (Marburg): „Kultiviertes Triebleben“- Sexualität und Geschlechtlichkeit in der Zeitschrift Der Anfang

Sven Reiss (Kiel): „Renaissance des Eros paidikos“ – erotische/sexuelle Leitbilder und Alltagspraxen in der Jugendbewegung

Uwe Puschner (Berlin): Arbeit am völkischen Körper. Gustav Simons und Richard Ungewitter: Lebensreformer und völkische Ideologieagenten

Felix Linzner (Marburg): „Freie Liebe oder Zucht“ – Friedrich Lamberty zwischen jugendbewegter Selbst- und völkischer Aufzucht

John Khairi-Taraki (Marburg): Gegen Fremdkörper und Fremdherrscher im eigenen Reich. Körperdenken bei Hans Paasche und Herman Popert

Christina Niehm (Mainz): Körperkultur, Jugendbewegung und Volkskunde – zum Engagement des Verlegers Eugen Diederichs

Mehret Fehlmann (Zürich): Zwischen nostalgischer Sehnsucht und matriarchalen Gesellschaftsentwürfen – Bachofen-Rezeption in Lebensreform und Jugendbewegung

Gabriele Guerra (Rom): Führung und Befreiung des Körpers. Gustav Wyneken und die Freie Schulgemeinde Wickersdorf 1906 – 1920.

Meike Sophia Baader (Hildesheim): Der kindliche und jugendliche Körper in der Perspektive von (Land-) Erziehung, Reformpädagogik und Fürsorgewesen um 1900

Jürgen Reulecke (Essen): Abschlussdiskussion


Editors Information
Published on
Contributor
Classification
Regional Classification
Additional Informations
Country Event
Conf. Language(s)
German
Language