Die Jahrestagung der Deutsch-Tschechischen und Deutsch-Slowakischen Historikerkommission, die vom 12. bis 15. Oktober 2017 in Kooperation mit dem Institut für soziale Bewegungen der Ruhr-Universität Bochum veranstaltet wurde, hätte kaum an einem passenderen Ort stattfinden können. Im Kokskohlenbunker der Zeche Zollverein in Essen diskutierten Historiker/innen aus den drei beteiligten Ländern die kulturellen Langzeitfolgen des Strukturwandels in verschiedenen Industrieregionen. Der Schwerpunkt lag dabei auf der Frage, was der Strukturwandel mit den Menschen macht. Bildlich gesprochen war das Ziel also nicht eine Geschichte der Fabrikschlote, sondern eine Geschichte der Menschen, welche die Fabrikschlote befeuerten.
Entsprechend behandelten die Beiträge der von Stefan Berger (Bochum), Frank Hadler (Leipzig), Kristina Kaiserová (Ústí nad Labem) und Roman Holec (Bratislava) konzipierten Tagung Alltagskultur, Erinnerungskultur, soziale Bewegungen sowie wirtschafts- und sozialhistorische Prozesse in ihrer Auswirkung auf die in den verschiedenen Industrieregionen Arbeitenden. Die Veranstaltung war chronologisch in die drei Sektionen Frühindustrialisierung, Hochindustrialisierung und Postindustrialisierung gegliedert. Ein besonderes Anliegen der Organisatoren bestand darin, sich dem Themenfeld aus möglichst vielen Perspektiven zu nähern: aus einer vergleichenden Perspektive, um Spezifika herausarbeiten zu können, nach Möglichkeit aus einer Longue durée-Sicht sowie transnational, um ausländische Vorbilder bei Industrialisierung und Unternehmer-Mäzenatentum, aber auch Phänomene wie die Anwerbung auswärtiger Arbeitskräfte in den Blick zu bekommen. Auf einen direkten Vergleich des Ruhrgebietes mit tschechischen und slowakischen schwerindustriellen Ballungsräumen, etwa dem mährischen Ostrau (Ostrava) oder dem slowakischen Kaschau (Košice), wurde mit der Begründung verzichtet, dass sich aus ihm zu starke Asymmetrien ergeben hätten. Doch wenngleich Industrialisierung und De-Industrialisierung in den betrachteten Regionen phasenverschoben verliefen, machte die Konferenz zahlreiche vergleichbare Aspekte sichtbar, etwa infrastrukturelle Schwierigkeiten in der Phase der Frühindustrialisierung oder die paternalistische Sorge oft protestantischer Unternehmer um die Fortbildung von Angestellten und Arbeitern, ob nun im preußischen Sauerland oder in Zay-Ugrocz (heute Uhrovec) in der Nordwestslowakei.
Im ersten Beitrag sprach WILFRIED REININGHAUS (Münster) über die Unternehmerfamilien Schmidt und Harkordt im märkischen Sauerland und schilderte den bereits von Max Weber konstatierten Zusammenhang zwischen Protestantismus und Gewerbefleiß. Zudem ging er auf die europäischen Verbindungen dieser Familien vor allem nach Großbritannien und in die Niederlande ein, die beim Übergang vom Handel zur Produktion zu technologischen und wirtschaftlichen Transfers und Rückkopplungen führten: einerseits brauchte man englische Techniker und englisches Kapital, andererseits bewirkte die englische Überlegenheit einen Ausbau der innerdeutschen Beziehungen. Da das Schulwesen im preußischen Westfalen relativ hoch entwickelt gewesen sei, habe man die Arbeiter hier nicht alphabetisieren müssen. Die 1810 in Hagen ursprünglich für die Kinder der homogenen Kaufmannsfamilien geschaffene Handelsschule stand aber allen Qualifizierten offen.
MARIE MACKOVÁ (Pardubice) behandelte in ihrem Beitrag den Alltag der in staatlichen Tabakfabriken arbeitenden Frauen in den böhmischen Ländern im 19. Jahrhundert. Die Frauen, die dort die weit überwiegende Mehrheit der Arbeiter bildeten, standen seit Einführung des staatlichen Tabakmonopols im Staatsdienst. Dies brachte ihnen gewisse Vorteile: regelmäßige Entlohnung und Arbeitszeiten, eine bessere Stellung als etwa landwirtschaftliche Arbeiterinnen oder Dienstboten, Freizeit (da die Arbeitsverhältnisse strukturiert waren), Berufskurse, die Nutzung von Fabrikbibliotheken und am Ende eine Pension. Allerdings steuerte der Staat auch die Bildungs- und kulturellen Aktivitäten der Frauen vor allem, wenn es um Staatsfeierlichkeiten ging. Den in relativ armen ländlichen Regionen gelegenen Tabakfabriken kam hier eine andere, für die Belegschaft erfreulichere Rolle und Bedeutung zu als denjenigen in Oberungarn, die die ersten städtischen Industrieanlagen darstellten und deren Arbeiterschaft aus zu resozialisierenden Männern bestand.
EVA KOWALSKÁ (Bratislava) analysierte anhand der Gründung der Zay-Ugroczer Feintuchfabrik die Rolle des kapitalstarken ungarischen Adels bei der Industrialisierung. In diesem Fall erfolgte die Errichtung einer hochmodernen Fabrik quasi „auf der grünen Wiese“ in einer verkehrstechnisch nicht erschlossenen Umgebung. Für die von auswärts angeworbenen Arbeiter gab es eine Arbeiterherberge, es wurden ordentliche Löhne gezahlt, 1847 eine Krankenkasse mit einer Einlage Karl Zays sowie Angestellten-Pflichtbeiträge eingeführt. Typisch für die Industrialisierung Ungarns war, dass nur die Aristokraten über das nötige Kapital verfügten, zudem konnten sie auf eine Familientradition als Unternehmer zurückgreifen. Auch hier spielte die Konfession eine Rolle: Die Zays waren wie die im ersten Referat vorgestellten märkischen Unternehmer Lutheraner. Zudem kümmerten sie sich in paternalistischem Selbstverständnis tatsächlich um ihre Arbeiter.
DAGMAR KIFT (Dortmund) schilderte am Beispiel der Zeche Zollern betriebliche Sozialpolitik im Wandel des 20. Jahrhunderts als vorrangig zweckmäßig. So diente der Wohnungsbau für Arbeiter auch dazu, diese zu kontrollieren und zu disziplinieren. Schon vor dem „Dritten Reich“ zielte die Werksgemeinschaft auf eine totale Vereinnahmung der Arbeiter durch den Betrieb, welche die vielbeschworene sogenannte nationalsozialistische Volksgemeinschaft in mancher Hinsicht im Kleinen vorwegnahm. Die Sozialpartnerschaft, die nach dem Zweiten Weltkrieg eingeführt wurde, beschrieb Kift als eine der Langzeitfolgen des industriellen Strukturwandels: Kohle war im Wiederaufbau anfangs das einzige Exportgut. Da die Zechenleitungen in vielen Fällen aus politischen Gründen – Stichwort Entnazifizierung – nicht funktionsfähig waren, kam den Betriebsräten bei der Wiederingangsetzung der Zechen eine entscheidende Rolle zu. Flüchtlinge und Vertriebene ersetzen die fehlenden Arbeitskräfte und deckten den im Wiederaufbau steigenden Bedarf an Bergleuten. Maßnahmen wie die Eigenheimförderung dienten dann dazu, die neuen Bergleute an den Betrieb zu binden.
ANNA POKLUDOVÁ (Ostrava) lieferte ein schönes Beispiel für die angestrebte Longue-durée-Perspektive. Sie beschrieb, wie Ostrava (Mährisch-Ostrau), bis dahin eine Kleinstadt, in der Zwischenkriegszeit dank der Eisenwerke von Vítkovice (Witkowitz) und des Karvín-Kohlenreviers zu einer Industriemetropole von europäischer Bedeutung aufstieg. Die Stadt sei durch den Zuzug zahlreicher polnischer, jüdischer und anderer Arbeiter zu einem Laborator der Heterogenität und zu einer modernen Industriestadt wie in den USA geworden, was sich in einer umfassenden Urbanisierung, neuer Architektur, einer Expansion der lokalen Eliten wie einer Subkultur der Arbeitersiedlungen niederschlug. Nach der Ermordung der Juden im Zweiten Weltkrieg und der Vertreibung der Deutschen habe Ostrava seine kulturelle Vielfalt verloren und sei eine kommunistische Stadt der Bergarbeiter und Hüttenwerker geworden. Diese habe mit ihren veralteten Industrieanlagen nach 1989 keinen kapitalistischen Neuanfang geschafft, vielmehr setzte 2003 eine Musealisierung der Industrie ein.
ROMAN HOLEC (Bratislava) stellte slowakische Geschäftseliten in Oberungarn, vor allem in Bratislava und in der Zips, als zivilgesellschaftliche Elemente vor, die zwischen Staat und Markt als Philanthropen und Mäzene gewirkt hätten. Durch das Zensuswahlrecht waren sie in Stadträten und Landtagen vertreten, ihre Wohltätigkeitsaktivitäten folgten dem Vorbild des Adels und waren zudem ein Kriterium, in den Neuadel aufzusteigen. Das galt für deutsche und ungarische „Schlotbarone“ wie für sich assimilierende Juden, die wenigen ausländischen Geschäftsleute wie auch für die kleine protestantische slowakische Unternehmerelite. In der Zwischenkriegszeit habe dies einen Stiftungsboom, der Steuerersparnis zur Folge hatte, ausgelöst. Generell, so Holec, seien die kulturellen Fördermaßnahmen der slowakischen Unternehmerfamilien national geprägt und insofern politisch gewesen.
ACHIM PROSSEK (Berlin) beleuchtete kritisch den Strukturwandel im Ruhrgebiet als Daueraufgabe seit 1968. Am Ende dieser kulturalisierten Strukturpolitik sollte ein neues, urbanes Ruhrgebiet stehen: vom Ruhrpott zur Metropole Ruhr. Ein interessantes, wichtiges Projekt stellte etwa der Umbau bzw. Rückbau der Emscher von Abwasserkanal zum Fluss dar, der den Übergang von der Hoch- zur Postindustrialisierung versinnbildliche. Prossek argumentierte, dass die Eventisierung dieser neuen Ruhrmetropole die industriellen Hinterlassenschaften lediglich als Kulisse nutze und so aktuelle Strukturprobleme wie Bildungsschwäche und Armut überdecke. In der Diskussion wurde dieser Befund zu der berechtigten Frage zugespitzt, ob nicht dem Alltagserleben Ruhrpott ein Ruhrmetropolen-Marketing gegenüber stehe, das durch Ästhetisierung eine tatsächliche Historisierung verhindere. Zudem behaupte das postindustrielle Narrativ eine „Alleinstellung“ des Ruhrgebiets, die nicht zutreffe; zwar habe hier die Deindustrialisierung eher eingesetzt als in anderen Gebieten, die Prozesse und ihre Folgen seien hier wie dort aber ähnlich.
Hier knüpfte TOMÁŠ OKURKA (Ústí nad Labem) an, der dem Umgang mit der industriellen Vergangenheit am Fallbeispiel der international bedeutsamen Aussiger Unternehmerfamilie Schicht nachging. Ihr Vermögen wurde 1945 von den tschechoslowakischen Behörden konfisziert und ihre das Stadtbild prägenden Bauten wie das Johann-Schicht-Bad in Schreckenstein oder die Villen der Familie in der kommunistischen Zeit z.B. als Erholungs- oder als Studentenheim genutzt. Heute befinden sie sich in relativ schlechtem Zustand und stehen zum Verkauf. Damit stelle sich in Aussig heute dieselbe Frage wie im Ruhrgebiet schon vor 50 Jahren: Was soll man jetzt mit diesem (national konnotierten) industriellen Erbe machen?
Für die Slowakei konstatierte ĽUDOVÍT HALLON (Bratislava) einen problematischen Umgang mit der Erhaltung des industriekulturellen Erbes: Während die „Slowakische Eisenstraße“ als Teil der „Mitteleuropäischen Eisenstraße“ in der Region Bánská Bystrica – Prešov – Košice seit 1998 aus EU-Strukturfondsmitteln gefördert werde, sei zum Beispiel in Bratislava vieles zerstört, etwa der größte Teil des Zvernovka (Zwirnfabrik)-Komplexes. In der Ostslowakei, um Žilina und Košice, sei eine Regionalidentität tiefer verankert und daher werde dort das industrielle Erbe stärker bewahrt, während in Bratislava durch ein Versagen des Staates wie von Bürgerinitiativen fast das ganze Industrieerbe unwiederbringlich verloren sei.
In der Schlussdiskussion wurde die Frage aufgeworfen, wie angesichts der generellen Ähnlichkeit der Deindustrialisierungsnarrative in der westlichen Welt Unterscheidungskriterien zu gewinnen wären. Im sogenannten Ostblock erfolgte der Wandel vom Proletarier zum konsumorientierten Arbeitnehmer in der Hochindustrialisierung, der im Ruhrgebiet schon in den 1950er-Jahren zu konstatieren war, mithin phasenverschoben. Mit der Deindustrialisierung als „Ende der Arbeiterklasse“ endete eine spezifische Arbeitsform, zugleich veränderten sich die Narrative. In Großbritannien zum Beispiel habe aber die Deindustrialisierung viel stärker im Zeichen von Klassendiskursen gestanden als etwa in der Bundesrepublik Deutschland. Um die vielfältigen und komplexen Langzeitfolgen herausarbeiten zu können, sei eine vergleichende Perspektive wichtig, wobei es revierhafte und punktuelle Industrialisierung zu unterscheiden gelte.
Eine weitere interessante Frage wäre, ob und ab wann in diesen Regionen in den behandelten Phasen der Früh-, Hoch- und Postindustrialisierung ein Bewusstsein für strukturell ähnlich gewandelte Verhältnisse andernorts vorhanden war, und wie diese Einsicht in die Suche nach der Lösung aktueller Probleme eingeht. So könne etwa die Renaturierung, soweit sie überhaupt noch möglich sei, als politisch-kultureller Akt gegebenenfalls eine Vorbildfunktion für postindustrielle Regionen auch auf anderen Kontinenten gewinnen.
Anhand regionaler Fallstudien behandelte die Tagung kulturelle Langzeitfolgen von Strukturwandel, die weite Teile der Welt betrafen, aktuell betreffen oder noch betreffen werden. Eine vergleichende Perspektive, die die regionalen Spezifika nicht vernachlässigt, macht diese Fallstudien über den lokalen Tellerrand hinaus interessant und relevant. Man könnte sie sogar in eine globale Perspektive stellen.
Konferenzübersicht:
Begrüßung
Heinrich Theodor Gruetter (Essen)
Einführung
Stefan Berger (Bochum)
Frank Hadler (Leipzig)
Sektion 1: Frühindustrialisierung:
Moderation: Gesa Ingendahl (Tübingen)
Wilfried Reininghaus (Münster): Unternehmer im märkischen Sauerland in der frühindustriellen Phase
Marie Macková (Pardubice): Wenn Frauen in der Tabakfabrik arbeiten – und was sich im Lebensstil der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Böhmen änderte
Eva Kowalská (Bratislava): Industrialisierung und Adel: Die Gründung der Zay-Ugroczer (Fein-)Tuchfabrik
Sektion 2: Hochindustrialisierung
Moderation: Kristina Kaiserová (Ústí nad Labem)
Dagmar Kift (Dortmund): Betriebliche Sozialpolitik im Wandel
Anna Pokludová (Ostrava): Ostrau auf dem Weg zu einem industriellen und kulturellen Zentrum 1848-1948
Roman Holec (Bratislava): Slowakische Unternehmerfamilien und ihre kulturellen Aktivitäten (1880-1938): Vorbilder und Ressourcen
Sektion 3: Postindustrialisierung
Moderation: Roman Holec (Bratislava)
Achim Prossek (Berlin): Wandel durch Kultur – Ergebnisse kulturalisierter Strukturpolitik im Ruhrgebiet seit 1989
Tomáš Okurka (Ústí nad Labem): Das kulturelle Erbe der Aussiger Unternehmerfamilie Schicht
Ľudovít Hallon (Bratislava): Strukturelle Veränderungen in der slowakischen Wirtschaft seit 1989 und die kulturellen Folgeentwicklungen am Beispiel ausgewählter Industrieregionen
Abschlussdiskussion
Moderation: Frank Hadler/Stefan Berger