Der Workshop widmete sich laufenden Projekten zur Erforschung spätmittelalterlicher Höfe im Westen Europas. Ein besonderer Fokus lag dabei auf den Höfen der Valois-Herzöge von Burgund und dem französischen Königshof; die Beiträge beschäftigten sich jedoch mit vielfältigen Aspekten höfischer Kultur und deckten auch geographisch ein breites Feld ab.
Einführend skizzierten die Veranstalter ERIC BURKART (Trier) und KLAUS OSCHEMA (Bochum) wichtige Projekte zur Erforschung spätmittelalterlicher Höfe der letzten zwei Jahrzehnte und verwiesen auf im Umkreis einzelner Forscherpersönlichkeiten entstandene Arbeitsschwerpunkte. Mit dem Abschluss einzelner Großprojekte – aber auch angesichts der zunehmenden Methodenvielfalt – sei es daher aktuell wünschenswert, das Feld der spätmittelalterlichen Hofforschung neu zu vermessen. Dabei könnten nicht zuletzt auch laufende Einzelprojekte von einer verstärkten Vernetzung profitieren.
Die erste Fallstudie präsentierte ANDREW MURRAY (London) mit seinen ethnographisch inspirierten Forschungen zu den Trauerfeierlichkeiten für die burgundischen Herzöge. Dabei fokussierte er vor allem ein bei der Bestattung Philipps des Guten im Jahre 1467 von dessen Sohn und Nachfolger inszeniertes Schwertritual. Mit Andrew Brown1 verwies Murray darauf, dass das Konzept des theatre state nach Clifford Geertz2 in der burgundischen Hofforschung bisher einseitig so ausgelegt worden sei, dass höfischer Pomp dem Machtgewinn des Herzoghauses gedient habe. Dem stellte Murray entgegen, dass im Falle der ritualisierten Aufnahme des väterlichen Schwerts durch Karl den Kühnen dessen Macht auch dem Pomp dienen konnte: Das aktive Ergreifen des Schwerts in einer wohl nur für diesen Anlass erdachten Zeremonie, die allein aufgrund der faktischen Macht Karls im Kontext der Trauerfeierlichkeiten in dieser Form realisierbar war, habe ihm in Bezug auf die eigene Machtposition einen moment of self-realization vermittelt und im Zuge der symbolischen Übertragung der herzoglichen Macht auch die Möglichkeit eröffnet, die beanspruchte Unabhängigkeit vom französischen Königtum zu inszenieren. Bei der Bestimmung seines Machtbegriffs stützte Murray sich auf die Arbeiten von Rainer Forst,3 denen zufolge Macht Menschen nicht direkt dazu zwinge, etwas zu tun, sondern ihnen vielmehr Anreize für bestimmte Handlungen vermittle.
GEORG JOSTKLEIGREWE (Münster) stellte ein Projekt zu Parteikonflikten am französischen Königshof des 13. und 14. Jahrhunderts vor, das er aktuell gemeinsam mit OLIVIER CANTEAUT (Paris) bearbeitet. Dabei unterschied er zwischen real vorhandenen, meist latenten Parteikonflikten einerseits und Konfliktdiskursen andererseits. Aufgrund der Latenz der realen Konflikte hätten diese häufig keinen Niederschlag in den Quellen gefunden. Mit Blick auf die diskursive Ebene wies Jostkleigrewe den Gegensatz zwischen einer alteingesessenen Adels- und einer neu aufstrebenden Verwaltungspartei als fiktionales zeitgenössisches Motiv aus, das dennoch wirkmächtig gewesen sei, da sein diskursiver Einsatz auch auf die realen Parteikonstellationen zurückgewirkt habe. Die Konfliktdiskurse hätten, so Jostkleigrewe, zum einen das Potential besessen, Parteikonflikte auszuweiten und zu legitimieren. Zum andern konnten sie diese aber auch regulieren und kanalisieren, während sie, zum dritten, die société politique (Raymond Cazelles)4 strukturierten und stabilisierten.
Einen wirtschaftsgeschichtlichen Ansatz präsentierte LIENHARD THALER (Wien) anhand eines Vergleichs der höfischen Finanzen der Grafen von Tirol im 14. und 15. Jahrhundert mit jenen der Grafen von Flandern, der es erlauben sollte, Tirol aus einem oft landesgeschichtlich verengten Horizont herauszuheben und in einen weiteren europäischen Kontext einzubetten. Während aus wirtschaftshistorischer Perspektive der Hof mit seiner Prachtentfaltung oft als bloßer Kostenfaktor dargestellt werde, so betonte Thaler demgegenüber seine Funktion als zentrale Umverteilungsinstanz, ökonomischer Nachfragegenerator und Verwaltungszentrale. Thalers Analyse fokussierte die Einnahmen des Hofes, da hier die Quellenlage aufgrund von Rechenschaftsberichten der lokalen Amtsträger wesentlich besser sei als für die Ausgaben. Anhand mehrerer Stichproben konnte er zeigen, dass Tirol um 1300 noch wesentlich stärker auf Einnahmen aus der Grundherrschaft angewiesen war als Flandern, dass sich diese Abhängigkeit aber im Verlauf des 15. Jahrhunderts aufgrund des expandierenden Bergbaus in Tirol drastisch verringerte. Mit Blick auf die in der älteren Forschung oft vertretene Ansicht, die Hofhaltung sei "Privatsache" des Fürsten und damit größtenteils "Verschwendung" von "staatlichen Mitteln", unterstrich Thaler mit Mark Mersiowsky, dass Ehre und Prachtentfaltung für den spätmittelalterlichen Hof zentral und tendenziell wichtiger waren als streng ökonomisches Kalkül5.
Stark theoriebasiert ging DANIELA GERNER (Heidelberg) in ihrem organisationssoziologisch inspirierten Werkstattbericht vor, in dem sie poststrukturalistische Theorieangebote auf die Paratexte der astrologiekritischen Schriften von Nicole Oresme anwandte und diese im Anschluss an Michel Foucault als sites of knowledge/power identifizierte. Machtbeziehungen seien nicht einfach unidirektional und hierarchisch zu denken, sondern müssten relational konzipiert werden, wobei bereits durch die Übertragung von Aufgaben und Befugnissen an Untergebene ein subversives Potential entstehe. Unter Rekurs auf Gérard Genette,6 Christian Jacob7 und Stewart Clegg8 unterstrich Gerner am Beispiel Oresmes, dass sich dessen Patronageverhältnis nicht einfach als ein hierarchisches Abhängigkeitsverhältnis zu Karl V. von Frankreich verstehen ließe, sondern er mit seiner Divinationskritik durchaus unabhängige und unbequeme Ansichten vertreten habe.
CLAUDIA WITTIG (Gent) stellte weltliche und geistliche Höfe des 13. Jahrhunderts als Schnittstellen europäischer didactic communities vor. Ausgehend vom Selbstverständnis des höfischen Adels als moralisch überlegen, untersuchte sie die Reflexion und Vermittlung dieser Vorstellung durch didaktische Texte und konnte damit die höfische Kultur als "paneuropäisches didaktisches Netzwerk" fassen. Die zwischen den Höfen zirkulierenden didaktischen Texte des 13. Jahrhunderts schlugen dabei auf formaler und inhaltlicher Ebene neue Wege ein, indem sie zunehmend auf konkrete Anwendung ausgerichtet wurden und eine eher laikale Moral propagierten. Sehe man von klassischen hofkritischen Topoi ab, erscheine der Hof in diesen Texten als ein Ort der moralischen Selbstoptimierung des Adels, die durch die Imitation vorbildlicher Höflinge erfolgt sei. Der "reale" Hof bildete ein Zentrum der Produktion, Rezeption und Verbreitung dieser didaktischen Texte, die auch Aufschlüsse über den niederen Adel geben und die Parallelen zwischen weltlichen und geistlichen Höfen verdeutlichen könnten.
Einen vergleichenden Blick auf die nordwestdeutschen Verhältnisse warf FLORIAN DIRKS (Bremerhaven) mit seinen Ausführungen zu den Höfen der Erzbischöfe von Bremen, der Herzöge von Braunschweig-Lüneburg sowie der Grafen von Hoya. Er relativierte insbesondere deren auf Peter Moraw zurückgehende Einordnung als königs- beziehungsweise reichsfern: Wenngleich die betreffenden Höfe – nicht zuletzt aufgrund der Quellenlage – in ihren Eigenheiten oft schwer zu greifen seien, so ließen sich doch durch die Untersuchung der Hinweise zu anwesenden Personen und insbesondere zu den überregional ausgreifenden Kontakten weiterführende Einblicke gewinnen.
Einen spezifisch städtischen Blick auf den Hof eröffnete SIMON LIENING (Köln), der am Beispiel Straßburgs die innerstädtischen Voraussetzungen, die Organisation und die Durchführung von städtischen Gesandtschaften an fürstliche Höfe im 15. Jahrhundert aufzeigte. Er stellte insbesondere die reiche Überlieferungsgrundlage heraus, welche die im Zuge dieser diplomatischen Verhandlungen entstandenen Gesandtschaftsberichte darstellen, die detaillierte Informationen über Ereignisse und Konstellationen an den besuchten Höfen böten und zugleich als wichtige Quelle für die Wahrnehmung des Hofes aus der Perspektive städtischer Eliten dienen könnten.
Eine vergleichende Perspektive bot schließlich MICHAEL KIEFER (Heidelberg) mit seiner Arbeit zur Kleidung spätbyzantinischer Kaiser, die er anhand westeuropäischer, byzantinischer und mongolisch-iranischer Bildquellen untersuchte. Dabei zeigte sich, dass "orientalische" Einflüsse wesentlich stärker waren als westeuropäische. Zu erklären sei dieses Phänomen wahrscheinlich damit, dass der lateinische Westen mit seinem konkurrierenden Anspruch auf Nachfolge im Römischen Imperium und einer von der Ostkirche abweichenden Variante des christlichen Glaubens eine kulturell-religiöse Sphäre dargestellt habe, die aus byzantinischer Perspektive nicht nachgeahmt werden sollte. Die östlichen Reiche stellten für Byzanz hingegen zwar eine militärische, nicht jedoch eine kulturell-identitäre Bedrohung dar, weshalb hier die Übernahme von modischen Aspekten der Herrschaftsrepräsentation möglich gewesen sei.
In der Abschlussdiskussion hoben die Veranstalter die methodische und perspektivische Vielfalt der vorgestellten Projekte hervor, die auf die Vielgestaltigkeit der spätmittelalterlichen Höfe selbst verweise und zugleich die Lebendigkeit der aktuellen Forschung belege. Vor diesem Hintergrund stellten sie einen zweiten Workshop in Aussicht, der im Sommer 2019 in Bochum die begonnene Vernetzung fortführen solle. Die Teilnehmer/innen unterstrichen die Fruchtbarkeit des offenen Formats, das die informelle Kommunikation und den Austausch befördert habe. Für die Planung der Folgeveranstaltung wurde zugleich vorgeschlagen, eine stärker fokussierte Vergleichsperspektive einzunehmen, etwa durch thematische Engführung auf spezifische Dimensionen der höfischen Kultur.
Konferenzübersicht:
Sektion 1: Fokus Burgund und Frankreich
Moderation: Simon Karstens (Trier)
Andrew Murray (London): The “Theatre State” and Mourning Ritual at the Burgundian Court
Georg Jostkleigrewe (Münster): Struktur durch Konflikt. Hofparteien und Parteidiskurse im französischen Spätmittelalter
Sektion 2: Vergleiche und Kontakte
Moderation: Simon Karstens (Trier) / Klaus Oschema (Bochum)
Lienhard Thaler (Wien): Geld und Grafenhof. Die Einnahmen der Grafen von Tirol im 14. und 15. Jahrhundert, mit einem Vergleich zu den Einnahmen der Grafen von Flandern
Daniela Gerner (Heidelberg): Translation Movements in the Euromediterranean. Power and the Politics of Knowledge in the Interplay between Latin, Arabic and Romance Languages
Claudia Wittig (Gent): Weltliche und geistliche Höfe als Schnittstelle europäischer “didactic communities” im Mittelalter
Florian Dirks (Bremerhaven): Höfe im Nordwesten des Reichs im Spätmittelalter am Beispiel der Erzbischöfe von Bremen, Herzöge von Braunschweig-Lüneburg und der Grafen von Hoya
Sektion 3: Andere Milieus, andere Räume…
Moderation: Eric Burkart (Trier)
Siemon Liening (Köln): Agieren – Verhandeln – Berichten. Städtische Gesandte an europäischen Höfen
Michael Kiefer (Heidelberg): Zum Habitus höfischer Eliten des byzantinischen Spätmittelalters
Anmerkungen:
1Andrew Brown, Civic Ceremony and Religion in Medieval Bruges c. 1300–1520, Cambridge 2011.
2Clifford Geertz, Negara. The Theatre State in Nineteenth Century Bali, Princeton, N.J. 1980.
3Rainer Forst, Normativität und Macht. Zur Analyse sozialer Rechtfertigungsordnungen, Berlin 2015.
4Raymond Cazelles, La société politique et la crise de la royauté sous Philippe de Valois, Paris 1958.
5Mark Mersiowsky, Der Weg zum Übergang Tirols an Österreich 1363: Anmerkungen zur Politik im 14. Jahrhundert, in: Christoph Haidacher / Leo Andergassen (Hrsg.), 1363–2013. 650 Jahre Tirol mit Österreich (Veröffentlichungen des Tiroler Landesarchivs, 20), Innsbruck 2015, S. 9–53.
6Gérard Genette, Seuils (Points Essais, 474), Paris 2002.
7Christian Jacob, Lieux de savoir. Bisher 2 Bde., Paris 2007–2011; ders, Qu'est-ce qu'un lieu de savoir? Marseille 2014.
8Stewart Clegg, Frameworks of Power, London 1989.