Unter dem Titel „Grenzen der Expertise? Praktiken und Räume des Wissens“ veranstaltete das an der Universität Göttingen angesiedelte DFG-Graduiertenkolleg 1507 „Expertenkulturen des 12. bis 18. Jahrhunderts“ vom 26. bis zum 28. Oktober 2017 seine Abschlusstagung. Seit 2009 bot es den Rahmen für Forschungen von Doktorandinnen und Doktoranden sowie Postdoktorandinnen und Postdoktoranden zu den Trägern und symbolischen Formen von Expertenkulturen, wie sie die okzidentalen Gesellschaften seit der Vormoderne geprägt haben. Das abschließende Symposion sollte die Möglichkeiten und Grenzen des dabei zugrunde gelegten Ansatzes in zeitlicher und räumlicher Erweiterung ausloten und damit auch eine Evaluation der empirischen Anwendbarkeit sowie der interdisziplinären und interepochalen Dialogfähigkeit der Göttinger Expertenforschung ermöglichen.
Als Sprecher des Graduiertenkollegs eröffnete FRANK REXROTH (Göttingen) die Tagung, indem er mit den „Expertenbriefen“ des Petrus von Blois (1135–1203) auf das Thema einstimmte und die Ziele des Abschlusssymposions aufzeigte: Eine Ausweitung der im Graduiertenkolleg geleisteten Forschung durch eine zeitliche Öffnung hin zur Gegenwart des 21. Jahrhunderts und eine globale Ausrichtung.
So stand gleich das erste Panel zu den „Räumen des Wissens“ im Zeichen des global turn: Den Auftakt bildete der Vortrag von MARCEL BUBERT (Münster), der versuchte die vermeintliche Dichotomie zwischen dem kognitionspsychologischen Konzept von Expertise und dem sozialkonstruktivistischen Expertenbegriff zu überwinden. Hierzu beschrieb er zuerst die psychologische Perspektive auf das Phänomen Expertise als realer mentaler Fähigkeit, welches er in Konkurrenz zu einer sozialen Konstruktion von Expertise aus Sicht von Sozialhistoriker/innen betrachtete. Mit Beispielen aus dem Handbuch Friedrichs II. „Über die Kunst mit Vögeln zu jagen“ und Johannes Buridans Aristoteleskommentaren gelangte Bubert zu einer Definition des Experten, in der kognitive Fähigkeit und soziale Zuschreibung beim kreativen Lösen von Problemen miteinander vereint werden.
Der darauffolgende Vortrag von EKATERINI MITSIOU (Wien) führte nach Byzanz in die Zeit nach dem Ende des vierten Kreuzzuges (1204). Mitsiou ging der Frage nach, wie Wissen aus dem Westen, insbesondere aus Süditalien, durch reisende Franziskaner und Dominikaner nach Konstantinopel gelangte, sodass byzantinische Gelehrte wie Demetrios Kydones (ca. 1324–1397) die lateinische Sprache lernten und sogar zum Katholizismus konvertierten. Um diesen Go East besser zu verstehen, visualisierte sie ihre Ergebnisse mit Hilfe der sozialen Netzwerkanalyse, etwa durch das Ego-Netzwerk der Kaiserin Eirene Laskarina (ca. 1200–1241), dessen Alteri den Blick auf die Gelehrten im Umfeld der Herrscherin sowie deren Verbindungen zueinander eröffnen.
Im dritten und abschließenden Vortrag des Panels stellte MASAKI TAGUCHI (Sapporo) die verschiedenen Typen von Rechtsexperten in Japan vom 10. bis zum 19. Jahrhundert anhand zentraler Institutionen der Rechtsprechung vor. Den Großteil der japanischen Rechtsexperten von der Heian- bis zur frühen Kamakura-Ära (9. bis 13. Jahrhundert) stellten mit den sog. Myôbôka Gelehrte, welche das chinesische Recht des 3. vorchristlichen Jahrhunderts interpretierten. Ihre Methode beruhte auf Analogiefällen und der Suche nach Zwischenlösungen (Setchu). Während des Shogunats der Kamakura folgte mit dem Goseibai Shikimoku eine Sammlung von Präzedenzfällen, welche das Recht bis zum Beginn der Tokugawa-Zeit im 16. Jahrhundert prägte. Schließlich schilderte Taguchi die Kultur der Kuji-Yado. Dabei handelte es sich um Gasthäuser, in denen streitende Parteien während der Tokugawa-Ära (17. bis 19. Jahrhundert) rechtliche Beratung suchten, bevor sie vor Gericht zogen. Diese verglich er wiederum mit Preußens Justiz im 18. Jahrhundert, wobei er im transkulturellen Vergleich insbesondere die Alterität der europäischen und japanischen Rechtstraditionen herausstellte.
Den Abschluss des ersten Tagungstages bildete eine von MARIAN FÜSSEL (Göttingen) moderierte Podiumsdiskussion mit Vertreter/innen der verschiedenen Kohorten des Kollegs. Gemeinsam mit den anderen Tagungsteilnehmer/innen rekapitulierten TERESA SCHRÖDER-STAPPER (Duisburg-Essen, Koordinatorin von 2011 bis 2013), PIA DÖRING (Münster, Post-Doktorandin von 2012 bis 2013), INGA SCHÜRMANN (Göttingen, Kollegiatin seit 2015) und PHILIP KNÄBLE (Göttingen, Post-Doktorand seit 2015) das begriffliche Konzept des Graduiertenkollegs im Hinblick auf dessen Potential für die empirische Forschungspraxis und interdisziplinäre Zusammenarbeit. Im Diskussionsverlauf wurden sowohl die Potentiale, als auch die Grenzen des Expertenkonzepts als eine Art von kybernetischem Kommunikationsmodell für den interdisziplinären Austausch zwischen den Kollegiat/innen deutlich. Einerseits wurde das Bereichernde von Zugängen anderer Fachkulturen hervorgehoben, andererseits die Anschlussfähigkeit der Forschungsergebnisse im eigenen Teilfach problematisiert. Als Herausforderung für das Forschungskonzept wurde auch funktionale Diffusität vormoderner Expertenkulturen wahrgenommen, welche sich in hybriden Rollen wie dem Weltweisen äußert und Abgrenzungsprobleme aufwirft. Zugleich zeigte sich in der Diskussion noch einmal der Gegenwartsbezug des Expertenkonzeptes, da die Figur des Experten insbesondere durch die neuen Medien erneut in die Kritik geraten ist. Künftige Forschungsmöglichkeiten konstatierten die Diskutant/innen insbesondere bezüglich der Genderrolle von Experten sowie der Grenzen und dem Scheitern von Expertenkulturen.
Die zweite Sektion, die sich dem Zusammenwirken von Materialität und Expertise widmete, eröffnete ANNEMARIE KINZELBACH (München) mit einem Vortrag zur frühneuzeitlichen Medizingeschichte. Sie setzte sich darin kritisch mit dem konstitutiven Element des Sonderwissens auseinander. Anhand der „Schau“, einer von Stadtherren sowie Stadtärzten und anderem medizinischem Personal durchgeführten In-Augenscheinnahme Kranker, stellte sie dar, wie die Diagnose der Experten mit der begutachteten Person ausgehandelt wurde. Ausschlaggebend war dafür keineswegs deren medizinisches Sonderwissen, sondern eine Form von Konsenswissen, das auf geteilten Wahrnehmungen, Ansichten und Vorstellungen basierte. Die dabei sichtbar werdenden Interaktionsprozesse lassen sich demnach eher mit Kategorien des Marktes als mit solchen des Sonderwissens beschreiben.
Sehr konkret mit materiellen Fragen beschäftigte sich der zweite Vortrag von GABRIELLA SZALAY (Göttingen) über das Eindringen von Techniken der Materialherstellung und bearbeitung in den akademischen Diskurs des 18. Jahrhunderts. Am Beispiel des Göttinger Ökonomie-Professors Johann Beckmann zeigte sie, wie das Interesse von Gelehrten an dem dafür erforderlichen handwerklichen Wissen wuchs. In der wissenschaftlichen Auseinandersetzung damit entwickelten sie eine eigene Form des Spezialwissens, das als materielle Expertise bezeichnet werden kann.
Der darauffolgende Vortrag von STEFAN DROSTE (Göttingen) nahm militärische Projektemacher aus dem Zeitraum von 1650 bis 1750 in den Blick. Blieben die von ihnen den Herrschern unterbreiteten Projekte in den meisten Fällen ohne militärische Umsetzung, so zogen die Projektemacher dennoch das Interesse der Höfe, Märkte und Akademien auf sich. Die Durchführung eines Projekts diente dabei dazu, die bisweilen gegensätzlichen Vorstellungen der Zuschreibung von Expertise zu verhandeln. Dabei erwies sich, dass es für die beteiligten Akteure in gleichem Maß wichtig war, die Expertenrolle abzusichern und Wissen zu demonstrieren wie Neuerungen zu implementieren. Gleichzeitig blieben die dazu als Mittel dienenden Projekte stets mit unmittelbarer Materialität konfrontiert, da in ihnen die Kräfte ungezähmter Natur wirkten (z.B. bei Schwimm-Konstruktionen in reißenden Gewässern).
Der Einstieg in die dritte Sektion, die das praktische Wissen zum Leitthema hatte, erfolgte über eine Betrachtung gegenwärtigen ökonomischen Expertentums. Mit Hilfe eines diskursanalytischen Ansatzes zeigte JENS MAEßE (Gießen), dass Wirtschaftsexperten als diskursiv erzeugte Positionierungsarrangements hybride Gebilde sind, die in mehreren diskursiven Feldern zu verorten sind. Anhand des Beispiels der Organisation der Nachwuchsausbildung in Departments an britischen Universitäten stellte Maeße dar, wie es diesen Experten mittels verschiedener Positionierungsstrategien wie etwa Rankings und der anschließenden Vergabe von Mitteln gelingt, imaginäre Positionen in institutionelle zu übersetzen und auf diese Weise eine hegemoniale Deutungsposition innerhalb der globalen politischen Ökonomie zu erringen.
Im Anschluss wandte sich SUSANNE FRIEDRICH (München) mit ihrem Vortrag aus dem Bereich der niederländischen Seefahrtsgeschichte des frühen 17. Jahrhunderts erneut der Frühen Neuzeit zu. Ausgangspunkt bildete eine Ausschreibung der Staten-Generaal zur Lösung des in der damaligen Schiffsnavigation drängenden Problems der exakten Längengradbestimmung. Friedrich untersuchte, auf welche Weise sich Angehörige der niederländischen Ost-Indien-Kompanie innerhalb der von den Staten-Generaal eingesetzten Kommissionen als Experten inszenierten. Deren dabei geführte Auseinandersetzungen drehten sich um sozialen Status, wissenschaftliche Methoden und das Zugangsrecht zu Daten der Ost-Indien-Kompanie. Dadurch wurde der performative Aspekt des Expertenstatus deutlich: Neben der konstitutiven Fremdzuschreibung muss dieser immer auch – und immer wieder – durch dessen Inhaber hergestellt werden.
Es folgte GEORG FISCHER (Aarhus), der zeigte, wie in einer Zeit, in der internationale Geowissenschaften noch im Entstehungsprozess waren, das seltene Vorkommen des Rohstoffes Eisenerz weit auseinanderliegende Weltgegenden wie Minas Gerais in Brasilien, Wisconsin und England zu einer Produktionskette zusammenführte. Hierzu folgte er den Bemühungen des Direktors der University of Wisconsin, Charles Richard Van Hise, diesen weltweit größten Handelskomplex für Eisenerz zu gründen, und beleuchtete dabei das komplexe Geflecht von (Geo-)Wissenschaft, Wirtschaft und Politik.
CARSTEN REINHARDT (Bielefeld) beschloss das Panel mit einem Vortrag zur sogenannten „Chemopolitik“. Reinhardt entwickelte diesen Begriff eigens, um damit die Praktik der Einführung von staatlichen Grenzwerten für Chemikalien zu bezeichnen, die insbesondere seit den 1960er- und 1970er-Jahren allgegenwärtig sind. Dabei handelt es sich um ein hybrides Feld, in dem Politiker, Industrievertreter, Wissenschaftler und Aktivisten zusammentreffen. Eindrücklich führte Reinhardt vor Augen, wie Grenzwerte auf der Grundlage idealer Laborbedingungen, politischer und wirtschaftlicher Interessen bestimmt werden. Sie führen zu reguliertem Wissen über die Chemikalien und regulieren zugleich Wirtschaftsmärkte, so der Referent.
Im Abendvortrag thematisierte ERIC ASH (Detroit) den frühneuzeitlichen Experten. Zunächst wies er auf den Anachronismus des Expertenbegriffs hin, welcher bei unbedachter Anwendung auf die frühe Neuzeit zu einem Fortschreiben der Fortschrittsgeschichte und einer Glorifizierung der Gegenwart führe. Er füge sich ein in das attraktive Narrativ von immer besseren Maschinen, zunehmender individueller Freiheit und dem Sieg der Ratio durch die Aufklärung. Dieser anglo-amerikanischen „Disney-History“ setzte Ash daraufhin die Schattenseiten entgegen, etwa die Sklaverei, Kolonisation und die schlechten Lebensbedingungen der Arbeiter in europäischen Großstädten zur Zeit der Industrialisierung. Um ein ausgeglichenes Bild der Vergangenheit zu zeichnen schlug Ash daraufhin vor, den Begriff des Wissens zu erweitern, also den Mythos des „useful knowledge“ zu überwinden und andere Formen wie etwa „practical knowledge“, „local knowledge“ und „exchange of knowledge“ in das Konzept aufzunehmen. Dennoch solle der Expertenbegriff nicht aufgegeben, sondern stattdessen nur umsichtiger eingesetzt werden. Ein genaues Verständnis und die Wertschätzung von Expertise sei nämlich insbesondere gegenwärtig wichtig, da beispielsweise der Klimawandel von offensichtlich inkompetenten Machthabern verleugnet werde.
Das Symposion schloss am letzten Tag mit einer Sektion über die Grenzen von Expertise. BRIGITTE HUBER (Wien) erörterte, wie Expertenmeinungen gegenwärtig in österreichischen Tageszeitungen eingesetzt werden. Mittels einer quantitativ orientierten Inhaltsanalyse des „Standard“ sowie der „Kronenzeitung“ konnte sie nachweisen, dass der Einsatz von Experten in den Medien seit 1995 sukzessive zugenommen hat und sich vornehmlich auf die Meinungsberichterstattung konzentriert. Durch Interviews mit Expertinnen und Experten sowie Journalistinnen und Journalisten gleichermaßen vermochte sie ferner aufzuzeigen, dass inhaltliche Vorhersehbarkeit, Zuverlässigkeit und Prominenz einer Expertin oder eines Experten die zentralen Faktoren für deren oder dessen Medienpräsenz sind.
Im letzten Vortrag beschäftigte KLAUS OSCHEMA (Bochum) sich mit den Rechtfertigungsstrategien spätmittelalterlicher Astrologen. Anhand astrologischer Traktate ging er der Frage nach, wie diese Experten exponierte Ratgeberpositionen, zum Beispiel am Hof, einnehmen konnten, obwohl sie mit ihren Vorhersagen notwendigerweise immer wieder scheitern mussten. Er vertrat diesbezüglich die These, dass neben rhetorischen Strategien wie inhaltlicher Ambivalenz oder der Verlagerung von Verantwortung auf Dritte vor allem die Akzeptanz des Klienten relevant war. Diese hätten Astrologen wiederum weniger durch perfekte Zukunftsvorhersagen gewonnen, sondern indem sie ihnen praktische Orientierung in der Gegenwart anboten.
Die Beiträge und Diskussionen des Abschlusssymposion des Graduiertenkollegs 1507 haben gezeigt, dass sich das Göttinger Konzept der Experten und Expertenkulturen anschlussfähig zur aktuellen soziologischen, kommunikationswissenschaftlichen und wissenshistorischen Forschung erweist. Die räumliche Ausweitung des Themas hat Transferprozesse von Expertenwissen aufgezeigt, aber auch Alteritäten zwischen europäischen und nicht-europäischen Expertenkulturen verdeutlicht. Als Desiderate für künftige Forschungen zu dem Themenkomplex wurde in den Beiträgen wiederholt auf die Bedeutung von Materialität und Wissensformen jenseits des gelehrten Wissens (handwerkliches Wissen, practical knowledge) hingewiesen. Zudem wurde deutlich, dass Experten sich in der Gegenwart zunehmend in hybriden Feldern und Diskursformationen konstituieren, so dass ein Blick aus dieser Perspektive auch neue Impulse für die Expertenforschung in der Vormoderne ermöglichen könnte.
Konferenzübersicht:
I. Räume des Wissens / Spaces of Knowledge
Marcel Bubert (Münster): „The Attribution of What? Über mentale und kulturelle Grenzen in der historischen Expertenforschung“
Ekaterini Mitsiou (Wien): „The Networks of Byzantine Scholars in Late Byzantium and the Role of the Dominicans (13th–15th Century)“
Masaki Taguchi (Sapporo): „Rechtsexperten im vormodernen Japan? Betrachtungen im Vergleich mit Europa“
Podiumsdiskussion „Expert review: Bilanz – Kritik – Ausblick“
II. Materialität und Expertise / Material Expertise
Annemarie Kinzelbach (München): „Grenzen der Expertise oder gemeinschaftliches Wissen? Körperwissen und politisches, rechtliches und soziales Handeln in der Frühen Neuzeit“
Gabriella Szalay (Göttingen): „Materia technologica and the Practice of Material Expertise in the Long Eighteenth Century“
Stefan Droste (Göttingen): „Offensive Engines. Project-Makers and the Failure of Expertise“
III. Praktisches Wissen / Practical Knowledge
Jens Maeße (Gießen): „Die diskursive Logik ökonomischen Expertentums“
Susanne Friedrich (München): „Die Experten der niederländischen Ostindienkompanie in Kommissionen der Staten-Generaal im frühen 17. Jahrhundert“
Georg Fischer (Aarhus): „Translating Rocks. Brazilian Minerals in Globalizing Expert Cultures, 1876–1914“
Carsten Reinhardt (Bielefeld): „Chemopolitics. Regulation and Materiality in the Twentieth Century“
Keynote / Öffentlicher Abendvortrag
Eric H. Ash (Detroit):„What is an early modern expert? And why does it matter?“
IV. Grenzen der Expertise / Limits of Expertise
Brigitte Huber (Wien): „Funktionen und Grenzen medialer Expertise“
Klaus Oschema (Bochum): „Irren ohne zu scheitern. Warum (spät-)mittelalterliche Astrologen nicht immer Recht haben mussten“