Satt und gesund? Ernährungskonzepte und -praktiken vom 13. bis 18. Jahrhundert

Satt und gesund? Ernährungskonzepte und -praktiken vom 13. bis 18. Jahrhundert

Organisatoren
Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung, Stuttgart
Ort
Stuttgart
Land
Deutschland
Vom - Bis
24.11.2016 - 25.11.2016
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Von
Anne Phieler, Stuttgart

Am 24. und 25. November 2016 fand im Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung in Stuttgart der 15. Arbeitskreis zur Sozialgeschichte der Medizin statt. Das Thema war Satt und gesund? Ernährungskonzepte und -praktiken vom 13. bis 18. Jahrhundert. Als Teil der sex non naturales war die Ernährung ein wichtiger Bestandteil für die Aufrechterhaltung der Gesundheit und die Genesung im Krankheitsfall. In neun Vorträgen wurde aufgezeigt, wie unterschiedliche Ernährungskonzepte und Speisevorschriften von verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen aussahen und welche Spannungen in der praktischen Umsetzung auftraten.

Die erste Sektion konzentrierte sich auf den Zusammenhang von Religion und Ernährung. ULRIKE TREUSCH (Gießen) skizzierte die Diskussion um den Genuss von Fleisch und Fisch in den Benediktiner-Klöstern nördlich der Alpen. Die in Monte Cassino entstandenen Benediktiner-Regeln sahen für die Mönche eine überwiegend vegetabile Ernährung mit Ausnahme des Genusses von Geflügel vor. Weitere Ausnahmen wurden nur Kranken und Schwachen gewährt. Diese Form der asketischen Ernährung war Teil eines theologischen Gesamtkonzeptes. Besonders der Fleischverzicht sollte das Ideal der geistigen Reinheit und der damit verbundenen Keuschheit fördern. Während der zwischen dem 13. und 16. Jahrhundert stattgefundenen Reformbewegung wurde um eben diesen Fleischverzicht gestritten. Die Reformer strebten einen kompletten Ausschluss tierischer Produkte an. In der Schweiz gipfelte die Auseinandersetzung 1522 im demonstrativen Fleischverzehr während des Züricher Wurstessens am ersten Fastensonntag.

Im Anschluss beschrieb VERA FASSHAUER (Frankfurt am Main) die diätetische Selbstdisziplinierung Johann Christian Senckenbergs. Der Frankfurter radikalpietistische Arzt des 18. Jahrhunderts beschrieb in seinen ärztlichen und nichtärztlichen Tagebüchern eine enge Verbindung von Ernährung und Religion. Faßhauer sieht in den Quellen ein Instrument zur Selbsterkenntnis. In den Augen Senckenbergs bedingten sich geistige und körperliche Gesundheit gegenseitig, so dass Krankheit vor allem durch strenge Enthaltsamkeit und Glaube geheilt wurden. Der Körper sei als Gottesgeschenk zu betrachten und der Mensch zu einem gesunden und damit gottgefälligen Leben anzuhalten. Seine eigene strenge diätetische und religiöse Selbstdisziplinierung sowie Fallstudien wurden zum Maßstab für die Beurteilung seiner Patienten.

Dem Zusammenhang zwischen Gelehrsamkeit und Ernährung widmete sich die zweite Sektion. FRANK URSIN (Ulm) untersuchte die 1768 erschiene Schrift Tissots Von der Gesundheit des Gelehrten auf antike Vorbilder. So griff Tissot unter anderem auf Celsus zurück und verknüpfte dies mit zeitgenössischen Vorstellungen der Iatrophysik. Ziel seiner Schrift war die Aufrechterhaltung der Lebensform des Gelehrten, denn bei überwiegend sitzender Studiertätigkeit drohe die Gelehrtenkrankheit. Tissot verknüpfte in seinem Behandlungskonzept die Förderung der körperlichen mit der geistigen Gesundheit und suchte die Gelehrtenkrankheit unter anderem mit Bädern, Massagen, Gärtnern oder Sex als körperliche Anregungen zu behandeln. Beschlossen wurde die Sektion von BARBARA ORLAND (Basel), die sich auf die Milch-Diätetik im Krankheitsfall konzentrierte. Kuren, bei denen lange und viel Milch getrunken wurde, waren im 17. und 18. Jahrhundert eine mögliche Therapie bei Podagra, Schwindsucht und Skorbut; aber auch seelische Unruhe und lues venera versuchte man damit zu kurieren. Basis dafür waren neue Entdeckungen des 16. Jahrhunderts. 1622 beschrieb der Chirurg Gaspare Aselli die sogenannten ‚Milchvenen‘ (Lymphgefäße). Desweiteren entstand Mitte des 17. Jahrhunderts im niederländischen Leiden das Konzept der oeconomia animalis, das die Ernährung nun nach mechanischen Konzepten erklärte. Herman Boerhaave schließlich vertrat die Theorie, dass der gesamte Körper Milch als eigenen Saft bildet, vom dem der Mensch lebe. Ein Ungleichgewicht sei also mit solchen Milchkuren zu beheben.

ANNE PHIELER (Stuttgart) beschäftigte sich mit dem Trinkverhalten des Augsburger Kaufmanns Hans Fugger. Als Nahrungsmittel kam besonders dem Wein eine besondere Stellung in seiner täglichen Flüssigkeitsaufnahme zu. In seiner umfangreich überlieferten Korrespondenz artikulierte Fugger immer wieder Abstinenz- und Mäßigkeitsbestrebungen. Besonders konsequent war er im Krankheitsfall: bei Husten, Magenschmerzen oder geschwollenen Füßen verzichtete er immer auf seinen geliebten Wein. Dies war außergewöhnlich, war Wein doch im 16. Jahrhundert eine übliche Arznei und wurde auch im Hause Fugger für kranke Angestellte geordert. Anders als seine Korrespondenzpartner trug er sein Trinkverhalten nicht missionarisch nach außen.

MATHIAS SCHMIDT (Aachen) konzentrierte sich in seinem Vortrag auf den Zusammenhang zwischen Ernährung und Lepra. In der Lepratherapie gab es uneinheitliche Auslegungen der Säftelehre. Der Wundarzt Hans von Gersdorff kannte – anders als noch Galen – vier Lepraarten. Es gab keine konkreten Diätvorschriften zur Heilung, jedoch wurden verschiedene Nahrungsmittel als krankheitsverursachend betrachtet. Umstritten waren Milch und Käse sowie Fleisch. Für das Münsteraner Leprosorium ist für 1558 ein Fleischverbrauch von über 100 kg pro Person überliefert. Diese Angaben ließen sich schwer verallgemeinern, da der Speiseplan solcher Einrichtungen von deren Größe, Lage und Einkommen abhängig war. Die für Leprosorien der Frühen Neuzeit überlieferten Speisepläne zeigen häufig eine der zeitgenössischen Humoralpathologie zuwiderlaufende Ernährung. ISABELL ATZL (Berlin) verknüpfte in ihrem Vortrag Realien und Abbildungen mit Textquellen. Diese Verknüpfung ermöglicht eine Untersuchung der Ernährung kranker Menschen aus Sicht der pflegehistorischen Objektforschung. In Abbildungen von Pflegesituationen ist häufig als Topos die Nahrungsgabe dargestellt. Das Teilen und Geben hat im Sinne der christlichen Nächstenliebe häufig einen stark religiösen Charakter. Objekte, die speziell für die Pflege angefertigt wurden, finden sich erst zum Ende der Frühen Neuzeit. Vorher wurden Alltagsgegenstände umgenutzt. Nur wenige überlieferte Objekte lassen Rückschlüsse auf die verabreichte Nahrung oder die Situation der Verabreichung zu. So fand die Schnabeltasse beispielweise bei absoluter Bewegungsunfähigkeit oder Bewusstseinseintrübung Anwendung. Zur geringeren Belastung wurden häufig Suppen gereicht.

In der Sektion Werkstattberichte sprach SABINE HERRMANN (Göttingen) über die Erfahrungen venezianischer Konsulatsärzte des 15. und 16. Jahrhunderts. Am Stationsort – besonders in der Levante und in Ägypten – beschäftigten sie sich mit landesspezifischen Krankheitsbildern und Botanik. So berichtete der in Ägypten tätige Arzt Prospero Alpini von kühlenden Speisen wie Linsen, Berberitze oder Gurken, die im arabischen Sommer sich bewährten. Neugierig auf die fremde Welt probierte er sogar Opium und Cannabis. CALOS WATZKA (Graz) stellte sein Projekt zur Bedeutung diätetischer Affekt-Konzepte in Praktiken der ‚geistlichen Medizin‘ vor. Dabei konzentrierte er sich auf den katholischen Klerus in Bayern und Österreich.

Konferenzübersicht:

I Religion und Ernährung

Ulrike Treusch: Fleisch, Fisch oder nur Gemüse? – Speisevorschriften in der Regel Benedikts, ihre Umsetzung und Diskussion (13. – 16. Jh.)
Vera Faßhauer: DEUS mihi major est omnibus mundi deliciis. Religiöse und diätetische Selbstdisziplinierung in den Tagebüchern Johann Christian Senckenbergs

II Gelehrsamkeit und Ernährung

Frank Ursin: Die Gesundheit der Gelehrten in der Frühen Neuzeit. Rezeption antiker Konzepte in Theorie und Praxis
Barbara Orland: Oeconomia animalis: Die (Post-)Cartesische Physiologie und Milch-Diätetik im 17./18. Jahrhundert

III Konsum und Ernährung

Anne Phieler: Viele stürben, insbesondere alle Weintrinker – Gespräche medizinischer Laien über das Weintrinken

IV Krankheit und Ernährung

Mathias Schmidt: Die Ernährung der Bewohner von Leprosien in Spätmittelalter und früher Neuzeit – zwischen therapeutischer Norm und Realität
Isabel Atzl: Krankenteller, Schnabeltasse, Suppenkontrolle. Die Ernährung Kranker aus Sicht der pflegehistorischen Objektforschung

V Werkstattberichte

Sabine Herrmann: Diätetik in der arabischen Volksmedizin nach den Berichten der venezianischen Konsulatsärzte
Carlos Watzka: Gefährliche und/oder heilsame Gefühle. Die Bedeutung deätetischer Affekt-Konzepte in Praktiken der „geistlichen Medizin“ in den frühneuzeitlichen Gesellschaften des süddeutsch-österreichischen Raumes


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