Weltweit wurde in den vergangenen Jahrzehnten unter dem Leitbild einer nachhaltigen Entwicklung über ökologische, ökonomische und soziale Zusammenhänge diskutiert. Der Begriff der Nachhaltigkeit hat in dieser Zeit vielschichtige Bedeutungsebenen angenommen und ist in der Wissenschaft bisher hauptsächlich aus politik- und wirtschaftswissenschaftlicher Perspektive untersucht worden. Ziel des hier vorgestellten Workshops am Wissenschaftszentrum Umwelt der Universität Augsburg war es, im Rahmen des neuen Verbundprojekts „Geschichte der Nachhaltigkeit(en)“ eine zeithistorische Einordnung des Begriffs vorzunehmen. Die unterschiedlichen Bedeutungsdimensionen, Spannungsfelder sowie Widersprüchlichkeiten von Nachhaltigkeit sollten anhand von Diskursen und Praktiken in verschiedenen Räumen und Kontexten seit den 1970er-Jahren analysiert werden. Neben der Frage nach Ordnungsmustern und Interessen, welche den Nachhaltigkeitsdiskurs strukturierten, standen auch die Produktion und Anwendung von nachhaltigen Wissensbeständen in Wissenschaft, Politik, Wirtschaft sowie Zivilgesellschaft im Fokus der TeilnehmerInnen.
Der Workshop bildete die Auftaktveranstaltung für das vom Institut für Zeitgeschichte München-Berlin (Elke Seefried) organisierte und von der Leibniz-Gemeinschaft finanzierte Verbundprojekt. Weitere Projektpartner sind an der Universität Augsburg (Marita Krauss, Lehrstuhl für Europäische Regionalgeschichte sowie Bayerische und Schwäbische Landesgeschichte; Jens Soentgen, Wissenschaftszentrum Umwelt), am Herder-Institut für historische Ostmitteleuropaforschung (Christian Lotz), am Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (Fritz Reusswig) und am Rachel Carson Center der LMU München (Christof Mauch) angesiedelt. Das Format des Workshops spiegelte in seiner Gliederung die Struktur des transdisziplinär ausgerichteten Forschungsvorhabens wider und zielte darauf ab, den BearbeiterInnen der Teilprojekte die Möglichkeit zu geben, erste konzeptionelle Überlegungen zur Diskussion zu stellen.
Nach einleitenden Worten von JENS SOENTGEN (Augsburg) zur Architektur des Forschungsprojekts stellte ELKE SEEFRIED (Augsburg) die übergeordneten Thesen des Gesamtprojekts vor. Nachhaltigkeit, so die Ausgangsüberlegung, wurde in den letzten drei Jahrzehnten zu einem ubiquitären Begriff, welcher einer zeitgeschichtlichen Historisierung bedarf. Mit der breiten Verwendung des Begriffs durch verschiedene Akteursgruppen – sei es im politischen, unternehmerischen oder medialen Bereich – sei Nachhaltigkeit immer mehr zum vagen Leitbild geworden. In Bezug auf den im Titel des Workshops angedeuteten Plural „Nachhaltigkeiten“ hob Seefried die Bedeutung unterschiedlicher Diskursebenen und konkurrierender Bedeutungsdimensionen des Nachhaltigkeitsbegriffs hervor. Weiterhin zeigte Seefried auf, dass der stets bemühte Rückgriff auf Carl von Carlowitz und dessen Empfehlung einer nachhaltigen Nutzung des Waldes aus dem 18. Jahrhundert für die Geschichte der „Nachhaltigkeiten“ seit den 1970er-Jahren nicht unbedingt zielführend sei. Die Wurzeln des Nachhaltigkeitsdiskurses lägen vielmehr im Umwelt- und Ökologiebewusstsein, der Wachstumskritik, der Energie- und Ressourcenfrage sowie der wahrgenommenen Interdependenz von Umwelt und Entwicklung der 1970er- und 1980er-Jahre. Während der Nachhaltigkeitsdiskurs mit der Brundtland-Kommission seine Grundarchitektur erhielt, sei mit der UN-Konferenz für Umwelt und Entwicklung (die 1992 in Rio de Janeiro stattfand), eine politische Dynamisierung und partizipatorische Aufladung erfolgt, welche in der Agenda 21 mündete. Für die 1990er-Jahre führte Seefried zwei Beobachtungen an: Einerseits habe der Nachhaltigkeitsdiskurs aufgrund vorherrschender neoliberaler Denkmuster eine Ökonomisierung erfahren. Andererseits ließen aufkommende konkurrierende Bedeutungsdimensionen „Verflachungstendenzen“ (Jens Soentgen) des Begriffs erkennen, die es notwendig machten, eine Zeitgeschichte der Nachhaltigkeit aus einer transdisziplinären Perspektive zu schreiben.
Bevor die Teilprojekte vorgestellt wurden, vertiefte ARMIN GRUNWALD (Karlsruhe) in seinem Vortrag die bereits eingangs angesprochenen konkurrierenden Bedeutungsangebote von Nachhaltigkeit. Ausgehend von der Definition der Brundtland-Kommission, welche aus Sicht von Grunwald weniger als praktischer Handlungsvorschlag, sondern vielmehr als Reflexionsangebot zu verstehen sei, führte er aus, dass die Bedeutung nachhaltiger Entwicklung in einem unabgeschlossenen Prozess im Wechselspiel zwischen theoretischen, konzeptionellen und praktischen Bedeutungsangeboten erfolgt sei. Im zweiten Teil des Vortrags widmete er sich der politischen Dimension des Leitbilds nachhaltiger Entwicklung vor dem Hintergrund der Privatisierung. Besonderes Augenmerk legte Grunwald dabei auf die Verlagerung von Verantwortung für Nachhaltigkeit von der politischen auf die Ebene des privaten Konsums, welche in den letzten zehn Jahren zu beobachten gewesen sei. Die Individualisierung von ökologischen und sozialen Problemen sei mit einem erhöhten moralischen Druck und der Annahme einhergegangen, dass sich nachhaltige Entwicklung allein über den privaten Konsum steuern ließe.
Mit der Betrachtung ökologischer Leitbilder und daran orientierter Handlungen in der bundesdeutschen und britischen Energiepolitik seit den 1970er-Jahren durch EVA OBERLOSKAMP (München) setzte die Vorstellung und Diskussion der Teilprojekte ein. Im Mittelpunkt der vergleichs- und transfergeschichtlich ausgerichteten Arbeit Oberloskamps steht die Analyse der staatlichen Energiepolitik. Sie zeigte, dass sich in beiden Ländern im Zuge der „ökologischen Wende“, des Ölpreisschocks und der Problematisierung der Kernenergie in den 1970er-Jahren umfassende ökologische Perspektiven auf die Energiepolitik entwickelten, welche jeweils in unterschiedlicher Ausprägung Eingang in die politischen Debatten fanden und die Herausbildung ökologischer Leitbilder prägten. Während in der Bundesrepublik das Konzept einer umfassenden Energiewende entstand und zunehmend an Einfluss gewann, identifizierte Oberloskamp für Großbritannien lediglich eine punktuelle Bezugnahme auf den Diskurs „sanfter Energiewege“ und den Rückzug auf marktliberale Ordnungsmuster zur Lösung ökologischer Problemlagen. Auch hinsichtlich der aufkommenden Problematisierung der Treibhausgasemission in den 1990er-Jahren, machte die Referentin auf die unterschiedliche Beschaffenheit der Leitbilder aufmerksam. Während Großbritannien auf heimisches Gas und einen atomfreundlichen Kurs setzte, wurde die Debatte um den Klimawandel in Deutschland in das bestehende Leitbild der Energiewende integriert. Um den Begriff des „Leitbildes“ analytisch weiter zu schärfen, regte FRANK UEKÖTTER (Birmingham) in seinem Kommentar an, über Gegenbegriffe nachzudenken sowie eine klare Unterscheidung zwischen ökologischen und ökonomischen Leitbildern vorzunehmen.
PASCAL PAWLITTA (München) legte in seinem Vortrag dar, wie die Konzeptualisierung internationaler Klimapolitik aus einer zeithistorischen Perspektive analysiert werden kann. Mit der Gründung des Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) 1988 und den folgenden UN-Klimakonferenzen wurde das Klima zu einem politischen Verhandlungs- und Regelungsgegenstand. Im Zuge dieses langjährigen Aus- und Verhandelns von Klimathematiken verfestigten sich, Pawlitta zufolge, neben Nachhaltigkeitsnarrativen weitere Deutungs- und Zuschreibungsmuster, welche den politischen Diskurs über den Klimawandel im internationalen wie nationalen Rahmen formten und bis in die Gegenwart hinein strukturieren. Zudem zeigte Pawlitta, dass die Semantiken der Klimapolitik auf die besondere Rolle wissenschaftlicher Akteure bei der Konstruktion der Klimaproblematik hindeuten und damit, neben der staatlich-politischen und zivilgesellschaftlichen Akteursebenen, den analytischen Rahmen des Vorhabens definieren. Die diskursanalytische Herangehensweise hob EDGAR GRANDE (München) in seinem Kommentar als zielführend hervor. Hilfreich könnte bei der Betrachtung wissenschaftlicher Netzwerke zudem das Konzept der epistemic communities des Politologen Peter M. Haas sein.
Mit SABINA KUBEKĖS (Marburg) Analyse von Nachhaltigkeit(en) in Polen seit den 1970er-Jahren schließt das Verbundprojekt an die vielfältigen umwelthistorischen Forschungen der jüngeren Vergangenheit an, welche sich mit dem Ende des Kalten Krieges beschäftigen. Kubekė legte in ihrem Vortrag den Fokus auf die Frage, auf welche Art und Weise westliche Vorstellungen von Nachhaltigkeit nach dem Fall des Eisernen Vorhangs mit sowjetischen und polnischen Konzepten konkurrierten, übernommen wurden oder nationale Debatten beeinflussten. So ließe sich zwar beobachten, dass Polen mit der Absicht eines EU Beitritts in den 1990er-Jahren eine verstärkte Implementation westlicher Vorstellungen von Nachhaltigkeit verzeichnet habe, jedoch bereits vor 1991 in internationale Umweltdiskurse involviert gewesen sei und nationale Umweltstrategien ausgearbeitet wurden. Der Kommentator FLORIAN PETERS (Berlin) verwies ebenfalls auf die Bedeutung grenzüberschreitender Netzwerke und Wissenstransfers vor und nach 1990, betonte aber auch die sprachlichen und konzeptionellen Transferprobleme des Nachhaltigkeitsbegriffs im polnischen Kontext und machte daran die Bedeutung des Projekts fest.
KAREN FROITZHEIM (Augsburg) beschäftigte sich in ihrem Vortrag mit der Bedeutung von Nachhaltigkeit in deutschen und britischen Unternehmen im Zuge einer Ökonomisierung des Konzepts seit den 1990er-Jahren. Die verstärkte Rolle von Unternehmen als Akteure im globalen Nachhaltigkeitsdiskurs, insbesondere nach der Rio-Konferenz 1992, wirft für Froitzheim die Frage auf, inwiefern international agierende Unternehmen Nachhaltigkeitskriterien entwickelten, implementierten, kommunizierten und inszenierten und auf die Ausformierung des (politischen) Leitbilds ‚Nachhaltigkeit‘ einwirkten. Erste Analysen lassen unterschiedliche Geschwindigkeiten der Implementation zwischen der Chemie- und Pharmaindustrie gegenüber der Handels- und Konsumgüterbranche erkennen. Des Weiteren diskutierte Froitzheim die These, wonach in den britischen Unternehmen zunächst eine Fokussierung auf die soziale Dimension von Nachhaltigkeit zu beobachten sei, während in deutschen Firmen der Diskurs über ökologische Fragestellungen dominiert habe. In seinem Kommentar machte ROMAN KÖSTER (München / Freiburg) darauf aufmerksam, dass in deutschen und britischen Unternehmen bereits vor den 1990er Jahren Strukturen des Corporate Social Responsibilty (CSR) etabliert wurden und die Unternehmen im Bereich der ökologischen Kommunikation auf bestehende Erfahrungen zurückgreifen konnten. Vor diesem Hintergrund würden Prozesse des organisationalem Lernen ein weiteres lohnenswertes Untersuchungsfeld des Projekts darstellen. In der Diskussion wurde auf die Schwierigkeit hingewiesen, zwischen „Greenwashing“ und einer glaubwürdigen nachhaltigen Unternehmenspraxis unterscheiden zu können. Die Untersuchung von Konflikten der Unternehmen mit zivilgesellschaftlichen Akteuren könnte hier besonders von Interesse sein.
Der Beitrag von NADJA HENDRIKS (Augsburg) mit dem Titel „Global denken – lokal handeln: Nachhaltigkeit auf lokaler Ebene“, befasste sich mit der Ausgestaltung des Leitbilds nachhaltiger Entwicklung durch kommunale Akteure in Bayern. Für Hendriks ist dabei die Frage leitend, ob und in welcher Form sich Denkweisen und Handlungspraktiken kommunaler, zivilgesellschaftlicher Akteure durch das auf globaler Ebene verhandelte Leitbild einer nachhaltigen Entwicklung wandelten. Obwohl in der Agenda 21 die Kommunen als zentrale Akteure vorgesehen waren, offenbare die regionale Perspektive, dass die Initiative zur Aufnahme eines Agenda-Prozesses häufig aus der Zivilgesellschaft stammte. Hendriks machte jedoch auch deutlich, dass der Agenda-Prozess auf regionaler Ebene nicht nur auf Zustimmung stieß. Vielmehr äußerten meist linksorientierte Gruppen ihren Unmut, welcher letztlich eine breite Mobilisierung auf lokaler Ebene verhindert habe. KARL-WERNER BRAND (München) fügte in seinem Kommentar hinzu, dass die fehlende Mobilisierung auch auf den korporativen Charakter des Agenda-Prozesses zurückzuführen sei. Zudem sei es wichtig, zwischen städtischen und ländlichen Kommunen und ihren Spezifika – etwa der Prägung Augsburgs durch die Krise der Textilindustrie – zu unterscheiden.
Die Abschlussdiskussion des Workshops fokussierte die eingangs diskutierten konzeptionellen Fragestellungen und Chancen einer zeithistorischen Historisierung. Neben der einhelligen Zustimmung zur Grundausrichtung des Projekts kann die Diskussion in drei Punkte strukturiert werden: (I) Die vorgestellten Projekte haben deutlich gemacht, dass eine Binnenperiodisierung entlang der unterschiedlichen Diskursphasen von Nachhaltigkeit die analytische Tragfähigkeit des Begriffs unterstreicht. Die VeranstalterInnen betonten, es sei sinnvoll, zwischen der Formierung des Leitbilds, einer Phase der verstärkten Partizipation, welche unter anderem durch die Verbindung von Globalität und Lokalität gekennzeichnet war, sowie zwischen der Ökonomisierung nachhaltiger Entwicklungspolitiken zu unterscheiden. (II) Hinsichtlich einer räumlichen Betrachtung von Nachhaltigkeit(en) ist die Verbindung von globalen, nationalen und lokalen Verflechtungen von Bedeutung und legitimiert neben nationalen vor allem auch transnationale historische Zugriffe. (III) In Bezug auf Armin Grunwalds Beitrag reflektierte die abschließende Diskussionsrunde das Verhältnis zwischen Nachhaltigkeit und Macht. Die bereits von Edgar Grande zuvor angesprochene „Anmaßung der Weltrettung“, welche das Leitbild der nachhaltigen Entwicklung impliziere, thematisiere die Wechselwirkung zwischen politischer Regulierung und privater Lebensführung. Die historische Vermessung dieser Problematik deutet das Potenzial einer zeithistorischen Analyse von Nachhaltigkeitsdiskursen für die gegenwärtige Weiterentwicklung von sozialen und ökologischen Konzepten an.
Konferenzübersicht:
Elke Seefried / Jens Soentgen (Augsburg): Begrüßung und Einführung
Armin Grunwald (Karlsruhe): Die politische Dimension des Leitbilds nachhaltiger Entwicklung angesichts von Tendenzen der Privatisierung
Eva Oberloskamp (München): Aufbrüche zur Energiewende: Ökologische Leitbilder in der bundesdeutschen und britischen Energiepolitik
Frank Uekötter (Birmingham): Kommentar
Pascal Pawlitta (München): Die Entstehung der internationalen Klimapolitik
Edgar Grande (München): Kommentar
Sabina Kubekė (Marburg): Acting or Re-Acting. Negotiating Local, National and Transnational Dimensions of Sustainabilty in Poland since the 1970s
Florian Peters (Berlin): Kommentar
Karen Froitzheim (Augsburg): Nachhaltigkeit in Unternehmen: Konzepte, Praktiken, Spannungsfelder
Roman Köster (München / Freiburg): Kommentar
Nadja Hendriks (Augsburg): Global denken – lokal handeln: Nachhaltigkeit auf lokaler Ebene
Karl-Werner Brand (München): Kommentar
Abschlussdiskussion