Die Vorstellung eines ungebrochenen Siegeszugs der liberalen Demokratie, wie sie etwa der US-amerikanische Politologe Francis Fukuyama vertritt, stellt sich mit jedem weiteren Tag als Fehleinschätzung heraus. Autoritäre politische Systeme erfreuen sich im Moment größter Beliebtheit und auch die einst stabilen Vorkämpfer freiheitlicher Ordnungen wanken unter dem Druck autokratischer politischer Akteure. Diese Tatsache stellt die Frage nach der Funktionsweise von Diktaturen. Woraus resultiert ihre Stabilität und Attraktivität? Welche Angebote können sie der Bevölkerung unterbreiten? Welche Rolle spielt Repression? Und wie arrangieren sich Menschen mit nicht-freiheitlichen politischen Ordnungen?
Diese Fragen wurden Anfang Oktober 2017 auf der Auftaktkonferenz des interdisziplinären Verbunds für vergleichende Diktaturforschung an der Humboldt-Universität zu Berlin diskutiert. Eröffnet wurde die Tagung durch MICHAEL WILDT (Berlin) und JÖRG BABEROWSKI (Berlin). Hauptredner des Abends war allerdings GYÖRGY DALOS (Budapest). Der mehrfach ausgezeichnete Romancier und Historiker (u.a. Adelbert-von-Chamisso-Preis), der in den 1960er-Jahren in Moskau Geschichte studierte und später zu den Gründungsmitgliedern der demokratischen Opposition in Ungarn gehörte, sprach über seine langjährige Erfahrung mit dem Leben in, mit und gegen Diktaturen. Dalos’ Schilderung seiner Wandlung vom überzeugten Kommunisten, der durch ein Stipendium die Möglichkeit zu einem Studium in Russland erhielt, zum oppositionellen Systemkritiker, zeigten die verschiedenen Facetten der Diktatur auf und bildeten so einen gelungenen Auftakt der Tagung.
Die Panels der Konferenz waren in Themenbereiche, die die jeweils zentralen Aspekte von Diktaturen in das Zentrum der Debatte stellten, aufgeteilt. Im Gegensatz zu anderen Konferenzen gab es keine Vorträge der Panelteilnehmer. Stattdessen handelte es sich um moderierte Diskussionen, in die auch das Publikum eingreifen konnte. Das erste Panel trug den Titel „Herrschaftsdurchsetzung: Furcht und Teilhabe“ und setzte sich mit der Frage nach diktatorischen Herrschaftspraktiken auseinander. Welche Rolle spielten oder spielen plebiszitäre Praktiken wie Wahlen in Systemen, in denen sie oberflächlich keine Bedeutung haben? Wie schaffen und instrumentalisieren repressive Ordnungen Angst in der Bevölkerung? Diskussionsteilnehmer waren BIRGIT ASCHMANN (Berlin), die sich in ihrer Forschung vornehmlich mit der franquistischen Diktatur in Spanien befasst, ALOYS WINTERLING (Berlin), ausgewiesener Experte für das römische Imperium, JÖRG BABEROWSKI (Berlin), dessen Forschungsschwerpunkt der Stalinismus bildet, und SEBASTIAN LANGE (Berlin), Experte für islamistische dschihadistische Bewegungen im Nahen und Mittleren Osten. Die Panelteilnehmer sollten über ihr jeweiliges Spezialwissen hinaus auf einer allgemeineren Ebene miteinander ins Gespräch kommen. Diese Aufgabe, eigene Beobachtungen kurz zu präsentieren und zu abstrahieren, meisterten die Podiumsgäste zum größten Teil mit Bravour. Über die zentrale Rolle die Furcht in Diktaturen herrschte unter den Diskussionsteilnehmern große Einigkeit. Sie warben aber auch für eine genauere Analyse von verschiedenen Formen der Furcht und der milieuspezifischen Dimension von Repression. Unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen waren, so die Diskussionsteilnehmer, von verschiedenen Formen der Angst erfasst. Angstfreie Diktaturen seien aber nicht denkbar. Der Begriff der Teilhabe sorgte indes für Diskussionen, die den neuen Ansatz des Forschungsverbundes offenbarten. So äußerten mehrere Diskutanten die Beobachtung, dass das normative Begriffspaar „Demokratie - Teilhabe“ nicht absolut zu setzen sei. So gäbe es durchaus Diktaturen die großen Wert auf eine Integration der Bevölkerung legten und auf der anderen Seite Demokratien mit repressiven Elementen, beispielsweise dem Ausschluss von Minderheiten. Diese Auflösung der klar definierten Grenze zwischen Demokratien und Diktaturen sowie die Ablehnung der normativen Betrachtungsebene sind Alleinstellungsmerkmale des neuen Forschungsverbunds. Dass dieser Ansatz durchaus zu Kontroversen führen kann, zeigte sich während der Diskussion. Das erste Panel offenbarte zudem die enorme Varianz von Themen, die in einer vergleichenden Diktaturforschung untersucht werden könnten. Zugleich wurde deutlich, dass eben dieses Angebot an Forschungsoptionen eine Eingrenzung des interdisziplinären Projekts erfordert. In diesem Zusammenhang wurde auch die Begriffsgeschichte der Diktatur, ihre Wandlung von der ehrenvollen Selbstbezeichnung für eine kommissarische Tätigkeit in der Antike und frühen Neuzeit zur einer pejorativen Fremdbezeichnung in der Moderne, debattiert.
Das zweite Panel mit dem Titel “Wohlfahrt und Sicherheit” befasste sich im Anschluss an die vorige Diskussion mit den Versprechen, die Diktaturen ihren Gesellschaften unterbreiten. Denn ob Diktaturen Wohlfahrt und Sicherheit garantieren konnten, entschied oftmals über Wohl und Wehe, über Legitimation und Delegitimation von autoritären Regimes. Die Diskussionsrunde, setzte sich aus Historikern mit Forschungsschwerpunkten zusammen, die bei einer öffentlichkeitswirksamen Diskussion über Diktaturen mitunter übersehen werden. So trafen mit HANNES GRANDITS (Berlin), STEFAN B. KIRMSE (Berlin), DANIEL HEDINGER (München) und STEFAN RINKE (Berlin) Spezialisten für den jugoslawischen Sozialismus, zentralasiatische postsowjetische Systeme, japanischen Faschismus und lateinamerikanische Diktaturen im 20. Jahrhundert aufeinander. Die Debatte offenbarte den Druck unter dem autokratische Herrscher trotz der Möglichkeit furchterregender Repressionsmaßnahmen laufend standen und stehen. Die Volkssouveränität galt auch für die moderne Diktatur. Dauerhaft konnte sich nur etablieren, wer ausgeschmückte Zukunftsvisionen mit handfesten Ergebnissen unterfüttern konnte. Dabei etablierte sich bei der Überprüfung des jeweiligen „Fortschritts“ der transnationale Vergleich als besonders wirksam. Sowohl die Machthaber als auch die Untertanen konnten mit der sozialen, ökonomischen oder auch politischen Lage in angrenzenden Ländern oder Systemen argumentieren. Die Diskutanten erläuterten Erfolge und Misserfolge in den von ihnen untersuchten Systemen und zeigten die unterschiedlichen Herangehensweisen an die Schaffung von Sozialsystemen, aber auch von ökonomischer Stabilität auf. Dabei kam auch die zeitliche Dimension zur Sprache. So war und ist der Modernisierungsdiskurs gerade in Staaten, die innerhalb von kurzer Zeit den Schritt von einer Agrargesellschaft zu einer Industriegesellschaft gegangen sind, ein enorm wichtiges Element für die Akzeptanz von Diktaturen. Der Ausblick und das Erleben von Entwicklung und Fortschritt spielte für die “Untergebenen” eine wichtige Rolle.
Das dritte Panel, das zugleich die Abschlussdiskussion darstellte, trug den Titel “Legitimität und Öffentlichkeit”. Zur Debatte stand, wann und warum diktatorische Regimes von der Bevölkerung als legitim angesehen werden. Wie argumentieren repressive Ordnungen für ihre eigene Rechtmäßigkeit? Geführt wurde die Diskussion wiederum von Repräsentanten sehr unterschiedlicher Forschungsfelder. Neben den Historikern MARTIN SABROW (Berlin), KLAUS MÜHLHAHN (Berlin) und MICHAEL WILDT (Berlin), der bei der Diskussion auch als Moderator fungierte, saßen mit SONJA HEGASY (Berlin) und BENJAMIN LAHUSEN (Berlin) auch eine Politikwissenschaftlerin, deren Forschungsschwerpunkt die nordafrikanischen Gesellschaften sind, und ein Jurist mit rechtsgeschichtlichen Forschungshintergrund auf dem Podium. Die Diskussion kreiste zunächst um den Begriff der Legitimität, den die Teilnehmer der Debatte nicht als ihrerseits angelegten Maßstab betrachten mochten, sondern ihn vielmehr als Einschätzung der in diktatorischen Regimen lebenden Bevölkerung verstehen wollten. Alternativ wurde daher der Begriff der Loyalität in den Raum gestellt, der sich empirisch besser nachweisen ließe. Im Laufe der Debatte ging es anschließend um die Frage wie Diktaturen ihre Rechtmäßigkeit formulieren und ein auch von der Bevölkerung als legitim betrachtetes Regime aufbauen. Neben dem Hinweis Benjamin Lahusens, dass auch Diktaturen langfristig nicht auf ein gültiges Rechtssystem verzichten können, war ein zentraler Debattenbeitrag Martin Sabrows These, dass man nur dann zu einem besseren Verständnis von autoritären Systemen kommen könne, wenn man die eigenen normativen Vorprägung reflektiert und sich bemüht die Eigenlogik von Diktaturen ernst zu nehmen. Nur so könne man auch Legitimationsmuster erkennen, die der rationalen Matrix der liberalen Demokratie entgegenlaufen. Diktatorische Regime haben andere Werteordnungen, eine andere Erzählung und eine eigene Logik. Sich den Bewohner solcher Systemen als den ewig Unterdrückten, als den in frustrierter und selbst empfundener Unfreiheit Leidenden oder als von simpler Propaganda Überzeugten vorzustellen, führe in die Irre, so Sabrow.
Ein weiterer Themenkomplex, der während der Tagung immer wieder zur Sprache kam, war die enorme Bedeutung der internationalen Verflechtung von diktatorischen Regimen im 20. Jahrhundert. Erfolgreiche autoritäre Ordnungen waren gut vernetzt, suchten und fanden Verbündete und bemühten sich um einen Platz in der Welt. Hinzu kommt der internationale Wissenstransfer: Diktatoren beobachteten und erlernten Herrschaftspraktiken und zogen eigene Schlüsse aus dem Scheitern oder Gelingen anderer politischer Systeme. Im Laufe der Tagung wurde allerdings deutlich, dass das zentrale Alleinstellungsmerkmal des Zentrums für vergleichende Diktaturforschung nicht so sehr die Herrschaftspraxis verschiedener Diktaturen ist. Vielmehr soll versucht werden die Alltagswelt derjenigen zu ergründen, die Objekt und Subjekt dieser Praktiken sind, die in repressiven politischen Systemen leben, sich arrangieren, Unfreiheiten akzeptieren. Diese Menschen seien letztlich das Rätsel.
Die Tagung lieferte einen insgesamt differenzierten Blick sowohl auf die Funktionsweisen und Praktiken von Diktaturen als auch auf die Möglichkeiten und Schwierigkeiten einer vergleichenden Diktaturforschung, die den oben aufgezeigten Fragestellungen nachgehen soll. Die genaue Betrachtung von Diktaturen, das haben die angeregten Debatten gezeigt, offenbart neue Fragen, die über das simple Zusammentragen von Herrschaftspraktiken hinausgehen. Vielmehr tauchen ahistorische anthropologische Fragen auf: Was priorisieren Menschen in ihrem Leben? Was bedeutet Freiheit und wann ist sie für wen wichtig? Gibt es vielleicht doch das „richtige“ Leben im „Falschen“?
Konferenzübersicht:
Eröffnung und Keynote
György Dalos (Budapest): Große und Kleine Diktaturen
Panel I Herrschaftsdurchsetzung: Furcht und Teilhabe
Moderation: Iris Därmann (Kulturtheorie und Kulturwissenschaftliche Ästhetik, Humboldt-Universität zu Berlin)
Birgit Aschmann, (Europ. Geschichte des 19. Jahrhunderts, Humboldt-Universität zu Berlin)
Aloys Winterling, (Alte Geschichte, Humboldt-Universität zu Berlin)
Jörg Baberowski, (Geschichte Osteuropas, Humboldt-Universität zu Berlin,)
Sebastian Lange, (Theorie der Politik, Humboldt-Universität zu Berlin)
Panel II Wohlfahrt und Sicherheit
Moderation: Stefan Rinke, (Geschichte Lateinamerikas, Freie Universität zu Berlin)
Hannes Grandits, (Südosteurop. Geschichte, Humboldt Universität zu Berlin)
Stefan Kirmse, (Postsowjetische Republiken, Leibniz Zentrum Moderner Orient)
Daniel Hedinger, (Neueste- und Zeitgeschichte, Ludwig-Maximilians-Universität München)
Panel III Legitimität und Öffentlichkeit
Moderation: Michael Wildt (NS Geschichte, Humboldt Universität zu Berlin)
Benjamin Lahusen, (Juristische Fakultät, Humboldt-Universität zu Berlin)
Martin Sabrow, (Neueste und Zeitgeschichte Humboldt-Universität zu Berlin)
Sonja Hegasy, (Nordafrika, Leibniz-Zentrum Moderner Orient)
Klaus Mühlhahn, (Chinesische Geschichte und Kultur, Freie Universität Berlin)