Dass die deutsche Zeitgeschichtsforschung die asymmetrisch verflochtenen und parallelen Entwicklungen der Bundesrepublik und DDR gemeinsam in den Blick nehmen sollte, ist eine Forderung, die seit den 1990er-Jahren immer wiederkehrt. Blockübergreifende Studien und insbesondere Darstellungen, die sowohl differenziert argumentieren als auch an ein breiteres Publikum gewandt allgemein verständlich geschrieben sind, bleiben aber selten.
Eine Buchreihe, die von Stefan Creuzberger, Dominik Geppert und Dierk Hoffmann konzipiert wurde und ab 2019 beim Berliner be.bra-Verlag erscheinen wird, soll dazu beitragen, diese Lücke zu schließen und aktuelle Forschungstrends weiter zu entwickeln. In einem frühen Stadium des Projekts organisierten die Herausgeber in den Räumen des Deutschen Historischen Instituts London einen Workshop, um die beteiligten Wissenschaftler/innen zusammenzuführen und eine Plattform für einen Dialog über Fragen, Überlegungen und Konzepte zu Deutungsmustern und Entwicklungen der deutsch-deutschen Geschichte anzubieten. Am 1. und 2. Juni 2017 stellten neun der insgesamt 17 Autoren ihre Forschungsvorhaben und Projektskizzen vor.
In seiner Einleitung betonte DOMINIK GEPPERT (London/Bonn), dass die Forschung die Bundesrepublik und DDR nach wie vor häufig separat betrachte. Das liegt seiner Auffassung zufolge unter anderem an den normativen Deutungsrahmen verschiedener Generationen von Historikern. Die Geschichte der Bundesrepublik sei lange zu einer Erfolgsgeschichte stilisiert worden, welcher die DDR als Negativfolie entgegengehalten wurde. Inzwischen nehme eine jüngere Historikergeneration verstärkt transnationale und globale Aspekte in den Blick und biete für die Erforschung beider deutscher Staaten neue Perspektiven an, die unter anderem das postnationale Selbstverständnis der alten Bundesrepublik und der DDR betreffen. Die Konzepte und theoretischen Überlegungen einer „asymmetrisch verflochtenen Parallelgeschichte“ (Christoph Kleßmann) oder der von Konrad Jarausch ins Spiel gebrachten Vorstellung einer „pluralen Sequenzperspektive“ stießen laut Geppert als integrierende Perspektiven zwar weithin auf Zustimmung, jedoch mangele es an empirischen Ausarbeitungen und Illustrierungen, die „Fleisch auf das theoretische Skelett“ bringen könnten. Es sei ein Anspruch der geplanten Reihe, diesen Mangel zu beheben.
FRANZ-JOSEF MEIERS (Münster) thematisierte die Verhaltensmuster von Abgrenzung und Systemkonkurrenz, Parallelität und Kooperation sowie Verflechtungen der deutsch-deutschen Außenpolitik(en) innerhalb dreier Phasen (1955–1968, 1969–1984 und 1985–1990/91). Er fragte nach deutsch-deutschen Handlungsspielräumen innerhalb der europäischen Sicherheitsordnung und Rüstungskontrolle sowie nach Interessenlagen bei Krisen diesseits und jenseits des „Eisernen Vorhangs“. Ein besonderes Augenmerk richtete er auf Fragen nach strukturellen Gemeinsamkeiten trotz der Systemkonkurrenz und Abhängigkeiten von USA und Sowjetunion. Ungeachtet aller Unterschiede der gesellschaftlichen und politischen Strukturen in West- und Ostdeutschland könne es gerade für die deutsch-deutsche Sicherheitspolitik ähnliche Lösungsansätze gegeben haben, so Meiers‘ Arbeitshypothese.
JÖRG ECHTERNKAMP (Potsdam) widmete sich dem Verhältnis von Militär und Gesellschaft sowie von Militarismus und Pazifismus in Deutschland nach 1945. Eine blockübergreifende Betrachtung des Militärs, welches sich im Spannungsfeld von Autonomie und Heteronomie bewegte, spiegele die Abgrenzungen sowie gegenseitigen Wahrnehmungen und Einflussnahmen wider und gebe sowohl über tatsächliche als auch vermeintliche Bedrohungslagen Auskunft. Zudem verweise ein deutsch-deutscher Blick auf Vorstellungen von Krieg und Frieden indirekt auf die Frage nach der Zugehörigkeit zu einer wie auch immer definierten deutschen Nation. Ein weiterer Aspekt, der Echternkamp beschäftigte, war der Umgang beider deutscher Staaten mit der gemeinsamen militaristischen Vergangenheit, der zwischen Abgrenzung und fortwirkenden Traditionslinien oszilliere. Der sicherheitspolitische Paradigmenwechsel und seine Auswirkung auf die sich neu formierende Bundeswehr nach der Wende bildeten den Schlusspunkt von Echternkamps Überlegungen.
TIM GEIGER (Berlin) nahm die Diplomatiegeschichte in den Blick, insbesondere den Symbol- und Repräsentationsgehalt deutsch-deutscher Gipfeltreffen und Staatsbesuche. Diese hätten Bilder hervorgebracht, die zum festen Bestandteil des kollektiven Gedächtnisses geworden seien. Geiger beleuchtete skizzenhaft fünf Zusammenkünfte von der Ministerpräsidentenkonferenz im Juni 1947, über Willy Brandts und Willi Stophs Begegnungen 1970 in Erfurt und Kassel, Erich Honeckers Besuch in Bonn 1987 bis hin zu Helmut Kohls und Hans Modrows Treffen 1989/90 in Dresden und Bonn. Den Akzent legte Geiger auf die 1970er- und 1980er-Jahre, weil es zwischen 1947 und 1970 keine offiziellen Begegnungen west- und ostdeutscher Spitzenpolitiker gab.
FRIEDER GÜNTHER (Potsdam) nahm eine vergleichende Untersuchung der Verwaltungsstrukturen und -kulturen in diachroner Perspektive vor, um systemische Eigenheiten beider deutscher Staaten herauszuarbeiten und Unterschiede zu verdeutlichen. Da er insbesondere die kulturellen Eigenheiten in Ost und West berücksichtigte, lagen seine Schwerpunkt auf der Alltagsarbeit der Verwaltung, der Prozesshaftigkeit der Entscheidungsfindungen und der Strukturen der Kommunikation unter den Instanzen und Mitarbeitern.
HENNING TÜRK (Potsdam) analysierte die energiewirtschaftlichen Herausforderungen (darunter die Rohstoffknappheit nach dem Zweiten Weltkrieg, die Ölpreiskrise und die Sicherstellung der Energieversorgung allgemein), die die Bundesrepublik und DDR zu bewältigen hatten. Außerdem beschäftigte ihn die Frage, welche Handlungsoptionen beide Staaten innerhalb ihrer politischen und wirtschaftlichen Systeme besaßen. Neben der Parallelität der deutsch-deutschen Energieversorgungen thematisierte er auch Verflechtungen und Kooperationen, um herauszuarbeiten, welche Akteure und Institutionen innerhalb dieses Feldes involviert waren und auf welche Weise sich Faktoren von außen bemerkbar machten.
Eine gängige Leiterzählung der deutschen Mediengeschichte nach 1945, der sich CHRISTOPH CLASSEN (Potsdam) zuwandte, richtet sich auf das gegensätzliche Demokratieverständnis beider deutschen Staaten und unterschiedliche politische Motivationen beim Einsatz von Medien als politischen Instrumenten der Propaganda im Kalten Krieg. Verflechtungen und Parallelen sind dabei bisher weit weniger Gegenstand der Forschung gewesen. Classen beleuchtete daher die blockübergreifenden Entwicklungen und Prozesse der Medialisierung. Diese hätten einen Wandel der Unterhaltungs- und Informationskultur in der west- und ostdeutschen Gesellschaft mit sich gebracht, der – als nichtbeabsichtigte Folgewirkung – auf die Politik zurückgewirkt habe. Aufgrund ihrer sozialen und kulturellen Prägekraft kann, so Classens These, den Medien ein Anteil am Niedergang des Sozialismus und an der globalen Durchsetzung konsumzentrierter Gesellschaftsentwürfe zugeschrieben werden.
Mit dem deutsch-deutschen Konkurrenzdenken über die Interpretationshoheit der Geschichte ab den ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg befasste sich ANDREA BRAIT (Wien). Sie legte einen Schwerpunkt ihres Vortrags auf die Verarbeitung der NS-Vergangenheit in Museen, Denkmaldarstellungen und öffentlichen Diskursen. Hierbei wurden die „Konjunkturphasen“ des Geschichtsbewusstseins in den Blick genommen, etwa die Phase einer verbreiteten Geschichtsverdrossenheit während der 1960er- und 1970er- oder eines wiederaufkeimenden Geschichtsinteresses ab den 1980er-Jahren sowie die gesellschafts- bzw. geschichtspolitischen Versuche, dieses wiedererwachte Interesse zu beeinflussen.
CHRISTOPHER NEUMAIER (Potsdam) analysierte vergleichend die Rolle der Frau in der ost- und westdeutschen Gesellschaft. Anhand der Trias Hausfrau – Mutter – Arbeiterin/Berufstätige stellte er die Entwicklung sozialpolitischer Rahmenbedingungen und Einflussfaktoren in Form von Gesetzgebung und Reformen von der Nachkriegszeit bis zur Wiedervereinigung dar. Dabei ging er auch auf das Verhältnis von Erwerbstätigkeit und Emanzipationsbewegung ein.
JUTTA BRAUN (Potsdam) zielte mit ihrer Projektskizze auf einen Vergleich der Sportsysteme in Form der bürgerlichen Vereine in der Bundesrepublik und der Betriebssportgemeinschaften in der DDR. Dabei ging es um das Verhältnis von Sportkultur und regionaler Verankerung ebenso wie um die Frage, durch welche Mechanismen eine Identifikation mit Spitzensportlern in Ost und West möglich wurde. Die Einflüsse der Stasi auf den Sport und die Doping-Praxis in der DDR wurden in den größeren Zusammenhang der deutsch-deutschen Systemkonkurrenz mit den Mitteln des Sports eingeordnet.
In der abschließenden Diskussionsrunde fragte ANTHONY GLEES (Buckingham) aus der Perspektive des Zeitzeugen und Politologen, inwiefern die deutsch-deutsche Geschichte in ihrer spezifischen Verflechtung, Parallelität und gegenseitiger Abgrenzung das Deutungsmuster eines deutschen „Sonderweges“ fortschreibe. Außerdem wurde diskutiert, welche zusätzlichen Gegenstände sich für eine Betrachtung als deutsch-deutsche Verflechtungs-, Parallel- und Abgrenzungsgeschichte anböten. Ins Gespräch gebracht wurden insbesondere die Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit, der Konsum und eine Sozial- und Mentalitätsgeschichte der Alltagskontakte über die innerdeutsche Grenze hinweg – konstruktive Anregungen, die die Herausgeber für die Schriftenreihe gerne aufgegriffen haben.
Konferenzübersicht:
Begrüßung und Einführung
Dominik Geppert
Franz-Josef Meiers (Rostock): Die beiden deutschen Staaten im Ost-West-Konflikt 1955 bis 1990
Jörg Echternkamp (Potsdam): Militarisierung und Pazifismus. Krieg und Frieden im geteilten Deutschland
Tim Geiger (Berlin): Deutsch-deutsche Begegnungen im Zeitalter der Teilung 1947 bis 1990
Moderation: Falko Schnicke (London)
Diskussion
Kommentar: Kristina Spohr (London)
Frieder Günther (Potsdam): Das eherne Gesetz der Bürokratie. Verwaltungskulturen in Ost und West 1945 bis 1990
Henning Türk (Potsdam): Kohle, Öl, Atom: Energieversorgung im geteilten Deutschland
Moderation: Felix Römer (London)
Diskussion
Kommentar: Riccardo Bavaj (St. Andrews)
Christoph Classen (Potsdam): Mediale Verflechtung und Abgrenzung im geteilten Deutschland
Andrea Brait (Wien): Geschichtskulturen und Geschichtspolitiken in Ost und West
Moderation: Dierk Hoffmann (Berlin/München)
Diskussion
Kommentar: Bernhard Fulda (Cambridge)
Christopher Neumaier (Potsdam): Familie, Erwerbstätigkeit und Emanzipation. Die Rolle der Frau im geteilten Deutschland, 1945–1990
Jutta Braun (Berlin): Sport im Systemwettstreit
Moderation: Thomas Brechenmacher (Potsdam)
Diskussion
Kommentar: Uta Balbier (London)
Schlussdiskussion