Die vom Bonner SFB 1167 „Macht und Herrschaft – Vormoderne Konfigurationen in transkultureller Perspektive“ veranstaltete Tagung „Kritik am Herrscher – Möglichkeiten, Chancen, Methoden“ brachte WissenschaftlerInnen der Anglistik, Germanistik, Geschichtswissenschaft, Hispanistik, Islamwissenschaft, Japanologie, Koreanistik, Kunstgeschichte, lateinischen Philologie und Sinologie in Dialog, um Ausdrucksformen der Herrscherkritik transkulturell und interdisziplinär zu perspektivieren.
Im Namen der beiden Mitveranstalter eröffnete KARINA KELLERMANN (Bonn) die Tagung, die in ihrer spezifischen Struktur dem übergreifenden Anspruch des SFB 1167 Rechnung tragen sollte: Nach thematischen Gemeinsamkeiten ausgewählt präsentierten jeweils zwei Vortragende unterschiedlicher Fächer ihre Impulse zu Fragen der Herrscherkritik, die darauffolgend in einer moderierten Diskussion zueinander in Bezug gebracht wurden. Im Anschluss an die Grußworte des Prodekans VOLKER KRONENBERG (Bonn) und des SFB-Sprechers MATTHIAS BECHER (Bonn) führten ALHEYDIS PLASSMANN (Bonn) und CHRISTIAN SCHWERMANN (Bonn) anhand der Bildzeugnisse auf Flyer und Poster der Tagung in die Thematik ein: In einer Handschrift von Johns von Worcester Weltchronik ist der Traum Heinrichs I. von den drei aufbegehrenden Gesellschaftsständen visualisiert; ein Steinrelief des Familienschreins von Wu Liang zeigt eine Beratungsszene von König und Großen in institutionalisierter Form. Der interdisziplinäre Vergleich diente den beiden Organisatoren dabei als Grundlage, den vorab entwickelten Fragenkatalog vorzustellen und somit bereits übergreifende Diskussionsforen der Tagung zu profilieren.
In der ersten Sektion stellten ANNETTE GEROK-REITER (Tübingen) anhand des mittelhochdeutschen Eneasromans und LISA CORDES (München) am Beispiel panegyrischer Texte des römischen Prinzipats Formen der indirekten Herrscherkritik mit literarischen Mitteln vor. In beiden Vorträgen zeichnete sich ab, wie sprachliche und inhaltliche Umcodierungen existierender Diskurstraditionen den Weg zu einem neuen Herrschermodell bereiten können. Die Ausrichtung der jeweiligen Kritik an einen werdenden, aktuellen oder verstorbenen Herrscher sensibilisierte dabei für die Zeitlichkeit von Herrscherkritik.
Auf Grundlage kastilischer Romanzen zu Peter I. und Peter Paul Rubens ‚Medici-Zyklus‘ präsentierten GLORIA CHICOTE (Conicet, Argentinien) und BIRGIT ULRIKE MÜNCH (Bonn) Beispiele dafür, wie populäre Herrscherdiskussionen Eingang in die künstlerische Repräsentation finden: Während die kastilischen Gedichte Peter I. (reg. 1350-1369) dezidiert als Tyrannen markieren und damit die Herrscherkritik literarisch aufnehmen, setzt Maria de’ Medici (1575-1642) durch Rubens Bildzyklus einen Gegenentwurf zu der schwelenden Kritik an ihrer Person. Die Gegenüberstellung von Text- und Bildmaterial öffnete die interdisziplinäre Diskussion darüber hinaus für Fragen zu Medialität von Herrscherkritik.
In seinem öffentlichen Abendvortrag „Herrschaftsformen im interkulturellen Vergleich. Differenzieren und Typisieren auf den Spuren von Max Weber“ zeigte EGON FLAIG (Rostock / Berlin) grundsätzliche Verbindungslinien zwischen monarchischer Verfassung und der Möglichkeit zur Herrscherkritik auf. Konkret fokussierte er dabei auf den römischen Prinzipat, welchen er in Anschluss an seine 1992 publizierte Habilitationsschrift als Akzeptanzsystem charakterisierte. Die Stellung des römischen Kaisers war, wie FLAIG es formulierte, wenig „immunisiert“, d.h. er konnte zu Lebzeiten infrage gestellt und durch potentielle Konkurrenten „herausgefordert“ werden. Diesem System stehen Monarchien kontrastiv gegenüber, in denen nicht allein das Herrschaftssystem, sondern die Stellung des einzelnen Herrschers selbst soweit verrechtlicht war, dass dieser gegen entsprechende Anfechtungen – zumindest zu Lebzeiten – gefeit blieb. Da schwach immunisierte Monarchen auf kontinuierliche öffentliche Konsensbestätigung angewiesen waren, ließen Systeme wie das römische kaum Spielraum für direkte Herrscherkritik: Zwar konnte die römische Bevölkerung im Rahmen der Spiele Forderungen an ihren Herrscher herantragen, explizite Kritik indes implizierte die Aufkündigung des zentralen Akzeptanzverhältnisses. Insgesamt gelang es Egon Flaig auf diese Weise, die Bedeutung des Themas der Tagung für die übergeordnete Frage des gesamten Forschungsverbundes nach Macht und Herrschaft in vormodernen Gesellschaften instruktiv herauszuarbeiten.
Welch unterschiedliche Ausdrucksformen und diskursive Freiräume Herrscherkritik im interkulturellen Vergleich entwickeln kann, diskutierten HEINER ROETZ (Bochum) und MATTHEW STRICKLAND (Glasgow): Der Zerfall der alten politischen Ordnung im chinesischen Altertum (5.-3. Jahrhundert v. Chr.) lieferte den Nährboden, alternative Herrschaftsmodelle zu diskutieren, in denen das Recht auf Dissens und die Autonomie des Ratgebers als elementare Bestandteile von Herrschaft präsentiert wurden. Im Kontrast zu diesen offenen Diskussionen um das Herrschaftssystem an sich mussten die Autoren der englischsprachigen Historiographie subtilere Strategien (Traum, Vision oder Prophezeiung) anwenden, um an den normannischen und angevinischen Herrschern Kritik üben zu können.
Die vierte Sektion schärfte den Blick dafür, Herrscherkritik als Kontrollorgan und Kritiker als Sprachrohr der Beherrschten wahrzunehmen: MATTEW GIANCARLO (Lexington) präsentierte anhand französischer und britischer Fürstenspiegel des 13. Jahrhunderts eine literarische Form nicht-institutionalisierter Herrscherkritik, in welcher Herrscher und Herrschaft kommentiert werden konnte. In Kontrast dazu lieferte MARION EGGERT (Bochum) mit ihren Ausführungen zum Hof der Chosŏn-Dynastie (1392/1897 – 1910) ein Fallbeispiel für eine hochgradig institutionalisierte Bürokratie, die über ein fest installiertes Amt den Rahmen für Kritik und Rat bot. Dass die Berater am Chosŏn-Hof sich mitunter der chinesisch-konfuzianischen Tradition bedienten, um ihre Kritik zu legitimieren, knüpfte nahtlos an die Ausführungen von Heiner Roetz an.
Die Fragen nach Institutionalisierung und Formalisierung von Herrscherkritik setzten sich auch in den Präsentationen von LENA OETZEL (Salzburg) und MARTIN POWERS (Ann Arbor) fort: Lena Oetzel zeigte anhand der Beziehung von Elisabeth I. (1558–1603) zum englischen Parlament, dass Herrscherkritik in parlamentarischen Debatten, Bittschriften und Gesetzesvorlagen artikuliert werden konnte. Martin Powers führte aus, dass es während der Song-Dynastie (960-1279 n. Chr.) nicht nur für Kritik zuständige Ämter gab, sondern auch offizielle Beschwerdekanäle, welche prinzipiell allen Personen offenstanden. Zugleich verwiesen beide Vorträge auf die Bedeutung einer erweiterten kritischen Öffentlichkeit. So besehen müssen institutionalisierte und nicht institutionalisierte Formen der Herrscherkritik wohl eher als komplementäre Phänomene gedacht werden, nicht als substanziell geschiedene Kategorien des politischen Diskurses.
Kontrastiv hierzu stellten RAJI STEINECK (Zürich) und MAUREEN PERRIE (Birmingham) Formen nicht-institutionalisierter Herrscherkritik vor: RAJI STEINECK lenkte die Aufmerksamkeit auf den Mythos als dynamisches Medium der Herrscherkritik und führte anhand von Beispielen aus japanischer Antike und Mittelalter vor, wie Mythen zur Beglaubigung von Herrscherkritik funktionalisiert werden konnten. Maureen Perrie thematisierte den heiligen Narren als etablierten Typus des Herrscherkritikers im russischen Zarenreich des 15., 16. und 17. Jahrhunderts, dessen Legitimität sich aus seiner ursprünglichen Rolle als Prophet herleitete. Im Gegensatz zu den vorangehenden Beispielen parlamentarischer und amtlich regulierter Kritik fokussierten die beiden Vorträge damit Beispiele, in denen sich Herrscherkritik entweder in Form eines anonymen Kollektivs oder in Gestalt einer konkreten, sozial isolierten Einzelperson artikuliere.
In der siebten Sektion zeigten MOHAMAD EL-MERHEB (London) und STEPHEN CHURCH (Norwich), wie Kritik im Spannungsverhältnis von Herrschern und Eliten als Movens der Stabilisierung und Destabilisierung von Herrschaft instrumentalisiert werden konnte: Am Beispiel der gelehrten Elite der mittleren Periode in der syrisch-ägyptischen Geschichte (11. – 15. Jahrhundert) einerseits und der Königsherrschaft Johann Ohnelands (1199–1216) vom Sommer 1212 bis 1213 andererseits demonstrierten die Vortragenden, wie Beamte Kritikdiskurse aus Eigeninteresse heraus steuerten und wie abhängig die Perzeption von Kritik von der Legitimation und sozialen Stellung des Urhebers war. Die Sektion konnte dabei deutlich herausstellen, dass die Beschränkung herrscherlicher Gewalt ein zentrales Anliegen verkörperte.
Im Zuge der letzten Sektion präsentierten JAN-DIRK MÜLLER (München) auf Grundlage der panegyrischen und didaktischen Texte des Erasmus von Rotterdam und CHARLES WEST (Sheffield) anhand der Handschrift Paris Bnf Lat. 5095, inwiefern die Möglichkeiten der Herrscherkritik genregesteuert realisiert und die Grenzen derselben über Genrekritik erweitert werden können. Die unterschiedlichen lateinischen Quellen aus Historiographie, Panegyrik und Herrscherdidaxe führten dabei vor, dass sich Herrscherkritik in der europäischen Vormoderne allein im Raum indirekter Sprache realisieren kann – indem sie Vergangenes, nur potentiell Mögliches oder aber Fiktives zum Gegenstand der Kritik erheben.
Insgesamt konnte die Tagung herausstellen, dass Herrscherkritik von mehreren Parametern bestimmt wird: Freiräume für Kritik fallen in den diversen politischen Modellen unterschiedlich aus. Die frei formulierte spontane Kritik befindet sich an einem Ende des Spektrums, die Institution mit formalen Vorgaben am anderen Ende. Der direkten Kritik in dafür vorgesehenen Medien oder von dafür vorgesehenen Personen steht die indirekte Kritik gegenüber, die in unvorhersagbaren Formen und von Menschen außerhalb des Systems erfolgen kann.
Herrscherkritik ist ein Kommunikationsakt, dessen Zielsetzung im Wandel eines herrscherlichen Aktes, der Änderung der Herrschaftsform oder auch der Selbstvergewisserung politischer Parteien dienen kann. Die Herrscherkritik kann dabei durchaus situationsbedingt in unterschiedlichen Gattungen zur Sprache kommen, wobei indes die Gattung auch Einfluss auf die Methode der Kritik hat. Im Wechselspiel von Herrscher und Eliten ist die Herrscherkritik ein Machtinstrument, das nicht nur der Herrscherlenkung dient, sondern gegebenenfalls auch auf Erhalt oder Wandel eines Systems zielen kann.
Konferenzübersicht:
Sektion 1
Annette Gerok-Reiter (Tübingen): Variationen zwischen Herrscherkritik und -idealisierung in Veldekes “Eneasroman”
Lisa Cordes (München): Umkodierung und ihre Alternativen – Modi der Herrscherkritik im frühen Prinzipat
Sektion 2
Gloria Chicote (Conicet, Argentinien): The Rebellious Discourse of Popular Classes in the Castilian Romances of the XV and XVI Centuries
Birgit Ulrike Münch (Bonn): nòstre bon rei Enric und la grosse banquière – Formen der subtilen und offenen Herrscherkritik anhand von Visualisierungen zu Heinrich IV. von Frankreich und Maria de’ Medici
Abendvortrag
Egon Flaig (Rostock / Berlin): Herrschaftsformen im interkulturellen Vergleich. Differenzieren und Typisieren auf den Spuren von Max Weber
Sektion 3
Heiner Roetz (Bochum): Dissent Beyond the System in Ancient China
Matthew Strickland (Glasgow): Dreaming of Reform: Admonition and Visions as Criticism of the Ruler in the Anglo-Norman and Angevin Realms
Sektion 4
Matthew Giancarlo (Lexington): The Other British Constitution. Fürstenspiegel-Texts, Popular Constitution and the Critic of Kingship in the Franco-british De regimine-Tradition
Marion Eggert (Bochum): Speaking Up to the Monarch in Chosŏn Korea: Institutions, Procedures, Legitimations
Sektion 5
Lena Oetzel (Salzburg): Debating, Petitioning, Legislating. Criticizing the Monarch in 16th Century English Parliaments
Martin Powers (Ann Arbor): Theories of Dissent and their Institutional Correlates in China
Sektion 6
Raji Steineck (Zürich): Critical Mythologies in Ancient and Medieval Japan
Maureen Perrie (Birmingham): Holy Fools (iurodivye) as Critics of the Tsar in Early Modern Russia
Sektion 7
Mohamad El-Merheb (London): Criticizing the Rulers and Preserving the State: Patterns of Censure in Pre-Modern Islamic Political Thought
Stephen Church (Norwich): Criticizing King John before Magna Carta
Sektion 8
Jan-Dirk Müller (München): Panegyrik und Didaxe als Herrscherkritik
Charles West (Sheffield): „And how, if you are a Christian, can you hate the emperor?“ The Ninth-century Reception of a Seventh-century Scandal