HT 2018: Gespaltene Gesellschaften: Das Meer in der Antike: Spaltung und Polarisierung

HT 2018: Gespaltene Gesellschaften: Das Meer in der Antike: Spaltung und Polarisierung

Organisatoren
Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands (VHD); Verband der Geschichtslehrer Deutschlands (VGD)
Ort
Münster
Land
Deutschland
Vom - Bis
25.09.2018 - 28.09.2018
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Von
Oliver Bräckel / Friedrich Meins, Historisches Seminar, Universität Leipzig

In der Sektion „Das Meer in der Antike“ unter der Leitung von CHARLOTTE SCHUBERT (Leipzig) wurde das Thema der gespaltenen Gesellschaften im Hinblick auf die Frage nach der Rolle des Meeres als gleichermaßen trennende wie verbindende, aber vor allem doch auch „spaltende“ und „polarisierende“ Instanz variiert. Dies mag zunächst als einigermaßen assoziativ erscheinen. Dass aber gerade vor dem Hintergrund der Seeherrschaft Athens im 5. Jahrhundert v. Chr. sehr konkrete soziale und politische Folgen mit dem Anspruch auf die Beherrschung des Meeres verbunden waren, machte Schubert in ihrer Einführung, mit Verweis auch auf den jüngst von Ernst Baltrusch et al. herausgegebenen Band1, deutlich: Die Ansprüche Athens führten nicht allein zu einem Wettrüsten zweier verfeindeter Machtblöcke innerhalb der griechischen Stadtstaaten, an dessen Ende der Peloponnesische Krieg stand, in dem sich die „Seemacht“ Athen mit der „Landmacht“ Sparta konfrontiert sah und auch den eigenen Bündnern gegenüber nicht selten despotisch auftrat. Der Ausbau der attischen Flotte, später der Seekrieg, hatten auch unmittelbaren Einfluss auf Machtverhältnisse und -gefüge der attischen Demokratie: Die aufstrebende Klasse der Ruderer führte zu dem, was in manchen Quellen als Radikalisierung der Demokratie beschrieben wird. Die An- oder Abwesenheit bestimmter Heeresteile in Athen war oft gleichbedeutend mit der An- oder Abwesenheit bestimmter sozialer Gruppen bei wichtigen politischen Abstimmungen. Nicht zuletzt ist ein Zusammenhang zwischen dem Verlauf des Krieges und der Bürgerrechtspolitik in Athen zu beobachten. Neben dieser Bedeutung des Meeres für eine konkrete Epoche der griechischen Geschichte betonte Schubert aber auch die allgemein „spaltende“ Rolle des Meeres im räumlichen Sinne, durch die es einerseits zu einem eigenen Handlungsraum und andererseits zu einem Wahrnehmungsraum für Herausforderungen und Hoffnungen wurde. Die Beiträge der Sektion widmeten sich nun in ganz unterschiedlicher Weise der Rolle des Meeres vor dem Hintergrund seiner hier aufgeführten Eigenschaften, nahmen aber sämtlich ihren Ausgang in der historischen Epoche des klassischen Athen.

Zunächst sprach CHRISTOPH SCHÄFER (Trier) über die Rolle des Alkibiades in der Sizilischen Expedition, die für Athen ein Desaster wurde, dessen militärische und innenpolitische Konsequenzen bei Thukydides als der Anfang der Niederlage Athens dargestellt werden. Am Verlauf der Expedition bzw. ihrem Zustandekommen soll der Stratege Alkibiades nach Thukydides einen erheblichen Anteil gehabt haben. Schäfer ging zunächst darauf ein, dass Seefahrt im Allgemeinen und Seekriegsführung im Besonderen sowohl in den antiken Quellen als auch in der modernen Literatur immer wieder als riskante Unterfangen dargestellt worden sind. Er verwies auf moderne Konzepte strategischer Seekriegsführung, die dieser Problematik Rechnung tragen, etwa auf die Abhandlung Julian Staffort Corbetts2 aus dem frühen 20. Jahrhundert. Corbett habe hier eine Seekriegsführung empfohlen, die im Bewusstsein des hohen Risikos der (Segel-)Schifffahrt weniger auf eine massive Konfrontation setze, sondern vielmehr auf eine Kontrolle wichtiger strategischer Punkte. Ausgehend von dieser Grundannahme und auf der Grundlage eines feinen Netzes von Wind- und Wetterdaten, die im Mittelmeer von der National Oceanic and Atmospheric Administration mit hoher Dichte aufgezeichnet werden, sowie der neuen Erkenntnisse über die – überraschend guten – Segeleigenschaften antiker Trieren hat Schäfer im Folgenden die These entwickelt, es habe sich bei Alkibiades nicht um den von Thukydides charakterisierten Hasardeur gehandelt, sondern vielmehr um einen durchaus fähigen Flottenführer, dessen Ziele gerade in der angedeuteten Kontrolle wichtiger strategischer Punkte, der Unterbrechung der Getreidezufuhr der Peloponnesier und vor allem einer Erhöhung des ökonomischen Risikos bei der Nutzung der für Syrakus lebenswichtigen Seehandelsverbindungen bestanden hätten. Die thukydideische Darstellung der Expedition mit dem Ziel einer massiven Invasion und der Eroberung sikeliotischer Poleis mit dem bekannten desaströsen Ausgang könne als eine Fehlinterpretation der Strategie des Alkibiades durch Thukydides verstanden werden, der auch die Seekriegsführung aus der Perspektive der massiven Schlachten, wie sie in den Auseinandersetzungen der Hoplitenheere zu Lande die Regel waren, aufgefasst habe.

Es folgte der Vortrag von WERNER RIEß (Hamburg). Auch hier stand die schillernde Person des Alkibiades im Zentrum. Allerdings verfolgte Rieß einen literaturhistorischen Ansatz, wobei er solche dem Alkibiades zugeschriebenen „Gewalthandlungen“, die in einem „maritimen“ Kontext geschildert werden, bei den klassischen Geschichtsschreibern Thukydides und Xenophon und dem kaiserzeitlichen Biographen Plutarch miteinander verglich. Dabei ging es vor allem um die Herausstellung von Unterschieden, „[...] die in den unterschiedlichen Quellengattungen, den unterschiedlichen Kontexten der Abfassungszeit und den jeweiligen Intentionen der Autoren [...]“ zu suchen seien. Rieß betonte, dass eine Interpretation der Darstellungen „maritimer“ Gewalttaten nur im Kontext einer Gesamtbetrachtung sämtlicher mit der Person des Alkibiades verbundener Gewalttaten geschehen könne. Rieß’ Untersuchung beruhte auf dem von ihm entwickelten Informationssystem „ERIS. Hamburg Information System on Greek and Roman Violence“3. Für die hinsichtlich der Frage nach dem „maritimen“ Charakter wesentliche Lokalisierung spezifischer Gewalthandlungen wurden Gephi-Visualisierungen der in ERIS als csv-Liste hinterlegten Gewalthandlungen und der im Zusammenhang mit ihnen aufgeführten Örtlichkeiten für die einzelnen Autoren erstellt: Bei Thuykdides fänden sich lediglich wenige und ausschließlich zu Lande begangene Gewalthandlungen, wofür wohl vor allem die Tatsache verantwortlich sei, dass sich die großen Seeschlachten erst nach 411 ereigneten. Bei Xenophon, der mit den Hellenika eine Fortsetzung des Thukydides anstrebte, seien folgerichtig deutlich mehr Gewalthandlungen im Zusammenhang mit Alkibiades zu finden, auch solche zur See. Im Gegensatz zu den Historiographen fänden sich bei Plutarch schließlich mehr Gewalthandlungen, wovon ein Viertel in Athen selbst lokalisiert werde. In seiner Auswertung führte Rieß dies nicht zuletzt auf die charakterisierende Darstellungsabsicht des Biographen zurück, der die individuellen Handlungen der Akteure in den Vordergrund rücke, aber auch auf die Heraushebung der Hybris des Alkibiades durch Plutarch, die sich in seiner Gewalt gegenüber Landsleuten äußere. Rieß betonte abschließend, dass es ihm nicht um die Aufstellung neuartiger Thesen zu den behandelten Autoren gehe, sondern um einen proof of concept, aus dem zu ersehen ist, ob durch die datenbankgestützte Textanalyse auf der Grundlage eines Informationssystems valide Ergebnisse zu erhalten sind.

Den dritten und letzten Vortrag hielt MICHAELA RÜCKER (Leipzig). Sie widmete sich mit einem mentalitätsgeschichtlichen Ansatz der Wahrnehmung und Darstellung des Meeres bei ganz unterschiedlichen antiken Schriftstellern, nahm aber mit Platon ihren Ausgang ebenfalls bei einem klassischen Athener. Rücker kam einleitend auf das zu Beginn der Sektion aufgeworfene Thema der Dichotomie des Meeres zurück, vor allem vor dem Hintergrund seiner Rolle als Zerstörer einerseits und andererseits als Verheißung: Bereits das Epos habe die Gefahren der Seefahrt ebenso besungen wie den persönlichen Gewinn des Wagemutigen. Für die historische Zeit verwies Rücker unter anderem auf die in der Einleitung genannten politischen Folgen des Flottenaufbaus, hob aber darüber hinaus auch die Rolle für Handel, Wohlstand und Luxus in der Polis Athen hervor. Im Fokus des weiteren Verlaufs der Untersuchung stand dann allerdings die destruktive Kraft des Meeres. Rücker nahm ihren Ausgang beim Atlantismythos, wie er bei Platon im Timaios und im Kritias bruchstückhaft überliefert ist, und zog zu deren Interpretation unterschiedliche Passagen heran, die sich auf diese Stellen in Form von Paraphrasen beziehen und die mit Textminingtools aus dem Korpus der griechischen Literatur eruiert wurden. Diese wurden durch das im Rahmen des Projektes „Digital Plato“4 entstandene Tool zur Paraphrasensuche ermittelt. Rücker grenzte sich von den historisierenden Deutungen, die im Atlantismythos und der dort beschriebenen Handlung einer Konfrontation „Ur-Athens“ mit Atlantis eine Allegorie der Auseinandersetzung Spartas und Athens in klassischer Zeit sehen, ebenso ab, wie von denjenigen Vorstellungen, die einen tatsächlich wahren Kern der Erzählung annehmen. Rücker stellte die Frage, was in der platonischen Erzählung denn genau durch das Meer zerstört, und was als die genaue Ursache dafür genannt werde. Sie kam zu dem Schluss, dass zwar die Niederlage der Atlanter gegen die Ur-Athener eine Folge der Hybris sei, nicht aber das Versinken im Meer zu einem späteren Zeitpunkt. Ebenso sei der Untergang nicht als eine Sintflut mit kathartischem Effekt zu deuten, da von Atlantis ja nichts übriggeblieben sei. Dass Atlantis vom Meer verschlungen werde, das Heer der Alt-Athener jedoch von der Erde, könne dagegen darauf verweisen, dass Platon hier eine Konservierung eines idealisierten „Ur-Zustands“ andeuten wolle, der im Gegensatz zur metaphysischen Unbeständigkeit steht, die das „wahre Meer“, in dem Atlantis angesiedelt wird, bei Platon nach der Auffassung antiker Kommentatoren symbolisiere.

Der abschließende Kommentar von RAIMUND SCHULZ (Bielefeld) richtete den Blick zunächst zurück auf die makrohistorische Grundkonstellation der Thematik, indem er auf die nahe Bindung der griechischen und römischen Akteure an das Meer in Bezug auf Handel, Wirtschaft und die zahlreichen militärischen Auseinandersetzungen Bezug nahm. Schulz vertrat die Ansicht, dass das Meer nie ein eigenständiges und vom Land unabhängiges Interesse hervorrief, sondern im Gegenteil in einer strukturellen Anbindung an das Land gesehen wurde. Insofern könne man hier keinesfalls eine strukturelle Gleichrangigkeit erkennen, denn das Meer sei nicht unabhängig vom Land, jedoch das Land durchaus unabhängig vom Meer gedacht worden. Dies kam in den Einzelvorträgen in unterschiedlichen Akzentuierungen zum Ausdruck. Die von Christoph Schäfer interpretierte Sizilienexpedition sollte – wenn möglich – die Handelsverbindungen (vor allem mit Getreide) über See auf die Peloponnes kappen und testen, inwieweit die Athener ihre Macht auf Sizilien selbst gegen Syrakus etablieren konnten. Alkibiades, dem sich anschließend Werner Rieß widmete, musste vor allem mit dem Problem kämpfen, dass den Athenern nach der Sizilienexpedition weitaus weniger Ressourcen seitens der Bündner zur Verfügung standen und gleichzeitig die Spartaner, mit persischen Geldern unterstützt, sich eigene Flotten leisten konnten. All dies und der Ausgang des Peloponnesischen Krieges hatten enorme Auswirkungen auch auf die inneren Verhältnisse in Athen, denen abschließend Michaela Rücker nachging. Der Atlantismythos vereinte alte Vorbehalte gegenüber dem Meer und der maritimen Machtausdehnung mit aktuellen Erfahrungen in einer Zeit, in der eigene militärische Aktivitäten zur See zur Disposition standen und vor allem von den Adligen kritisiert wurden.

Die anschließende ausführliche Diskussion thematisierte insbesondere die Frage, ob ein Seekrieg unbedingt von einer oder mehreren Entscheidungsschlachten entschieden worden, bzw. ob nicht vielmehr das Vermeiden von Seeschlachten, eben durch das Abschneiden der Seerouten, wichtiger gewesen sei. Daran schloss sich die Frage nach der Rolle des Alkibiades und nach dem Verständnis der thukydideischen Darstellung an, da auch Thukydides das Abschneiden der Seerouten als einen wesentlichen Teil der militärischen Optionen überlieferte. Insgesamt wurde auch in der Diskussion deutlich, dass, um die Vorstellung von Meer und Land in der Antike zu verstehen, nicht nur das Verbindende – die „Konnektivität“ –, sondern vielmehr auch die Rolle des Meeres als spaltend und polarisierend in den Vordergrund gerückt werden muss. Das Meer hat schon immer eine gewisse Anziehungskraft ausgeübt. Das besondere Interesse eines Thukydides, Platon, Xenophon oder Plutarch an diesem ist wohl zum einen in der Dramatik begründet, die maritimen Operationen, in denen totales Scheitern und großer Gewinn stets nah beieinanderliegen, zu eigen ist. Zum anderen aber war das Meer eine Projektionsfläche nicht nur für allzu Menschliches, sondern für all diejenigen sozialen und politischen Gegensätze und Widersprüche, die die Gesellschaften des antiken Griechenland nach innen wie nach außen kennzeichneten.

Sektionsübersicht:

Sektionsleitung: Charlotte Schubert (Leipzig)

Charlotte Schubert (Leipzig): Einführung

Christoph Schäfer (Trier): „Die Kontrolle des Meeres: Alkibiades und die Sizilische Expedition“

Werner Rieß (Hamburg): „Gewalt und Meer: Maritime Gewalthandlungen des Alkibiades bei Thukydides, Xenophon und Plutarch im Vergleich“

Michaela Rücker (Leipzig): „Das Meer als Zerstörer“

Raimund Schulz (Bielefeld): Kommentar

Anmerkungen:
1 Ernst Baltrusch / Hans Kopp / Christian Wendt (Hrsg.), Seemacht, Seeherrschaft und die Antike, Stuttgart 2016.
2 Julian Staffort Corbett, Some Principles of Maritime Strategy, London 1911 (ND Annapolis 1988).
3 Vgl. dazu Werner Riess / Michael Zerjadtke, ERIS: Hamburg Information System on Greek and Roman Violence, in: Digital Classics Online 1 (2015), 70–75. https://doi.org/10.11588/dco.2015.1.19281.
4 Vgl. <https://digital-plato.org> (12.11.2018).


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