Am 13. Januar 2017 fand die Tagung „Geisteswissenschaften [frage-zeichen]“ in Hamburg statt. Die Organisator/innen Kevin Drews, Ann-Kathrin Hubrich, Sandra Ludwig, Stephan Renker, Friederike Schütt und Andrea Stück sind Mitglieder des Graduiertenkollegs Geisteswissenschaften der Universität Hamburg. Ausgehend von der gegenwärtigen Krise der Geisteswissenschaften war es das Anliegen der Veranstalter/innen „die Form des Denkens als Befragung“ (Derrida) zu hinterfragen. Der Fokus wurde auf den Akt des In-Frage-Stellens gelegt, um eine geisteswissenschaftliche Selbstreflexion anzuregen. Die interdisziplinäre Ausrichtung war notwendige Voraussetzung für die Untersuchung der verschiedenen Facetten von Fraglichkeit als solcher. Dafür bot das Warburg-Haus als Hamburgs „Arena der Wissenschaft“ den idealen Rahmen.
Nach einer thematischen Einführung über die Bedeutung der Fraglichkeit des Fragens durch KEVIN DREWS (Hamburg) war der erste Vortrag mit seiner Zweiteilung an der Grenzlinie zwischen Kunst und Wissenschaft angesiedelt. Zuerst las MAJA LINKE (Weimar) Abschnitte aus ihrer Dissertation vor, die bis auf die Einleitung aus 943 Fragen besteht. Diese Reihe aus Fragen, eine Art Performance praktischen Fragens, war Ausdruck einer künstlerischen Forschung zur Gewalt von Sprache und eine Hinführung zu ihrem Kritikkonzept der „Aisthetischen Unfügsamkeit“. Im zweiten Teil des Beitrags ging sie auf diesen Begriff näher ein, indem sie eine materielle Fragepraxis vorschlug, die sich eindeutiger Beantwortbarkeit entziehe und gleichzeitig das Gespräch nicht unterbreche. Kern ihres Projekts ist die Frage, ob es möglich ist, Fragen nicht mit einer endgültigen Antwort zu beenden.
Anschließend beschäftigte sich LORINA BUHR (Erfurt) mit Politik und Ästhetik der Fragerichtung der „ontologischen Wende“. Das breite Spektrum dieses Phänomens wurde anschaulich dargestellt, indem verschiedene Ansätze aus dem Kräftefeld dieser geistes- und kulturwissenschaftlichen Wende, grafisch miteinander in Verbindung gebracht wurden. Dabei ging es um die Verhältnisbestimmung von Begrifflichem und Nichtbegrifflichem, Diskursivem und Nichtdiskursivem, Subjekt(seite) und Welt-/Objekt(seite), die zu einer Priorisierung des einen über das andere führt. Die Politik der Fragerichtung über einen bestimmten Gegenstand impliziert dabei stets eine Ästhetik des Gesichteten und des Abgeblendeten. Damit zeigte die Referentin auf, dass innerhalb der aktuellen „ontologischen Wende“ das Pendel der Fragerichtungen und Untersuchungen in die Richtung des Objektiven neigt, wie es auch von Doris Bachmann-Medick beobachtet wird.
Nach der Kaffeepause standen romanische Skulpturen im Fokus. Anhand von mehreren Abbildungen ornamentaler, romanischer Kapitelle thematisierte JOHANNES VINCENT KNECHT (Berlin) die Ambivalenz der Wahrnehmungszustände als methodische Herausforderung. Es wurde eindrücklich gezeigt, wie die präsentierten Skulpturen aufgrund ihrer spezifischen Machart sowohl als ornamentale Natur als auch als physiognomische Linien mit figürlichem Sinn wahrgenommen werden können. Am Beispiel dieser Evidenz, die zwar unmittelbar greifbar, letztlich aber unbeweisbar ist, wurden Möglichkeiten und Grenzen einer solchen Spekulation auch in der abschließenden Diskussion abgewogen.
Im Vortrag von FRIEDERIKE SCHRUHL (Göttingen) wurden die eindimensionalen Diskurse über Geisteswissenschaften und Digital Humanities, wie sie seit Jahrzehnten vielerorts in den Feuilletons kursieren, beiseitegelassen, um sich auf spezifische, geisteswissenschaftliche Praktiken und ihre epistemischen Implikationen zu konzentrieren. Die jeweiligen Herangehensweisen der Digital Humanities und der Geisteswissenschaften, insbesondere der Literaturwissenschaften, wurden analysiert, indem eine Auswahl von Veröffentlichungen nebeneinandergestellt und verglichen wurden. Als auffällig erwies sich in den Publikationen der Digital Humanities eine für den geisteswissenschaftlichen Duktus ungewöhnliche Vielzahl graphischer Darstellungs- und Abbildungsformen, welche die Ergebnisse quantitativer Untersuchungen repräsentieren. Mit diesem Umstand geht die Beobachtung einher, die Ergebnisse der Digital Humanities würden vor allem Mittel zur weiteren Interpretation und Hypothesenbildung zur Verfügung stellen.
Das Nachmittagsprogramm wurde von JENS CRUEGER (Bremen) mit einem Vortrag zur Wissenschaftsgeschichte eröffnet. Dabei wurde die Entwicklung der Archäometrie (Beantwortung archäologischer Fragestellungen mithilfe naturwissenschaftlicher Technologien und Methoden) durch die Einführung der Radiokohlenstoffdatierung in den 1950er-Jahren beschrieben. Dies stellt nicht nur eine Schnittstelle zwischen Altertums- und Naturwissenschaften dar, sondern wandelte die Datierungsmethodik der Archäologie: von relational-chronologischen hin zu absolut-chronologischen Fragestellungen. Anhand des Beispiels der Radiokohlenstoffdatierung wurde der Einfluss der Technologie auf die wissenschaftlichen Fragestellungen aufgezeigt.
BEATE LÖFFLER (Duisburg-Essen) stellte einige Aspekte ihres wissenschaftshistorischen Habilitationsprojekts vor. Die Entwicklung und Ausbildung der Disziplinen Archäologie, Architektur, Kunstgeschichte und Japanologie im späten 19. Jahrhundert wurden skizziert, um die Gründe zu benennen, weshalb die Disziplin der Architektur keine Erwähnung in der japanologischen Kunstgeschichte fand und findet. Dabei spielten die Fragen, die von den Meinungsführern dieser Fächer gestellt oder eben gerade nicht gestellt wurden, eine entscheidende Rolle. Es fiel auf, wie sich die japanischen Strukturen und Gebäude den fachlichen europäischen Kategorien der ersten westlichen Experten entzogen und daher nicht als Architektur anerkannt wurden. Daher erwiesen sich das Fragen und das Nicht-Fragen als Praktiken, die zur Konstruktion (fach)kultureller Identitäten beitragen.
Es folgte ein Tandem-Vortrag von HANNA KAUHAUS (Jena) und SEBASTIAN ENGELMANN (Jena). Gegenstand ihres Beitrags war die Relevanz der Interdisziplinarität für die Entwicklung des kritischen Hinterfragens. Interdisziplinäre Begegnungen schärfen das Bewusstsein der oft selbstverständlichen fachlichen Perspektive und ermöglichen gleichzeitig ein tieferes Verständnis von Interdisziplinarität. Nachdem diese Überlegungen aus bildungstheoretischer Perspektive beleuchtet wurden, folgte ein konkretes Beispiel dafür, wie der interdisziplinäre Ansatz in der Praxis der Forschung fruchtbringend verfolgt werden kann: An der Universität Jena werden interdisziplinäre Trainings für Doktorand/innen und Postdoktorand/innen sowohl aus den Geisteswissenschaften als auch aus den Naturwissenschaften organisiert, um sich mit den facheigenen wie fachfremden Methoden auseinanderzusetzen und eine fachübergreifende, interdisziplinäre Sensibilität/Kultur zu entwickeln.
Die vielfältige Vortragsreihe wurde mit der Keynote von FELIX SPRANG (Siegen) geschlossen, der unter dem Titel „Ich frag’ ja nur – Uneigennütziges Fragen in den Wissenschaften?“ den Modus des wissenschaftlichen Fragens unter einem historischen Ansatz reflektierte. Dabei zeigte sich, wie die aktuellen Diskussionen um die Uneigennützigkeit des wissenschaftlichen Fragens und die Unterscheidung der verschiedenen Disziplinen und Fragestellungen in empirische oder nicht-empirische Wissenschaften Phänomene sind, die ihre Vorläufer in der Wissenschaftsdebatte der frühen Neuzeit finden. Der Vortrag verdeutlichte, wie die Berücksichtigung dieser historischen Bedingungen Voraussetzung für das Verständnis und die Kritik an der heutigen Wissenschaftsdebatte sein muss. Vor dem Hintergrund einer kritischen Genealogie des Paradigmas der Interessenlosigkeit betonte der Vortrag mit Nachdruck, dass geisteswissenschaftliches Arbeiten sich dergestalt über ihr eigenes Selbstverständnis befragen muss, dass es dadurch ein neues kritisches Verhältnis zur Frage des Interesses und der Nützlichkeit zu entwickeln vermag.
Die verschiedenen Beiträge ermöglichten einen Bedeutungsgewinn in den jeweiligen Fachbereichen bei der Reflexion des In-Fragen-Stellens als solchem. Dadurch zeigte sich, wie die Form des Denkens als Befragung wesentlich die Natur der Geistwissenschaften prägt und ausrichtet. Außerdem entstand eine Auseinandersetzung zwischen der jeweiligen vorgeschlagenen Fragerichtung und derjenigen der einzelnen Teilnehmer/innen, die dem Doktorand/innen-Publikum Input zur methodischen Selbstreflexion bot. Ein Beispiel gelungener Interdisziplinarität.
Konferenzübersicht:
Begrüßung
Andrea Stück (Universität Hamburg)
Einführung
Kevin Drews (Universität Hamburg)
Maja Linke (Bauhaus-Universität Weimar): ii, krtk: Nicht mit einer endgültigen Antwort beendet?
Lorina Buhr (Universität Erfurt): Frage-Politiken. Über Politik und Ästhetik der Fragerichtung der gegenwärtigen „ontologischen Wende“
Johannes Vincent Knecht (Freie Universität Berlin): Zu den methodischen Herausforderungen ambivalenter Wahrnehmungszustände am Beispiel romanischer Skulptur
Friederike Schruhl (Georg-August-Universität Göttingen): Digital Humanities und Literaturwissenschaft. Zur Resilienz geisteswissenschaftlicher Praxis
Jens Crueger (Universität Bremen): Die Radiokohlenstoffdatierung – technologiegetriebene Fragestellungen als Motor der Scientific Revolution
Beate Löffler (Universität Duisburg-Essen): Berufsblindheit. Die nicht gestellten Fragen der Architekturgeschichte Japans und wo nach ihnen zu suchen wäre
Hanna Kauhaus / Sebastian Engelmann (Friedrich-Schiller-Universität Jena): Fragen lernen: Zum Zusammenhang von Interdisziplinarität und der Kunst des Fragens
Keynote
Felix Sprang (Universität Siegen): „Ich frag’ ja nur“ – Uneigennütziges Fragen in den Wissenschaften?