In einer konzentrierten Workshop-Atmosphäre besprachen die circa 20 Teilnehmer/innen intensiv und aus unterschiedlichen Disziplinen und Perspektiven die Veränderungen des Schreibens, Lesens, Publizierens und Verwaltens von digitalen wissenschaftlichen Werken. Ein zentraler Punkt war dabei immer wieder das Prinzip des Open Access und seine wissenschaftlichen und ökonomischen Konsequenzen für die Zugänglichmachung, Institutionalisierung, Incentivierung und Archivierung.
Die Übersetzerin und Lektorin FRIEDERIKE MOLDENHAUER (Hamburg) präsentierte ihren Berufsstand und dessen teils sträfliche Vernachlässigung im Alltag des Verlagswesens. In Sach- und Fachbuchlektoraten finde nur die sprachliche Glättung, Vereinheitlichung und stilistische Überarbeitung statt; ein explizites Fachlektorat werde nicht gewünscht (oder jedenfalls nicht bezahlt). Dabei sei das Lektorat eine der wenigen Leistungen, die das Verlagswesen genuin anbieten könne.
ANNE BAILLOT (Berlin) stellte Möglichkeiten vor, wie digitales kollaboratives Schreiben die genialische Autorschaft dekonstruieren helfen könne, indem auch Beiträgerschaften (Rollen etwa als Ideengeber/in, Korrektor/in et cetera) und Versionierungen transparent würden. Angesichts radikal kollaborativer Systeme wie etwa Wikipedia müssten allerdings neue Reputationsformen des wissenschaftlichen Publizierens entwickelt werden, weil kein/e Autor/in mehr die alleinige Verantwortung für einen Text beanspruchen könne.
Verschiedene Beispiele kollaborativer Textkritik brachte ALEXANDER NEBRIG (Heidelberg) mit der Frage in Verbindung, wie Laien mit wissenschaftlichen Fragen umgingen und zur Genese neuer Korpora beitrügen. Zwei der besprochenen Beispiele waren das Projekt „Annotate the world“1 sowie das Projekt „Rap Genius“2. Nebrig betonte, dass bei solchen digitalen Projekten das Interesse wirtschaftlicher Verwertbarkeit stets mitgedacht werden müsse: so habe Venture Capital natürlich einen anderen Fokus als die Philologie.
Genau diese Verbindung von Wissenschaft und Wirtschaft präsentierte ALEXANDER GROSSMANN (Leipzig / Berlin) mit seinem Unternehmen scienceopen.com.3 Die Plattform versuche, den Zugriff auf wissenschaftliche Publikationen zu vereinfachen, die Versionierung wissenschaftlicher Artikel transparent zu machen, das wissenschaftliche Peer Review weiterzuentwickeln sowie auch Reviews zur Reputationssteigerung zu nutzen. Finanziert werde die Seite durch das kostenpflichtige Angebot an Wissenschaftler, selbst auf der Seite zu publizieren.
CONSTANZE BAUMs (Berlin) Video-Vortrag über die Zeitschrift für digitale Geisteswissenschaften4 als Modell für wissenschaftliches Publizieren formulierte den Zwiespalt, dass die Publikation als solche ein dynamischer Beitrag zum Fachdiskurs sei, und damit reaktiv auf und veränderlich durch Kritik sein müsse, aber eben die Verlässlichkeit und Unveränderlichkeit von Publikationen auch ein Qualitätsmerkmal sei. Klares Ergebnis der anschließenden Diskussion war, dass die zersplitterte Projekthaftigkeit des digitalen Publizierens ein grundlegendes Problem ist.
VOLKER OPPMANN (Berlin) stellte sein Unternehmen logos5, das Social Reading ermögliche und auf diese Weise neben kollaborativem Schreiben auch das kollaborative Lesen in den Vordergrund rücke.
BEN KADEN (Berlin) stellte klar, warum im Rahmen des wissenschaftlichen Publizierens auch die Publikation der den Ergebnissen zugrundeliegenden Forschungsdatenbanken notwendig und wichtig sei. Einer derzeit mangelnden Nachfrage stünden die Anforderungen der Datenlieferanten entgegen, die Daten deutlich länger als zehn Jahre zu archivieren. Dabei entstünden neben der Speicherkapazität auch neue Anforderungen wie ein „Datenlektorat“ und die Problematik der Formate und Programme. In der anschließenden Diskussion wurde verdeutlicht, dass verschiedene Disziplinen sehr divergente Vorstellungen davon haben, welche Bereiche Forschungsdaten eigentlich umfassen und wie diese zur Verfügung gestellt werden sollten (3D-Scans von Objekten, Filmdaten et cetera); vom Widerstand zahlreicher Beteiligter gegen die Transparenz der Genese ihrer Forschungsarbeit ganz zu schweigen.
MICHAEL KAISER (Köln) ist ein Historiker, der auch bloggt. Seinen Ausführungen zufolge sei der Blog kein eigenes Genre, sondern würde individuell als Format ausbuchstabiert. Von einem isolierten interessanten Aphorismus bis zu einem entwickelten Gedanken mit Einleitung, Synthese von Bezügen und Zitation böten Blogpostings ein weites Spektrum, Blogs oszillierten dabei zwischen einem genuinen Weg der schnellen Veröffentlichung wissenschaftlicher Ergebnisse für ein breiteres Publikum und einer Art Resterampe für alles, was anderswo nicht verwertbar war; kurz gesagt: der wissenschaftliche Blog sei zwischen einem Medium der Öffentlichkeitsarbeit und einem Ort der Wissenschaftskommunikation anzusiedeln. Die Einschätzung der Teilnehmer/innen zur zukünftigen Entwicklung von Blogs war uneins.
MAREIKE KÖNIG (Paris) leitete die Session zu Reputationsmessung ein und betonte erneut die Bedeutsamkeit der Veröffentlichung gerade für junge Wissenschaftler/innen, als Lernvorgang, was wissenschaftliche Auseinandersetzung eigentlich bedeute. Es sei darum nicht nur eine Frage der Reputation, sondern der Einführung in den wissenschaftlichen Betrieb, wenn Nachwuchswissenschaftler/innen konstruktive Kritik zu Blog-Veröffentlichungen erhielten.
THOMAS ERNST (Amsterdam) sah keinen einfachen Ausweg aus dem Zwiespalt des Umgangs mit (Blind) Peer Reviews: einerseits würden diese als zutiefst mängelbehaftet problematisiert, andererseits gebe es jedoch keine glaubwürdigere Alternative, und verzichten könne man auf die Qualitätssicherung auch nicht.
Die Diskussion beschäftigte sich dann mit der Möglichkeit, Reputation und Impact durch Reviews zu erlangen – wie sähen Replikation und Falsifikationsmechanismen in den einzelnen Disziplinen aus? Zwar basiere das aktuelle Publikationssystem auf den Reviews, aber die Erfahrung zeige: viele Autoren seien nur durch persönliche Kontakte zu den Herausgebern zu bewegen, diese zu verfassen; die Öffnung mittels Open Peer Reviews sei aber noch wenig erfolgversprechend, weil es zu wenig Reputation bringe.
KLAUS MICKUS (Berlin / Berkeley) stellte die Rolle der Großverlage in den Fokus seines Vortrags. Die Existenzberechtigung von Verlagen ergebe sich traditionell aus Qualitätssicherung und Redaktion, Produktion und Vertrieb der hergestellten Werke. In wissenschaftlichen Verlagen noch stärker als anderswo seien aber zentrale Funktionen outgesourct: Herausgebergremien, Redaktionen und Reviews würden von der Wissenschaft gestellt, produziert werde in Asien, und durch Großdeals mit Forschungsverbünden über den digitalen Zugang falle auch ein Großteil des Vertriebs weg. Damit entfalle jegliche Wertschöpfung durch die Verlage selbst, das sei aber noch nicht in der Öffentlichkeit verstanden. Es räche sich darüber hinaus, dass die Verlage die Autoren nie an den Einnahmen beteiligt hätten, da nun die Autoren selbst ohne Schuldbewusstsein illegale Angebote nutzten, wenn die Hochschulen keine Zugänge zur Verfügung stellen könnten. Die Implosion des Geschäftsmodells der internationalen Großverlage, die bei einigen Zeitschriften Renditen von 90 Prozent erreichen, sei vorprogrammiert. Der (goldene Weg des) Open Access perpetuiere die Probleme aktuell nur, weil das wissenschaftliche System nun über Publikationszuschüsse immer noch die Verlage alimentiere, ohne dass diese eine adäquate Wertschöpfung erbrächten.
CHRISTINA RIESENWEBER (Berlin) stellte unterschiedliche Modelle wissenschaftlicher Online-Zeitschriften vor – von der Print-Publikation mit paralleler E-Ausgabe bis zu interdisziplinären Mega-Journals auf Open Access-Basis wie PLOSone.6 Riesenweber konstatierte dabei eine fortschreitende Auflösung des Formats Zeitschrift, ja sogar des Formats Artikel: durch Versionierung und Kommentierung werde die Zeitschrift eher ein Kurationsorgan als eine Aktualitäten abbildende zentrale Kommunikationsplattform einer Disziplin.
EKKEHARD KNÖRER (Berlin) präsentierte die digitale Seite des Geschäftsmodells des Merkur, wobei man von Geschäftsmodell im eigentlichen Sinne nicht sprechen könne: ohne das Mäzenatentum des Mutterverlags Klett-Cotta sei die Zeitschrift nicht zu betreiben (und nie zu betreiben gewesen). Seitdem der Preis pro Artikel gesunken sei, sei der Umsatz gestiegen – Ziel sei die möglichst große Sichtbarkeit der Zeitschrift im Netz, die bei Menschen unter 30 weitgehend unbekannt sei.
LAMBERT HELLER (Hannover) stellte das Projekt der Technischen Informationsbibliothek Hannover vor, Abbildungen aus den STM-Fächern breiter verfügbar zu machen. Durch eine Kooperation mit Wikipedia würden die Sichtbarkeit und auch die Zugriffszahlen massiv erhöht.
ERIC STEINHAUER (Hagen) machte einen unterhaltsamen Ausflug in die Fülle rechtlicher Fragen, die durch die Veränderung der wissenschaftlichen Publikationskultur virulent würden – vom Urheberrecht über das Nutzungsrecht zum Persönlichkeitsrecht und Zweitveröffentlichungsrecht. Auch hier wurde die Rolle der Großverlage von Verbreitern zu Verhinderern thematisiert.
Abschließend formulierten die Tagungsteilnehmer/innen die #siggenthesen, die man aufrufen, kommentieren und unterzeichnen kann.7
Konferenzübersicht:
Theorien und Wandel des wissenschaftlichen Publizierens im digitalen Zeitalter
Einführung mit Impulsen durch die Initiatoren
Round-Table-Gespräch über Theorien und Wandel des wissenschaftlichen Publizierens im digitalen Zeitalter
Wissenschaftliche Autorschaft im digitalen Wandel
Friederike Moldenhauer (Lektorin und Übersetzerin, Hamburg): Autorschaft: Schreiben als praktische Disziplin
Anne Baillot (Centre Marc Bloch, Berlin): Autorschaft – gibt es das noch?
Alexander Nebrig (Humboldt Universität Berlin / Universität Heidelberg): Laienphilologie. Formen kollaborativer Textkritik
Alexander Grossmann (Hochschule für Wirtschaft, Technik und Kultur Leipzig): Open Science-Plattformen: Best Practice-Beispiele
Neue Formen, Innovationen und Fragen des digitalen wissenschaftlichen Publizierens
Constanze Baum (Forschungsverbund Marbach Weimar Wolfenbüttel): Die Zeitschrift für digitale Geisteswissenschaften als Modell für digitales wissenschaftliches Publizieren
Volker Oppmann (Geschäftsführer von log.os, Berlin): log.os als wissenschaftliche Plattform
Ben Kaden (Humboldt Universität Berlin): Formen der Publikation von Forschungsdaten und die Ergebnisse des DFG-Projekts Future Publications in the Humanities
Open Review und Reputationsmessung
Michael Kaiser (Universität Köln; wiss. Redakteur von perspectivia.net, Bonn): perspectiva.net: Bloggen als wissenschaftliche Publikationsform
Mareike König (Bibliotheksleiterin und digitale Historikerin am Deutschen historischen Institut Paris; Redaktionsleiterin de.hypotheses.org): Open Peer Review und Reputationsmechanismen
Thomas Ernst (Universität Amsterdam): Open Review, Online-Kommentare und Reputationsmessung digitaler Wissenschaft
Verlage und Geschäftsmodelle des wissenschaftlichen Publizierens im digitalen Zeitalter
Klaus Mickus (Berlin / Berkeley, Consultant content-press KG): Sind Verlage Partner oder Gegner im Produktionsprozess?
Lambert Heller (Leiter des Open Science Lab der Technischen Informationsbibliothek Hannover): Von verstreuten Open-Access-Silos zu einer gemeinsamen kollaborativen Werkbank
Ekkehard Knörer (Redakteur der Zeitschrift Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken): Veröffentlichungs- und Geschäftsmodelle des Merkur in der Digitalisierung
Christina Riesenweber (Open-Access-Beauftragte der Freien Universität Berlin): Modelle wissenschaftlicher Online-Zeitschriften
Rechtliche Fragen des wissenschaftlichen Publizierens im digitalen Zeitalter
Eric Steinhauer (FU Hagen, Dezernent für Medienbearbeitung; Humboldt Universität Berlin): Impuls zu rechtlichen Fragen
Abschlussgespräche
Formulierung der #siggenthesen
Anmerkungen:
1 DLDconference, DLD13 – Annotate the World (Mahbod Moghadam, Ilan Zechory, Tom Lehman), https://www.youtube.com/watch?v=LpvrWdfEUHg (20.03.2017).
2 Rap Genius, https://rap.genius.com (20.03.2017).
3 ScienceOpen.com. research and publishing network, https://www.scienceopen.com (20.03.2017).
4 ZfdG – Zeitschrift für digitale Geisteswissenschaften, http://www.zfdg.de/ (20.03.2017).
5 log.os, https://logos.social (20.03.2017).
6 PLOSone, http://journals.plos.org/plosone/ (20.03.2017).
7 Unterzeichnung unter anderem unter: Der Merkur, Siggener Thesen zum wissenschaftlichen Publizieren im digitalen Zeitalter, 27.10.2016, https://www.merkur-zeitschrift.de/2016/10/24/siggenthesen/ (20.03.2017).