Groß war der Rummel in Forschung und Medien im Jahr 2014, als sich der Beginn des Ersten Weltkrieges zum einhundertsten Mal jährte. Unzählige Konferenzen und Workshops, Dokumentationen und Ausstellungen untersuchten und erzählten die Geschehnisse rund um das Jahr 1914. Die Flut an Publikationen war und ist kaum zu überblicken. Nun, vier Jahre später, jährt sich das Kriegsende von 1918 zum einhundertsten Mal. Es ist an der Zeit, sich auch damit eingehender zu beschäftigen. Ziel der zu diesem Zweck veranstalteten, hochkarätig besetzten Veranstaltung war es, die unterschiedlichen Formen des Übergangs vom Krieg zum Frieden sowie den ‚Nach-Krieg‘ als eigenes historisches Phänomen zu betrachten und zu diskutieren. Das Jahr 1918 war dabei nicht nur das Ende einer Geschichte, sondern auch der Anfang einer neuen, unklaren Übergangsphase. Darauf verwies auch der Kommandeur des Zentrums für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr (ZMSBw) JÖRG HILLMANN (Potsdam) in seiner Einführung. Diese nutzte er zugleich für eine kurze Rückschau auf das Arbeiten und Wirken des ZMSBw und seiner Wissenschaftler/innen im Bezug auf das Forschungsfeld Erster Weltkrieg. Dabei merkte er selbstkritisch an, dass es immer noch nicht gelungen sei, die geografische Lücke Russland in der Weltkriegsforschung zu schließen. Ähnlich äußerte sich MICHAEL EPKENHANS (Potsdam), der leitende Wissenschaftler des ZMSBw in seinen einführenden Worten.
Den inhaltlichen Startpunkt der Tagung lieferte HOLGER AFFLERBACH (Leeds) mit seinem Vortrag „Von ‚Michael‘ zum Waffenstillstand. Deutschlands Weg aus dem Totalen Krieg“. In diesem bot Afflerbach einen detailreichen Überblick über die Lage der Mittelmächte seit 1916. Im Mittelpunkt seiner Betrachtungen stand dabei die spätestens seit 1916 auch strategierelevante Kriegsmüdigkeit der Bevölkerung. Die daraufhin von der deutschen Führung wiederholt formulierten Friedensangebote verhallten bei den Gegnern der Entente jedoch ungehört. In der deutschen Bevölkerung stieg währenddessen der Druck, den Krieg schnellstmöglich durch einen akzeptablen Frieden zu beenden. Dieser schien allerdings nach 1917 nur noch militärisch erreichbar. Die Vorstellung, das deutsche Militär könne die verlangte Offensive erfolgreich leisten, entpuppte sich jedoch 1918 während der ‚Michael-Offensive‘ als Irrtum. Erst das Scheitern von ‚Michael‘ zwang die deutsche Führung zum Umdenken und zur Suche nach neuen Strategien. Diese mündete schließlich – aufbauend auf Wilsons 14-Punkte-Programm – im Waffenstillstand vom November 1918. Afflerbach fasste seine Erkenntnisse abschließend dahingehend zusammen, dass es Deutschland 1917/1918 an dem Bewusstsein gefehlt habe, dass es längst nicht mehr um den Sieg ging, sondern nur noch um Schadensbegrenzung.
Daran anschließend stellte GERHARD P. GROSS (Potsdam) in seinem Vortrag „Hauptmann i.G. Friedrich Mewes, die Stimme der Obersten Heeresleitung im Ohr Wilhelms II.“ einen ungewöhnlichen jungen Offizier und Flügeladjutanten des Kaisers vor. Dieser sei für die Forschung von besonderem Interesse, da durch ihn die bestehende Forschungslücke der mittleren militärischen Führungsebene geschlossen werden könne. Er berichtete seiner Frau beinahe täglich über seine Arbeit in der Operationsabteilung der OHL, wobei er beinahe jede existierende Geheimhaltungsbestimmung verletzte. Im Mai 1916 wurde er zum Flügeladjutanten des Kaisers ernannt und wechselt damit vom militärischen Maschinenraum des Generalstabes direkt an die Seite des Kaisers. Dort, so Groß in seinen Ausführungen, wollte die OHL durch ihn subtil Einfluss auf den Kaiser und seine Entourage ausüben. Mewes war gewissermaßen der ‚Missing Link‘ zwischen der dritten OHL unter Hindenburg und Ludendorff einerseits und dem Kaiser andererseits. Er zeichnete sich dabei vor allem als genauer Beobachter der Verhältnisse und Stimmungen im kaiserlichen Hauptquartier aus. So müsse auch das bestehende Bild Wilhelms II. als abgeschalteter, ahnungsloser Oberbefehlshaber relativiert werden. Ganz im Gegenteil zeigte der Kaiser ein hohes Interesse an der militärischen Lage, wie sich unter anderem am täglichen, mehrstündigen Kartenstudium mit Mewes zeigte.
Der anschließende Beitrag von CHRISTOPH NÜBEL (Potsdam) „‚Geländebesitz‘ als militärisches und politisches Kapital 1918“ widmete sich einer völlig anderen Facette des Kriegsendes 1918. Er untersuchte mithilfe der Kategorie Raum das Handeln der OHL im Herbst 1918 unter besonderer Berücksichtigung militärischer und politischer Handlungslogiken. Im Kern fragte Nübel in seinem Vortrag also danach, wie die OHL ihre Befehle zum Halten der Front oder zum Ausweichen im Jahr 1918 begründete. Dabei wurde deutlich, dass sich die Argumentationsstrategie ab Ende September 1918 deutlich verschob. Bis dahin dominierte eher die militärische Logik, durch Aufgabe von Raum etwaZeit zu gewinnen oder Kräfte zu sparen. Dieser Fokus verschob sich nun zunehmend in Richtung einer politischen Legitimations-Logik. Das Halten von Raum und der größtmögliche Widerstand sollten nun die eigene Verhandlungsbasis mit den Gegnern im Westen stärken. Nübel verdeutlichte dabei in seinem Vortrag, dass Raum im Denken der OHL eine entscheidende Ressource darstellte, die sowohl militärische als auch politische Relevanz besaß. Er zeigte zudem anhand der untersuchten Befehle der OHL auf, dass es im Spätherbst 1918 zu einer zunehmenden Verschiebung des Primats kam, weg vom Primat des Militärischen und hin zum Primat des Politischen. Die OHL stellte diese politischen Argumente auch gezielt in den Mittelpunkt, erlaubte ihr dies doch sich anschließend der Verantwortung zu entziehen.
WENCKE METELING (Washington, D.C.) befasste sich in ihrem Vortrag „Das Offizierkorps und die Niederlage“ mit den Auswirkungen der gescheiterten Frühjahrsoffensive und dem Kriegsende 1918 auf das Offizierkorps. Im Mittelpunkt stand dabei der Umgang des Offizierkorps mit der Niederlage von 1918, wobei es zu großen Meinungsverschiedenheiten unter den Offizieren kam. So wurde die Niederlage von Teilen als Kampf von Moral gegen Material gedeutet, aus dem man schlussendlich als ‚eigentlicher‘ Sieger hervorgegangen sei. Einig war man sich aber in der Feststellung, dass das alte Heer ehrenvoll gekämpft hatte und schließlich unbesiegt geblieben sei – ein Topos, der vor allem durch die sogenannte Dolchstoßlegende instrumentalisiert wurde. Meteling verwies in ihrem Vortrag auch auf die dichotome Bedeutung von männlich starker Front und weiblich schwacher Heimat. Dies habe es den Soldaten – allen voran den Offizieren – ermöglicht, sich als Opfer der Heimat zu stilisieren. Nicht wenige von ihnen fühlten sich dabei von der sowie um die alte Heimat betrogen. Folge dieser Wahrnehmung waren eine zunehmende Radikalisierung des ehemaligen Offizierkorps und die Stärkung einer völkischen Wehrideologie in der Zeit nach 1920.
CHRISTIAN JENTZSCH (Potsdam) lenkte mit seinem Vortrag „Geschlagen und verrostet? Die Hochseeflotte im letzten Kriegsjahr: Operative Fähigkeiten und innere Verfassung“ den Blick auf die Rolle der Hochseeflotte im letzten Kriegsjahr. Jentzsch bot hierbei in einer Art Werkstattbericht erste Erkenntnis aus seinem aktuellen Forschungsprojekt zur Kaiserlichen Marine. Die als Mittel zur Abschreckung konzipierte Hochseeflotte war demnach zwar taktisch hervorragend geschult, doch fehlte ihr seit Kriegsbeginn ein realistisches operatives Ziel. Er verdeutlichte zudem anschaulich, dass das Jahr 1916 mit der Skagerrak-Schlacht der Wendepunkt für die operative Seekriegsführung der Hochseeflotte darstellte. Das häufig kolportierte Bild der Flotte, die ab Mitte des Krieges im Hafen geschlafen habe, gelte es aber kritisch zu hinterfragen. So blieben sowohl Einsatzbereitschaft als auch Moral in der Flotte bis September 1918 hoch. Jedoch verhinderte vor allem die Witterung größere Operationstätigkeiten der Hochseeflotte in den Jahren 1917 und 1918. Inwieweit sich die späteren revolutionären Ereignisse des Oktobers 1918 bereits vorher andeuteten, etwa in Logbüchern und Kriegstagebüchern, gelte es daher zu untersuchen, so Jentzsch.
Thematisch direkt daran anschließend betrachtete STEPHAN HUCK (Wilhelmshaven) in seinem Vortrag „Kriegsende und Revolution in Wilhelmshaven“ die Ereignisse rund um den Matrosenaufstand im Oktoberbeziehungsweise November 1918. Er bot dabei einen detailreichen Einblick in die Ereignisse rund um die Weigerung zum Auslaufen der Hochseeflotte zu einem vermeintlich ‚letzten Gefecht‘ Ende Oktober 1918 als Schlüsselereignis der Revolution und dem weiteren Verlauf der Ereignisse in und um die Garnison Wilhelmshaven. Neben einer Analyse der politischen Forderungen ging Huck dabei vor allem auf die Zeit nach November 1918 ein. Der Höhepunkt der Revolution in Wilhelmshaven war bereits mit der Ausrufung der Sozialistischen Republik Oldenburg / Ostfriesland am 10. November erreicht. Die Herrschaft des Arbeiter- und Soldatenrates, des sogenannten 21er-Rates, endete bereits im Februar 1919. Huck betonte, dass über die führenden Persönlichkeiten dieses Arbeiter- und Soldatenrates und deren Rolle während der Revolution bisher in der Forschung leider kaum etwas bekannt sei. Hier zeige sich ein lohnendes Forschungsfeld der kommenden Jahre.
Den Übergang von der Kaiserlichen Armee zur Reichswehr thematisierte PETER KELLER (Koblenz) in seinem Vortrag „Der Wiederaufbau der bewaffneten Macht, 1918-1921“. Entlang von drei Fragekomplexen beschäftigte er sich mit dem Übergang des Millionenheeres zum 100.000-Mann-Heer der Weimarer Republik. Dabei verdeutlichte er, dass der Ausgangspunkt für diese Entwicklung nicht der bekannte Ebert-Groener-Pakt gewesen sei, sondern sich vielmehr bereits im Vorfeld lokale Befehlshaber den neuen Machthabern zur Sicherung von Ruhe und Ordnung zur Verfügung gestellt hatten und damit Tatsachen schufen. Auf politischer Ebene skizzierte Keller den Kampf um die Ausgestaltung der neuen Reichswehr im Jahr 1919, insbesondere die Auseinandersetzungen zwischen den Gruppen der sogenannten ‚Technokraten‘ unter General Reinhardt und den ‚Attentisten‘ unter den Generalen Groener und Seeckt. Diese stritten vor allem über die Spitzengliederung der Reichswehr und deren Verhältnis zur politischen Führung. Dabei setzte sich Reinhardt zwar anfänglich mit seiner Idee eines dezidiert politisch-zivilen Oberbefehls durch, verlor jedoch in Folge des Kapp-Lüttwitz-Putsches das Vertrauen der Reichsregierung und demissionierte. Sein Nachfolger Seeckt betrieb daraufhin konsequent die Entpolitisierung und Abschottung der Reichswehr und schuf somit einen Staat im Staate mit den bekannten Folgen.
Den inhaltlichen Abschluss der Tagung bot SVEN OLIVER MÜLLER (Tübingen) mit seinem Beitrag „Gewaltgemeinschaften? Ausschreitungen von Zivilisten, Polizisten und Soldaten an der Heimatfront im Deutschen Reich“. In diesem widmete sich Müller anhand verschiedener Beispiele, unter anderem der berühmten Goldautos zu Kriegsbeginn, der Frage nach dem Einfluss von Gefühlen und Emotionen auf die Ausübung von Gewalt an der Heimatfront im Ersten Weltkrieg. Im Mittelpunkt standen dabei Gewalttaten von Zivilisten an Zivilisten, Kriegsgefangenen und Soldaten. Müller plädierte für die Etablierung einer Emotionsgeschichte der Gewalt. Emotionen seien erlernbare, soziale Phänomene und als Form von innergesellschaftlicher Kommunikation zu begreifen. Geteilte Emotionen könnten zudem das Entstehen von Gewaltgruppen fördern. So erleichtere die Kombination aus Emotionen, sozialen Einflüssen und politischen Interessen die Entstehung einer neuen Gemeinschaft der Gewalt. Diese Erkenntnisse gelte es in der Forschung stärker zu berücksichtigen und in weiterführenden Projekten zu untersuchen.
Die Tagung bot neben ihrer großen thematischen Breite rund um die Zeitenwende 1918/1919 vielfältige Anregungen zu neuen Forschungsthemen und Ansätzen rund um die Thematik Kriegsende, aber auch für die Zeit der Weimarer Republik. Sie stellte damit sowohl einen vorläufigen Abschluss des Schwerpunktthemas Erster Weltkrieg dar, als auch den Übergang zu der (jetzt sicherlich verstärkt rezipierten) Forschung zur Zeit der Weimarer Republik.
Konferenzübersicht:
Jörg Hillmann (Potsdam): Begrüßung
Michael Epkenhans (Potsdam): Einführung
Holger Afflerbach (Leeds): Von „Michael“ zum Waffenstillstand. Deutschlands Weg aus dem Totalen Krieg
Gerhard P. Groß (Potsdam): Hauptmann i. G. Friedrich Mewes, die Stimme der Obersten Heeresleitung im Ohr Wilhelms II.
Christoph Nübel (Potsdam): „Geländebesitz“ als militärisches und politisches Kapital 1918
Wencke Meteling (Washington, D.C.): Das Offizierkorps und die Niederlage
Stephan Huck (Wilhelmshafen): Kriegsende und Revolution in Wilhelmshaven
Christian Jentzsch (Potsdam): Geschlagen und verrostet? Die Hochseeflotte im letzten Kriegsjahr: operative Fähigkeiten und Innere Verfassung
Peter Keller (Koblenz): Der Wiederaufbau der bewaffneten Macht, 1918-1921
Sven Oliver Müller (Tübingen): Gewaltgemeinschaften? Ausschreitungen von Zivilisten, Polizisten und Soldaten an der Heimatfront im Deutschen Reich