Vom 6. bis zum 7. November 2017 fand an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg im Rahmen einer vom Auswärtigen Amt geförderten Projektwoche mit der Staatlichen Universität Smolensk (Russland) ein Workshop zu „Kriegsgewalt und Kriegsverbrechen in historischer Dimension“ mit elf Beiträgen aus verschiedenen Disziplinen und zu unterschiedlichen Epochen der Neuzeit statt.
Die erste Sektion richtete einen allgemeinen Blick auf das Thema und begann mit einem Beitrag von OLGA IWANOWA (Smolensk), die Beispiele aus den französischen Religionskriegen, dem Dreißigjährigen Krieg und der Herrschaft Zar Iwans des Schrecklichen beleuchtete. Sie zeigte, dass der Einsatz physischer Gewalt in der Frühen Neuzeit mit Initiativen zur Normierung einherging. Theorie und die Praxis des Völkerrechts beeinflussten sich wechselseitig, was insbesondere an Hugo Grotius deutlich wird, der Einfluss auf die Kriegführung Gustavs II. Adolf von Schweden hatte. Grundsätzlich wurde Gewalt in der Frühen Neuzeit nicht delegitimiert, sondern ihr Gebrauch Normen unterworfen. Spektakuläre Gewalteskalationen wie die Zerstörung Magdeburgs 1631, die nicht aus einem offensichtlichen Bruch völkerrechtlicher Normen resultierte, konnten darum unterschiedlich wahrgenommen werden. Sie beförderten aber eine Tendenz zur Einhegung physischer Gewalt, der allerdings erst im 19. Jahrhundert allgemeine völkerrechtliche Verpflichtungen folgten.
Hier schloss sich der Beitrag von PETER HOERES (Würzburg) an, der fragte, was in der Moderne ein Kriegsverbrechen sei. Anhand von prägnanten bildlichen Darstellungen aus dem Ersten und Zweiten Weltkrieg und dem Vietnamkrieg machte er deutlich, dass die Wahrnehmung eines Ereignisses als Kriegsverbrechen nicht unbedingt der völkerrechtlichen Situation zum Zeitpunkt des Geschehens entspricht. Darüber hinaus muss zwischen positiv fixiertem und völkerrechtlichem Gewohnheitsrecht unterschieden werden. Insbesondere aber beleuchtete Hoeres die Rolle der Medien, die für die Wahrnehmung und Beurteilung von Ereignissen eine zentrale Bedeutung gewonnen haben. So können Völkerrechtsverbrechen in der öffentlichen Wahrnehmung auch mit historisch unpassenden, aber wirksamen visuellen Darstellungen fest verbunden sein, die den öffentlichen Diskurs stärker prägen als die historische Aufarbeitung.
Der Vortrag von CHRISTIAN MÜHLING (Würzburg) widmete sich den an der Schwelle vom 17. zum 18. Jahrhundert wieder stärker hervortretenden Religionskonflikten und der zeitgenössischen Frage, wie damit umzugehen sei. Als ein Mittel, einen neuen Religionskrieg zu verhindern, wurden von Protestanten wie Daniel Defoe gezielte Repressionen gegen Katholiken publizistisch propagiert. König Friedrich I. in Preußen erreichte mit einem entsprechenden Vorgehen gegen Katholiken in seinem Herrschaftsgebiet tatsächlich, dass die Situation der verfolgten Protestanten in der Pfalz sich verbesserte.
Die zweite Sektion näherte sich Untersuchungsgegenstand am Beispiel des Tagungsortes Würzburg. ANUSCHKA TISCHER (Würzburg) schilderte die schwedische Besetzung der Stadt im Dreißigjährigen Krieg und die anschließende gewaltsame Eroberung der Festung 1631 und ihren völkerrechtlichen Kontext, Peter A. SÜSS (Würzburg) die Bombardierung der Stadt kurz vor dem Ende des 2. Weltkriegs im März 1945, bei der ca. 90 Prozent der Altstadt zerstört wurde. Beide Ereignisse sind im regionalen Raum, wenn auch in unterschiedlicher Form und Intensität, bis in die Gegenwart als Teil einer Memorialkultur präsent, die sich vor allem auf die Kriegsopfer, aber auch auf den Kulturgüterverlust fokussiert. An beiden zeigt sich zudem, dass die allgemeine Wahrnehmung konkreter Kriegsereignisse sich vor allem auf die Wahrnehmung der Gewalt konzentriert, weniger auf den völkerrechtlichen Rahmen.
Der Abendvortrag von OKSANA KORNILOVA (Smolensk), der Leiterin der wissenschaftlichen Ausstellung der Gedenkstätte Katyn bei Smolensk, analysierte, wie der Begriff Katyn als Metonym zum Begriff für verschiedene Gewaltphänomene wurde: In dem Waldgebiet bei Smolensk waren bereits zahlreiche Opfer des stalinistischen Terrors begraben, als es dort 1940 im Rahmen einer breiter angelegten Kampagne gegen die militärische und intellektuelle Elite Polens zu einem sowjetischen Massaker an polnischen Kriegsgefangenen kam. Nach der deutschen Eroberung des Gebiets und der Entdeckung der Gräber prägte die nationalsozialistische Propaganda den Begriff Katyn nach einem in der Nähe gelegenen Dorf. Dieser Begriff bezeichnet nach einer über siebzigjährigen Geschichte der Aufarbeitung, weiteren Entwicklung und des nationalen Erinnerns unterschiedliche Dinge: die Massaker an der polnischen Elite an diesem und anderen Orten, deren jahrzehntelange Leugnung durch die Sowjetunion, den Flugzeugabsturz der polnischen Regierung anlässlich der Gedenkfeiern 2010 sowie das stalinistische Gulag-System. Die Gedenkstätte Katyn muss dieses unterschiedliche Erinnern an einem gemeinsamen Ort leisten, aber Kornilova betonte auch die Bedeutung der Vernetzung der unterschiedlichen Erinnerungsorte, dem sich z.B. Weißrussland entziehe.
In der Sektion „Kriegsgewalt als kulturelle Praktik“ wurde thematisiert, wie sich der Umgang mit Kultur im Krieg darstellt und wie Krieg Kultur prägt. MARCEL MALLON (Bonn) widmete sich dem Phänomen des Kunstraubs im Dreißigjährigen Krieg und schilderte die schwedische Übernahme von Mainzer Bibliotheken 1631, die planvoll und in Abstimmung mit den anerkannten völkerrechtlichen Prinzipien durchgeführt wurde, wobei andere Beispiele wie die schwedische Plünderung Münchens zeigen, dass es offenbar kein einheitliches Vorgehen gab. Im Spannungsfeld des Kriegs entwickelte sich Köln, das als befestigte katholische Reichsstadt zum Fluchtort zahlreicher katholischer Geistlicher wurde und so dazu beitrug, kirchliche Kunstschätze zu bewahren bzw. fremdem Zugriff zu entziehen, und zugleich zu einem zeitweiligen Zentrum geistlichen Lebens wurde.
DEMJAN WALUJEW (Smolensk) stellte dar, wie Russland, in dem Maße, in dem es mit den europäischen Staaten in Verbindung stand, auch die dort etablierten Formen der politischen Propaganda übernahm und weiterentwickelte. In der Zeitspanne vom Dreißigjährigen Krieg bis zu den Napoleonischen Kriegen bildete sich eine russische Propaganda heraus, die in einem europäischen Rahmen ein eigenes Profil besaß.
IRINA ROMANOWA (Smolensk) resümierte Kriegsgewalt und Kriegsverbrechen im modernen russischen Literaturdiskurs und betonte, dass Krieg ein nach wie vor aktuelles Thema der russischen Literatur bzw. die Literatur ein Medium der Auseinandersetzung mit dem Krieg sei. Am Beispiel des Romans „Der General und seine Armee“ von Georgi Wladimow zeigte sie, wie sich die literarische Verarbeitung des Großen Vaterländischen Kriegs bzw. Zweiten Weltkriegs von schematischen Darstellungen weg entwickelt hat, hin zu Darstellungen, welche die komplexen Situationen des Kriegs berücksichtigen und auch die Grausamkeit des totalitären sowjetischen Regimes einbeziehen. Doch auch jüngere Kriege wie der in Afghanistan spielen in der russischen Literatur eine Rolle, so z.B. im Werk von Oleg Ermakov.
Aus einer gleichfalls rezeptionshistorischen Perspektive beleuchtete ROMAN BELJUTIN (Smolensk) das sogenannte „Todesspiel“ von 1942, bei dem die Kiewer Fußballmannschaft „FC Start“ die deutsche „Flakelf“ besiegte. Daran anknüpfend entwickelte sich ein durch eine breite Memorialkultur, zuletzt in einem russischen Film von 2012, genährter Mythos von einer unter Todesdrohungen siegreichen Mannschaft, die als direkte Folge des sportlichen Sieges eliminiert worden sei, ein Mythos, der mittlerweile historisch dekonstruiert wurde. Beljutin ging es primär nicht um die mit dem Fußballspiel verknüpften historischen Ereignisse, sondern um die Wirkmächtigkeit dieses Mythos, der sich, nicht zuletzt aufgrund seines hohen Identifikationspotentials, der Dekonstruktion offensichtlich entzieht. Im Anschluss daran und an den von Beljutin im Weiteren ausgeführten Fall des von den Nationalsozialisten verfolgten jüdischen Präsidenten des FC Bayern München Kurt Landauer stellte sich in der Diskussion die Frage, ob Sport und konkret Fußball eine völkerverbindende Funktion erfülle oder nicht vielmehr rasch politisch instrumentalisiert werde.
DIMITRIJ KOMAROW (Smolensk) untersuchte die Repressalien, denen die Bewohner im Gebiet Smolensk im Zuge der deutschen Besatzung 1941–1943 ausgesetzt waren und arbeitete deren doppelten Charakter heraus: Neben den Besatzern übten auch sowjetische Partisanen Druck aus, um die Bevölkerung, nicht zuletzt wegen der hohen Bedeutung des Gebiets als Rohstofflieferant, von Kollaboration abzuhalten. Für die Bevölkerung war allerdings ein gewisses Maß an Zusammenarbeit mit den Besatzern überlebensnotwendig. Der sowjetische Staat setzte die rechtlichen Rahmenbedingungen für die eigenen Repressionen, denen die Bürger nach dem Abzug der deutschen Truppen dann im Weiteren in Form von Gerichtsverfahren und Hinrichtungen ausgesetzt blieben. Als Folge des Kriegs wurden somit Einwohner der besetzten Gebiete von den Besatzern, von Partisanen und nach der Befreiung von den eigenen Behörden getötet.
Insgesamt verwies der Workshop darauf, dass das Verhältnis der im Krieg ausgeübten Gewalt und ihres (völker)rechtlichen Rahmens epochenübergreifend noch unzureichend ausgelotet ist. Damit ist die Frage verknüpft, inwieweit die jeweiligen Kriegsparteien Zivilisten in Theorie und Praxis als rechtlich geschützt oder aber als Teil einer Kriegspartei definierten und/oder behandelten. Zugleich zeigte sich immer wieder, dass die Aufarbeitungen von Kriegsereignissen mit Vorstellungen konfrontiert werden, welche mediale Darstellungen und verschiedene Formen der Erinnerungskultur langfristig produziert haben und durch wissenschaftliche Darstellungen nur schwer zu überwinden sind.
Konferenzübersicht:
Olga Iwanowa (Smolensk): Kriegsgewalt und Kriegsverbrechen aus historischer Perspektive (am Beispiel der Religionskriege und des Dreißigjährigen Kriegs) (Vortrag in russischer Sprache mit Simultanübersetzung)
Peter Hoeres (Würzburg): Was ist in der Moderne ein Kriegsverbrechen?
Christian Mühling (Würzburg): Religionskrieg und konfessionelle Repressalien an der Schwelle vom 17. zum 18. Jahrhundert
Sektion „Würzburg als Fallbeispiel von Kriegsgewalt“
Anuschka Tischer (Würzburg): Die schwedische Eroberung Würzburgs im Dreißigjährigen Krieg und ihre Folgen
Peter A. Süß (Würzburg): Die Zerstörung Würzburgs im Zweiten Weltkrieg
Abendvortrag
Oksana Kornilova (Smolensk): Katyn: a long life of the Nazi term
Sektion „Kriegsgewalt als kulturelle Praktik“
Marcel Mallon (Bonn): Kunstraub im Dreißigjährigen Krieg
Demjan Walujew (Smolensk): Deutungsmuster „Feind” und „Kriegsgewalt” in der Propaganda der europäischen Staaten und Russlands vom Dreißigjährigen Krieg bis Napoleon (1618–1815) (Vortrag in russischer Sprache mit Simultanübersetzung)
Irina Romanowa (Smolensk): Kriegsgewalt und Kriegsverbrechen im modernen russischen Literatur-Diskurs (Vortrag in russischer Sprache mit Simultanübersetzung)
Sektion „Kriegsopfer“
Roman Beljutin (Smolensk): Der letzte Pass: Opfer des Nazi-Regimes im Sport
Dmitrij Komarow (Smolensk): Politische Repressalien gegenüber den Handlangern der Eroberer auf den besetzten sowjetischen Territorien (1941–1943) anhand von Materialien aus der Region Smolensk (Vortrag in russischer Sprache mit Simultanübersetzung )