Die Förderung nationaler Minderheiten durch ihre ‚Mutterländer‘ in Mittel- und Osteuropa im 20. und 21. Jahrhundert

Die Förderung nationaler Minderheiten durch ihre ‚Mutterländer‘ in Mittel- und Osteuropa im 20. und 21. Jahrhundert

Organisatoren
Europäisches Netzwerk Erinnerung und Solidarität (ENRS, Warschau); Bundesinstitut für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa (BKGE, Oldenburg); Institut für Auslandsbeziehungen (IfA, Stuttgart)
Ort
Berlin
Land
Deutschland
Vom - Bis
09.11.2016 - 11.11.2016
Url der Konferenzwebsite
Von
Melanie Frank, Universität Augsburg

Vom 9. bis 11. November 2016 veranstalteten das Europäische Netzwerk Erinnerung und Solidarität (ENRS, Warschau), das Bundesinstitut für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa (BKGE, Oldenburg) und das Institut für Auslandsbeziehungen (IfA, Stuttgart) die Konferenz „Die Förderung nationaler Minderheiten durch ihre ‚Mutterländer‘ in Mittel- und Osteuropa im 20. und 21. Jahrhundert“, die in der Vertretung des Freistaates Sachsen beim Bund stattfand. Die Konferenz wurde ermöglicht durch die Kooperation mit sieben weiteren Einrichtungen aus dem In- und Ausland: dem Hohen Kommissar für nationale Minderheiten der OSZE (Den Haag), der Föderalistischen Union Europäischer Nationalitäten (Flensburg), dem Europäischen Zentrum für Minderheitenfragen (Flensburg), dem Institut für internationale Angelegenheiten der Universität Hamburg (Hamburg), dem Institut für Sozialpolitik der Universität Warschau (Warschau), dem Fachbereich Geschichte der Pavol Jozef Šafárik Universität (Košice/Kaschau), und dem Institut für Minderheitenforschung des Zentrums für Sozialwissenschaften der Ungarischen Akademie der Wissenschaften (Budapest).

Um das Thema der Minderheiten und der Minderheitenpolitik im östlichen Europa entsprechend seiner Vielschichtigkeit und nicht abnehmenden Aktualität angemessen zu erfassen, luden die Veranstalter sowohl Repräsentanten europäischer Staaten und internationaler Organisationen, zivilgesellschaftliche Akteure, Vertreter der Wissenschaft als auch der Minderheitenorganisationen aus Mittel- und Osteuropa ein. Die vielfältigen Formate der Konferenz ermöglichten einen multidisziplinären und multiperspektivischen Austausch über Instrumente, Akteure und rechtliche Standards der Minderheitenpolitik. Dem wissenschaftlichen Wert der Tagung kam die klare Eingrenzung des Untersuchungszeitraums auf die Zeit nach 1989, die geografische Eingrenzung auf Mittel-, Ost- und Südosteuropa sowie die thematische Eingrenzung auf die Förderung der nationalen Minderheiten durch ihre ‚Mutterländer‘ zugute. Auf diese Weise konnten die Vertreter der Fächer Ethnologie, Sprachwissenschaft, Politikwissenschaft, Soziologie, Geografie, Rechtswissenschaft und Geschichte ihre Forschungsergebnisse zu (vergleichenden) Fallstudien, gesamteuropäischen Standards, historischen Referenzen und politischen Instrumenten in Verbindung mit einer ergiebigen Diskussion präsentieren.

Der Hauptveranstaltung war am Vormittag des 9. Novembers ein Workshop für Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler zu „Historischen, aktuellen und künftigen Themen“ vorangegangen. Geleitet wurde der Workshop von DAGMAR RICHTER (Heidelberg). Es nahmen sieben Wissenschaftlerinnen aus Großbritannien, Deutschland, Ungarn und Rumänien mit den Fachrichtungen Europäische Ethnologie, Geschichte, Politikwissenschaft, Rechtswissenschaft und Soziologie teil. Die Vorträge der Nachwuchswissenschaftlerinnen behandelten Themen, die in den nachfolgenden Konferenzpanels kontrovers diskutiert wurden, wie etwa die Konsequenzen neuer Medien für die Standards und Praktiken der europäischen Minderheitenpolitik und der Legitimität unilateraler Ansätze in der Minderheitenpolitik mancher ‚kin-states‘ (‚Mutterländer‘).

In ihren Eröffnungsreden betonten der Vorsitzende des Lenkungsausschusses des Europäischen Netzwerks Erinnerung und Solidarität JAN RYDEL (Warschau), der Sonderbeauftragte der Bundesregierung für den deutschen OSZE-Vorsitz 2016, GERNOT ERLER (Berlin), der Repräsentant des Hohen Kommissars für nationale Minderheiten der OSZE, BOB DEEN (Den Haag), der Beauftragte der Bundesregierung für Aussiedlerfragen und nationale Minderheiten, HARTMUT KOSCHYK (Berlin) und der Gruppenleiter „Geschichte, Erinnerung“ bei der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien, ANSGAR HOLLAH (Berlin), die besondere Position der nationalen Minderheiten. Zum einen könnten nationale Minderheiten die Rolle eines Brückenbauers innerhalb eines Staates, aber auch zwischen ihrem jeweiligen ‚Heimatstaat‘ und dem ‚Mutterland‘ einnehmen. Zum anderen seien sie nach wie vor der Gefahr ausgesetzt, für nationalistische Politiken sowohl seitens des ‚Mutterlandes‘ als auch ihres ‚Heimatstaates‘ instrumentalisiert zu werden. Die besondere Situation der nationalen Minderheiten ergibt sich aus ihrer Position innerhalb des von dem US-Soziologen Rogers Brubaker eingeführten und während der Tagung häufig zitierten „triadic nexus“. In einem als Dreieck darstellbaren Beziehungszusammenhang verfolgen die Minderheiten, ihre ‚Heimatstaaten‘ und die ‚Mutterländer‘ der Minderheiten jeweils eigene, oft konkurrierende Interessen.

GERALD VOLKMER (Oldenburg) erinnerte in der Einführung zur Tagung daran, dass der Begriff der „nationalen Minderheiten“ ein moderner Begriff sei, der nicht über die Vielfalt sprachlicher und kultureller Minderheiten hinwegtäuschen dürfe. Die Organisatoren hatten es sich daher zur Aufgabe gemacht, die Vielschichtigkeit der Thematik durch einen multidisziplinären und multiperspektivischen Ansatz abzubilden.

Der Eröffnungsvortrag thematisierte den historischen Rahmen der aktuellen Minderheitenpolitik und legte so eine wichtige gemeinsame Grundlage für die kommenden Beiträge, die sich auf einen Untersuchungszeitraum nach 1989 konzentrierten. JENNIFER JACKSON-PREECE (London) konnte zeigen, dass nach 1919 die Rechte nationaler Minderheiten, die durch bi- und multilaterale Abkommen zwischen den Mitgliedstaaten des Völkerbundes geschützt werden sollten, dem aktuellen Stand der Institutionalisierung der Menschenrechte weitgehend entsprachen. Vor dem Hintergrund der schlechten zwischenstaatlichen Beziehungen sei es zu einer Instrumentalisierung der nationalen Minderheiten gekommen, die den Regierungen als vermeintlicher Grund für eine aggressive Außenpolitik und eine repressive Innenpolitik dienten. Jackson-Preece schloss daher mit dem Fazit, dass es gerade vor dem Hintergrund neu aufkommender und an Stärke gewinnender populistischer Strömungen wichtig sei, auf die Einhaltung rechtlicher Standards durch die Mitgliedsstaaten des Europarates und der OSZE zu achten, um vor allem gesellschaftliche Vielfalt erhalten zu können.

Seit dem Zweiten Weltkrieg wurde eine Vielzahl bilateraler Verträge mit Klauseln zum Minderheitenschutz abgeschlossen sowie mit dem Europarat, der OSZE und – im geringeren Maße – mit der EU eine multilaterale Ebene des Minderheitenschutzes geschaffen. Der erste Konferenztag schloss mit einer Podiumsdiskussion, moderiert von STEPHAN EISEL (Bonn), bei der die Gäste auf dem Podium und das Publikum die Bedeutung dieser multi- und bilateralen Ansätze in der Minderheitenpolitik und ihr Verhältnis zueinander diskutierten. Im Vordergrund der Diskussion zwischen GRZEGORZ JANUSZ (Lublin), STEFAN OETER (Hamburg) und PETRA ROTER (Ljubljana/Laibach) standen vor allem Fragen nach dem Verhältnis dieser beiden Ebenen zueinander und, in Bezug auf die multilaterale Ebene, Fragen zur Durchsetzbarkeit internationaler Abkommen. Janusz führte zum Ersteren aus, dass in den bilateralen Verträgen zwischen zwei Staaten das Potential liege, spezifische Bedingungen der Kultur, Sprache und Religion der betreffenden Minderheit zu berücksichtigen, die bei gemeinsamen gesamteuropäischen Standards eher in den Hintergrund treten. Oeter unterstrich hingegen, dass auch auf der multilateralen Ebene des Europarats ein enger Praxisbezug gegeben sei und darüber hinaus insbesondere multilaterale Ansätze helfen könnten, Standards des Minderheitenschutzes auf europäischer Ebene voranzutreiben. Das Erreichen dieses Ziels, so Roter, hinge jedoch von folgenden Faktoren ab: Die Minderheiten müssten erstens in Bezug auf die Angelegenheiten, die sie betreffen, teilhaben und zweitens müsse die Gesamtgesellschaft Rahmenbedingungen für die Integration der Minderheiten schaffen, die den Erhalt ihrer Identität sicherstellten. Dies zeige, wie entscheidend der politische Wille bei der Umsetzung des Minderheitenschutzes sei.

Der zweite Konferenztag begann mit der Sektion „Konzepte und Einstellungen“, geleitet von FLORIN ABRAHAM (Bukarest). Inwiefern eine unilaterale Gesetzgebung zugunsten einer ‚eigenen‘ nationalen Minderheit im Ausland auch zu einem Instrument einer friedlichen Minderheitenpolitik werden könne, erläuterte TOVE HANSEN MALLOY (Flensburg) in ihrem Vortrag am Beispiel Rumäniens, das in seinem Minderheitengesetz von 2007 das Prinzip des Vorrangs des internationalen Rechts verankert habe. Die multilateralen Vereinbarungen standen im Zentrum des Vortrags von STEFAN OETER (Hamburg). Er betonte, dass trotz der Vielzahl der verschiedenen Instrumente der Minderheitenpolitik in Europa gemeinsame Ziele, Leitlinien und Standards denkbar seien, die sich schon jetzt in den einschlägigen Konventionen von OSZE und Europarat manifestierten. Ihnen läge ein gemeinsames Verständnis der Ziele des Minderheitenschutzes zugrunde: der Schutz und die Förderung kultureller Diversität als prägendes Merkmal pluralistischer Gesellschaften und moderner Verfassungsstaaten. Im Grunde bedürfe es keiner weiteren Standardsetzung, vielmehr sei die Umsetzung dieser Standards die entscheidende Herausforderung, da sie vom politischen Willen der Vertragsstaaten abhänge.

Die konkrete Ausgestaltung der Förderung nationaler Minderheiten durch ihre ‚Mutterländer‘ illustrierte ZOLTÁN KÁNTOR (Budapest) anhand der Politik Ungarns gegenüber den im Ausland lebenden ungarischen Minderheiten. Das Ziel Ungarns sei es demnach, die Bestrebungen der Heimatstaaten zur Assimilierung der Minderheiten zu kompensieren und die Minderheiten in dem Erhalt ihrer eigenen Sprache und Kultur zu unterstützen sowie eine Gemeinschaft zwischen der Gesellschaft in Ungarn und den ungarischen Minderheiten im Ausland aufzubauen.

Die demografischen Daten, die eine zentrale Grundlage der Minderheitenpolitiken bilden, analysierte KÁROLY KOCSIS (Budapest) in seinem anschließenden Vortrag, in dem er auf die Entstehungsbedingungen der ethno-linguistischen Heterogenität Europas einging und betonte, dass er für das östliche Europa eine weitere Abnahme der Anzahl von Mitgliedern nationaler Minderheiten wie auch der ethnischen Vielfalt insgesamt erwarte, u.a. bedingt durch die hohe Abwanderung aus dem östlichen ins westliche Europa.

In der zweiten Sektion unter Leitung von MARTIN PEKÁR (Košice/Kaschau) standen die Instrumente des Minderheitenschutzes im Vordergrund. KYRIAKI TOPIDI (Luzern) thematisierte die doppelte Staatsbürgerschaft – kein klassisches Instrument des Minderheitenschutzes. Mit Rückgriff auf Benedict Andersons Begriff der „imagined communities“ führte Topidi aus, dass auch die Minderheiten als essentieller Teil der Gesellschaft mehrerer Länder gelten könnten und eine Institutionalisierung multipler Zugehörigkeiten durch die doppelte Staatbürgerschaft dieser Situation Ausdruck verleihe, wobei stets die Auswirkungen auf die zwischenstaatlichen Beziehungen berücksichtigt werden müssten.

Viele Instrumente des Minderheitenschutzes zielen auf Erhalt und Förderung der Minderheitensprachen ab. Im Beitrag von HELMUT GLÜCK (Bamberg), dessen Vortrag von Matthias Weber (Oldenburg) verlesen wurde, ging es um die besondere Relevanz von Sprachrechten und der Verpflichtung der Staaten, die Aufgabe des Spracherhalts und der Weitergabe der jeweiligen Muttersprache nicht allein den Minderheiten zu überlassen. ATTILA PAPP (Budapest) verwies auf strukturelle Benachteiligungen für Schüler mit einer Minderheitensprache als Erstsprache, die ein monolinguales Schulsystem in mehrsprachigen Regionen nach sich ziehe.

In der am Nachmittag stattfindenden Podiumsdiskussion, moderiert von URBAN BECKMANN (Stuttgart), sprachen Vertreter der deutschen Minderheiten bzw. Medien aus dem östlichen Europa. BERNARD GAIDA (Opole/Oppeln), Vorsitzender des Verbandes der deutschen sozial-kulturellen Gesellschaften in Polen, diskutierte mit der Herausgeberin der Moskauer Deutschen Zeitung, OLGA MARTENS (Moskau), und dem Vorsitzenden des Demokratischen Forums der Deutschen in Rumänien, PAUL-JÜRGEN PORR (Sibiu/Hermannstadt). Das Auswärtige Amt war durch den Leiter des für die deutschen Minderheiten im Ausland zuständigen Referats, BETRAM VON MOLTKE (Berlin), vertreten. Die Diskussion machte deutlich, dass die seit 1989 häufig erwähnte „Brückenfunktion“ der Minderheiten innerhalb und auch zwischen den Staaten nur unter bestimmten Bedingungen erfüllt werden könne. Neben der Größe der Minderheit und deren Eigen- und Fremdwahrnehmung spielen auch die medialen Möglichkeiten eine zunehmend wichtige Rolle. Angesprochen wurden die unterschiedlichen Ausgangssituationen in den Ländern betreffend die Unterstützung durch die Heimatstaaten, insbesondere hinsichtlich der finanziellen Ausstattung der Medien oder der ihnen zugewiesenen Sendezeiten.

Der Schwerpunkt der dritten Sektion, geleitet von ADAM WALASZEK (Krakau), war den Akteuren der Minderheitenpolitik gewidmet. PETER A. KRAUS (Augsburg) lenkte den Blick auf Westeuropa. Die Minderheitenkonflikte in Westeuropa unterscheiden sich aus Sicht des Referenten von denen im östlichen Europa dadurch, dass in Westeuropa keine ‚Mutterländer‘ der Minderheiten außerhalb des Staates, in dem sie leben, existierten. Der Referent plädierte für Lösungen, die die Forderungen der Minderheiten nach einer umfassenderen politischen Autonomie und mehr Entscheidungsmacht über ihre eigenen Angelegenheiten stärker berücksichtigen. Dass sich die Situation der Minderheiten im östlichen Europa mit einem stark involvierten ‚Mutterland‘ von der Konstellation in Westeuropa unterscheidet, zeigte ANDRIS SPRUDS (Riga) in seinem Vortrag zu den Beziehungen zwischen Russland und den Baltischen Staaten. Anhand des von Joseph Nye geprägten Begriffs der „soft power“ beschrieb Spruds, dass Russland Instrumente zur Verfügung stünden, um die politischen Einstellungen der großen russischsprachigen Minderheiten, vor allem in Lettland, zu beeinflussen.

Das aktuelle krisenhafte Moment in Europa spielte auch in dem Abendvortrag „Perspektiven und aktuelle Forschungen“ von KARL CORDELL (Plymouth) eine Rolle. Cordell verband sozialkonstruktivistische Perspektiven mit einem Blick auf die aktuellen Mehrheits- und Minderheitengemeinschaften in Europa, insbesondere die fremdenfeindlichen Stimmungen in vielen europäischen Ländern.

Auch die erste Sektion am letzten Konferenztag beschäftigte sich unter der Leitung von PAWEŁ HUT (Warschau) mit den Akteuren der Minderheitenpolitik. CEZARY ŻOŁĘDOWSKI (Warschau) schilderte die Situation der polnischen Minderheiten in Weißrussland, der Ukraine und in Litauen, die er miteinander verglich. Insgesamt stehe für die polnische Regierung die Unterstützung der polnischen Minderheiten in diesen Ländern hinter dem Ziel zurück, gute Beziehungen mit diesen drei Staaten zu pflegen.

Als eine Kontrastfolie wurde anschließend die Situation der Roma, einer Minderheit ohne ‚kin-state‘ (‚Mutterland‘), herangezogen. DIETER W. HALWACHS (Graz) zeigte, dass es bereits in den Definitionen des Europarats „Roma and Travellers“ an einer Auseinandersetzung mit den ethnischen Gruppen, ihren Sprachen und Kulturen, die unter diesen Begriffen subsummiert würden, fehle. Eine Analyse, inwiefern die Heimatstaaten der Roma ihren Verpflichtungen in Bezug auf die Umsetzung der Instrumente des Europarates zum Schutz vor Diskriminierung nachkommen, zeige, so Halwachs, dass bestenfalls von einer partiellen Anerkennung der Rechte der Roma, nicht jedoch von einem Schutz vor Diskriminierung gesprochen werden könne.

Auf der abschließenden Podiumsdiskussion zum Thema „Potentielle Diskrepanzen zwischen Zielen und Auswirkungen der Minderheitenförderung“, moderiert von ROBERT SCHWARTZ (Bonn), diskutierten BERND FABRITIUS (Berlin), RAINER HOFMANN (Frankfurt am Main), JAN VARŠO (Bratislava/Pressburg) und LORANT VINCZE (Flensburg). Als ein zentrales Ziel moderner Minderheitenpolitik nannte Hofmann die Förderung einer integrierten Gesellschaft im Heimatland der Minderheiten. Vor dem Hintergrund dieses Ziels sei jegliche post-imperiale Einmischung in die Angelegenheiten eines anderen Staates kritisch zu bewerten. Entscheidend sei, ob ein genuiner Wille, die Minderheit zu schützen und zu fördern, bestehe. Jeder Ansatz einer Minderheitenpolitik müsse grundsätzlich im Interesse der Minderheiten sein. Varšo fügte dem hinzu, dass neben den Beziehungen zwischen der nationalen Minderheit, der Mehrheitsgesellschaft und dem ‚Mutterland‘ der Minderheit stets auch die Beachtung des internationalen Rechts im Vordergrund stehen sollte. Fabritius betonte, dass in erster Linie der Minderheitenschutz auf der Grundlage des nationalen Rechts in den Heimatstaaten greifen müsse. Die Förderung nationaler Minderheiten durch ihre ‚Mutterländer‘ könne nur ein ergänzendes Mittel darstellen, das so gewählt werden sollte, dass es sich nicht negativ auf das Verhältnis zwischen Minderheit und Mehrheitsgesellschaft bzw. Heimatstaat auswirke. Mit Blick auf die Ebene der EU machten die Diskutanten deutlich, dass hier ein bedeutendes Potential für einen multilateralen Minderheitenschutz vorhanden sei, der jedoch bislang von Frankreich oder Griechenland verhindert worden sei. „Der monokulturelle Staat darf nicht die Zukunft Europas werden“, schloss Hofmann.

Die Tagung bot eine abwechslungsreiche Auswahl an Formaten, die wichtige Erkenntnisse über Voraussetzungen und Ziele eines nachhaltigen Minderheitenschutzes vermittelten. Als eines der wichtigsten Potentiale eines verantwortungsvollen Schutzes der Minderheiten wurde neben der bereits in den Eröffnungsreden angesprochenen Erhaltung friedlicher zwischenstaatlicher Beziehungen die Bewahrung der kulturellen und sprachlichen Vielfalt herausgearbeitet. Als Forschungsdesiderat wurde weiterhin die Frage ausgewiesen, wie Staaten die ‚eigene‘ nationale Minderheit im Ausland unterstützen könnten, ohne die Beziehungen zum Heimatstaat der Minderheit zu gefährden, zumal wenn sich die Regierung im Heimatland zunehmend autoritärer Mittel bediene. Die aktuellen Forschungsdesiderata verdeutlichen einmal mehr die besondere Situation der nationalen Minderheiten in Mittel- und Osteuropa, die durch das Aufeinandertreffen der Interessen der Minderheiten, der ‚Mutterländer‘ und der Heimatstaaten komplexe Fragen aufwirft.

Konferenzübersicht:

Workshop für Nachwuchswissenschaftler/innen:
„Historische, aktuelle und künftige Themen“
Dagmar Richter (Professorin an der Universität Heidelberg): Leitung und Einführung,
Gerald Volkmer (Stellvertretender Direktor des Bundesinstituts für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa, Oldenburg): Begrüßung,
Fatma Resit (Universität Hamburg): Die Verpflichtungen der Vertragsstaaten der Europäischen Charta der Regional- oder Minderheitensprachen hinsichtlich der neuen Medien. Die Auswirkungen der technologischen Entwicklungen auf die Bestimmungen der Europäischen Sprachencharta,
Marta Lorimer (London School of Economics and Political Science): From “Nation Europe” to “Brussels”: Europe from the Far Right perspective,
Melanie Frank (Universität Augsburg): Latvia's Language Policy and its Implementation in Riga: Meanings, Interpretations, and Conflicts,
Katharina Schuchardt (Universität Kiel): Minderheit als ΄agency΄ – Zur Nutzbarmachung von Minderheit in regionalen Kontexten,
Eszter Herner-Kovács (Institut für Minderheitenforschung, Ungarische Akademie der Wissenschaften, Budapest): Diaspora policy as a facet of Hungarian kin-state politics,
Măriuca O. Constantin (Staatliche Universität für Politikwissenschaft und Öffentliche Verwaltung, Bukarest): Justice and Diversity in Romania. The cultural defense in the jurisprudence concerning child marriage in Roma communities,
Adriana Cupcea (Rumänisches Institut für die Erforschung nationaler Minderheiten, Cluj-Napoca/Klausenburg): Turkey kin-state policies in the Balkans. A case study on the Muslim Community from Dobruja/Romania.

Eröffnung der Konferenz
Jan Rydel (Vorsitzender des Lenkungsausschusses des Europäischen Netzwerks Erinnerung und Solidarität, Warschau),
Bob Deen (Sektionsleiter im Amt des Hohen Kommissars für nationale Minderheiten der OSZE, Den Haag),
Gernot Erler MdB (Sonderbeauftragter der Bundesregierung für den deutschen OSZE-Vorsitz 2016, Auswärtiges Amt, Berlin),
Hartmut Koschyk MdB (Beauftragter der Bundesregierung für Aussiedlerfragen und nationale Minderheiten, Berlin),
Ansgar Hollah (Gruppenleiter „Geschichte, Erinnerung“ bei der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien, Berlin),
Moderation: Markus Meckel (Vorsitzender des Kuratoriums des Europäischen Netzwerks Erinnerung und Solidarität, Berlin).

Einführung:
Gerald Volkmer (Stellvertretender Direktor des Bundesinstituts für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa, Oldenburg).
Eröffnungsvortrag:
Jennifer Jackson-Preece (Associate Professor, London School of Economics and Political Science): Der historische Hintergrund aktueller Minderheitenpolitik.

Podiumsdiskussion: Multi- und bilaterale Ansätze in der Minderheitenförderung
Moderation: Stephan Eisel (Mitglied des Kuratoriums des Europäischen Netzwerks Erinnerung und Solidarität, Bonn)

Teilnehmer:
Grzegorz Janusz (Professor an der Universität UMSC, Lublin)
Stefan Oeter (Professor an der Universität Hamburg; Stellvertretender Vorsitzender des Unabhängigen Expertenkomitees des Europarates für die Europäische Charta der Regional- und Minderheitensprachen)
Petra Roter (Professorin an der Universität Ljubljana/Laibach; Präsidentin des Beratenden Ausschusses zum Rahmenübereinkommen des Europarats zum Schutz nationaler Minderheiten)

1. Sektion: Konzepte und Einstellungen
Sektionsleitung: Florin Abraham (Mitglied des Lenkungsausschusses des Europäischen Netzwerks Erinnerung und Solidarität, Bukarest)

Stefan Oeter (Professor an der Universität Hamburg): Richtlinien, Ziele und Standards in der Minderheitenpolitik

Tove Hansen Malloy (Direktorin des Europäischen Zentrums für Minderheitenfragen, Flensburg; Mitglied des Beratenden Ausschusses zum Rahmenübereinkommen des Europarats zum Schutz nationaler Minderheiten): Europäisches Minderheitenrecht: Unilaterale Gesetzgebung zugunsten ‚eigener‘ nationaler Minderheiten im Ausland

Zoltán Kántor (Direktor des Forschungsinstituts für die im Ausland lebenden Ungarn, Budapest): Förderpolitische Ansätze zugunsten ‚eigener‘ nationaler Minderheiten im Ausland – Theorie und Praxis

Károly Kocsis (Direktor des Geographischen Instituts, Ungarische Akademie der Wissenschaften, Budapest): Europas ethnische Landkarte

2. Sektion: Instrumente und ihre Anwendung
Sektionsleitung: Martin Pekár (Dozent an der Universität Košice/Kaschau)

Kyriaki Topidi (Senior Lecturer, Universität Luzern): Doppelte Staatsbürgerschaft

Helmut Glück (Professor em. an der Universität Bamberg): Sprache und Identität – Historische und aktuelle Aspekte [Referat verlesen von Matthias Weber (Direktor des Bundesinstituts für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa, Oldenburg)]

Attila Papp (Direktor des Instituts für Minderheitenforschung, Ungarische Akademie der Wissenschaften, Budapest): Bildung – Historische und aktuelle Aspekte

Podiumsdiskussion: Deutsche Minderheiten und ihre Medien
Moderation: Urban Beckmann (Leiter der Abteilung „Dialoge“, Institut für Auslandsbeziehungen, Stuttgart)

Teilnehmer:
Bernard Gaida (Vorsitzender des Verbandes der deutschen sozial-kulturellen Gesellschaften in Polen, Opole/Oppeln)
Olga Martens (Vizepräsidentin des Internationalen Verbandes der deutschen Kultur, Moskau)
Paul-Jürgen Porr (Vorsitzender des Demokratischen Forums der Deutschen in Rumänien, Sibiu/Hermannstadt)
Bertram von Moltke (Leiter des Referates 601 des Auswärtigen Amtes, Berlin)

3. Sektion: Akteure I
Sektionsleitung: Adam Walaszek (Professor an der Universität Krakau)

Peter A. Kraus (Professor an der Universität Augsburg): Zwischen Autonomiebestimmungen und Souveränitätsansprüchen: Minderheitenpolitik im gegenwärtigen Europa

Andris Spruds (Direktor des Lettischen Instituts für Internationale Angelegenheiten, Riga): Russland und die Baltischen Staaten: Ein „Soft power“-Ansatz

Abendvortrag:
Karl Cordell (Professor an der Universität Plymouth): Perspektiven und aktuelle Forschungen

4. Sektion: Akteure II
Sektionsleitung: Paweł Hut (Dozent an der Universität Warschau)

Cezary Żołędowski (Professor an der Universität Warschau): Polnische Minderheiten im post-jagiellonischen Raum

Dieter W. Halwachs (Professor an der Universität Graz): Minderheit ohne ‚Mutterland‘: Roma in Mittel- und Osteuropa

Podiumsdiskussion: Potentielle Diskrepanzen zwischen Zielen und Auswirkungen der Minderheitenförderung
Moderation: Robert Schwartz (Redaktionsleiter bei der Deutschen Welle, Bonn)

Teilnehmer:
Bernd Fabritius MdB (Vorsitzender des Unterausschusses für Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik des Deutschen Bundestages; Präsident des Bundes der Vertriebenen, Berlin)
Rainer Hofmann (Professor an der Universität Frankfurt am Main; Mitglied des Verwaltungsausschusses und des Exekutivausschusses der Agentur für Grundrechte der Europäischen Union, Wien)
Ján Varšo (Präsident des Regierungsamtes für die im Ausland lebenden Slowaken, Bratislava/Pressburg)
Loránt Vincze (Präsident der Föderalistischen Union Europäischer Nationalitäten, Flensburg und Brüssel)


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