Der letzte Wille. Norm und Praxis des Testierens in der Neuzeit / L’ultima volontà. Norma e pratica delle disposizioni testamentarie in età moderna

Der letzte Wille. Norm und Praxis des Testierens in der Neuzeit / L’ultima volontà. Norma e pratica delle disposizioni testamentarie in età moderna

Organisatoren
Siglinde Clementi, Kompetenzzentrum für Regionalgeschichte, Freie Universität Bozen/Brixen; Margareth Lanzinger, Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Universität Wien; Drittmittelprojekt „The Role of Wealth in Defining and Constituting Kinship Spaces from the 16th to the 18th Century“
Ort
Brixen
Land
Deutschland
Vom - Bis
19.10.2018 -
Url der Konferenzwebsite
Von
Helena Iwasinski, Historisches Seminar, Leibniz Universität Hannover

Der internationale Workshop befasste sich sowohl mit den testamentarischen Verfügungen selbst als auch mit deren familialen und sozialen Wirkmacht. Im Zentrum standen Norm und Praxis des Testierens und ihre unterschiedlichen geschlechterspezifischen Charakteristika.1 Das Augenmerk lag dabei auf Testierpraktiken adeliger, handwerklicher, städtisch-gewerblicher und bäuerlicher sowie ländlicher und städtischer, christlicher und jüdischer Kontexte. Die Vortragenden fragten, welche Arten von Vermögen (materiell und immateriell) Männer, Frauen und insbesondere Witwen im Todesfall hinterließen, wie dieses von welchen an welche Personen transferiert werden sollte, wie und welche sozialen Beziehungen darüber strukturiert, negiert und sanktioniert wurden. Eröffnet wurde der auf Deutsch und Italienisch mit Simultanübersetzung veranstaltete Workshop von den Organisatorinnen MARAGRETH LANZINGER (Wien) und SIGLINDE CLEMENTI (Bozen / Brixen) mit einem einführenden Referat, in dem sie die Quellengattung Testamente in der gegenwärtigen sozial-, kultur- und rechtsgeschichtlichen Forschung sowie dem Feld der materiellen Kultur verorteten und offene Forschungsfragen formulierten. Sie wiesen darauf hin, dass sowohl Testatoren und Testatorinnen als auch die von ihnen Bedachten unterschiedliche Erwartungen an Testamente knüpften. Ihre volle rechtliche, soziale, familiale sowie geschlechterspezifische Wirkmacht entfalteten diese Rechtsdokumente erst nach dem Tod der Testatoren und Testatorinnen. Testamente waren Teil einer gesellschaftlichen Rechtspraxis, die unterschiedlichen geltenden Rechten und Normen unterlagen, so Lanzinger und Clementi. Sie plädierten eindringlich dafür Testamente in ihrem rechtlichen Entstehungskontext zu untersuchen und danach zu fragen, ob Testatoren und Testatorinnen über die Freiheit zum Testieren verfügten, wie Ehegüter- und Erbrecht sowie andere Vertragsarten auf die Inhalte von Testamenten einwirkten, welche Personen in den Prozess des Erstellens dieser Rechtsdokumente eingebunden waren und wie deren Rechtsgültigkeit erzeugt wurde.

ANNA BELLAVITIS (Rouen) problematisierte in ihrem Beitrag zu Erbfolge- und Nachfolgeregelungen in mündlichen venezianischen Testamenten, das rechtsgültig-Werden dieser Testamente. In Gerichtsquellen werden die Inhalte dieser Testamente, die Räumlichkeiten, die Begleitumstände sowie die am Testierakt beteiligten Personenkreise ersichtlich. Die Anwesenheit eines Notares und insbesondere die von glaubwürdigen und wahrhaften Zeugen und Zeuginnen, die entscheidender war als deren jeweilige Beziehung zum Testator / zur Testatorin, waren Voraussetzung zur Erlangung der Rechtsgültigkeit von mündlichen Testamenten, so Bellavitis. Zugleich wies sie daraufhin, dass mit mündlichen Testamenten die gesetzliche Erbfolge umgangen werden konnte und sich ein unterschiedliches Testierverhalten von Männern und Frauen nachweisen lässt.

Am Fall des Testaments des württembergischen Herzogs Ulrich aus den 1530er-Jahren konnte MICHAELA HOHKAMP (Hannover) aufzeigen, dass fürstliche Testamente auf langwierigen Aushandlungsprozessen basierten und ein Fürst nicht über die Handlungsfreiheit verfügte, die Sukzessionsfolge in seinem Territorium nach ‚eigenem Willen‘ zu ändern. Vielmehr musste diese mit verschiedenen Rechten, so dem ‚gemeinen Lehnrecht‘, dynastischen Verträgen und Rechten in Einklang stehen. Das Fachwissen von juristischen Gelehrten hierüber war in diesem Kontext von zentraler Bedeutung und ihr Mitwirken an den Aushandlungsprozessen unabdingbar, so die Referentin.

BEATRICE ZUCCA MICHELETTO (Cambridge) zeigte anhand von Testamenten von Frauen und Männern aus Turiner Handwerkerfamilien zwischen dem 17. und 19. Jahrhundert ein differenziertes Testierverhalten der Geschlechter auf. Männer umgingen demnach mit Testamenten die gesetzliche Erbfolge, übertrugen das Erbe auf die männliche Linie und unterbanden die gesetzlich vorgeschriebene Rückzahlung der Mitgift an die Ehefrau im Witwenfall. Eine solche Rückzahlung hätte nach Auswertung der post mortem erstellten Inventare den wirtschaftlichen Ruin der Handwerksbetriebe zur Folge gehabt. Stattdessen sprachen die Ehemänner den Frauen einen lebenslangen usus frcutus am Erbe zu. Im zweiten Teil ihres Vortrages wies Zucca Micheletto darauf hin, dass die Testamente der Angehörigen der Turiner Handwerkerfamilien auch als Quelle für die vorindustrielle Arbeitswelt und die Migrationsbewegungen von Arbeitern und Arbeiterinnen gelesen werden können. Demnach werden durch die in den Testamenten gestifteten Vermächtnisse ‚unbezahlte‘ Arbeit von Frauen, Kindern und Enkelkindern sowie verschiedentlich gestaltete Arbeitsbeziehungen in handwerklichen Betrieben sichtbar.

CHARLOTTE ZWEYNERT (Hannover) setzte sich in ihrem Vortrag methodisch-theoretisch mit den Begriffen „Kapital“, „Ressource“ und „Vermögen“ auseinander und nutzte diese als Analysekategorien, um zu untersuchen, welche Wirkmacht die in Testamenten vollzogenen Zuschreibungen und transferierten Gegenstände entfalten können. Dabei legte sie den Fokus auf die Testamente der Schriftstellerinnen Anna Louisa Karsch und deren Tochter Caroline Luise Klencke. Ausgehend von intergenerationellen Transfers von Gegenständen, die jeweils einen spezifischen sowie situationsbezogenen Symbolgehalt im familialen Gefüge einnahmen, arbeitete Zweynert heraus, wie die beiden Testatorinnen sich jeweils selbst und gegenseitig durch die Gegenstände als schreibende Frauen positionierten und die zukünftige gesellschaftliche Verortung und Tätigkeit der Enkelin beziehungsweise Tochter Helmina von Chézy als Schriftstellerin festzulegen versuchten. So wurde deutlich, dass in den Testamenten Vermögen sowohl als materieller Wert als auch als Handlungsoption transferiert wurde, dass von den im Testament bedachten und positionierten Personensituativ variierend als Ressource genutzt und in soziales Handeln transferiert werden konnte.

Der Vortrag von JOHANNES KASKA (Wien) und JANINE MAEGRAITH (Wien / Cambridge) beruhte auf der Analyse von bäuerlichen und städtischen Testamenten vom 15. bis zum 18. Jahrhundert dreier verschiedener Gerichtsräume in Südtirol – dem Gericht Schlanders, dem Stadtgericht Brixen sowie dem Hofgericht Sonnenburg, die alle den rechtlichen Bestimmungen der Tiroler Landesordnung unterlagen. Sie stellten heraus, wie der quantitative und qualitative Umfang von Testamenten im Verlauf der Jahrhunderte in den Gerichtsräumen zunahm, wie sich deren inhaltliche Gestaltung und das geschlechterspezifische Testierverhalten veränderte und wie Testatoren und Testatorinnen Testamente zur Versorgung der eigenen Angehörigen sowie zur Absicherung des eigenen Seelenheils nutzten. Letzteres wurde durch Stiftungen von geistlichen Legaten erwirkt, die in erster Linie von wohlhabenden Angehörigen der ländlichen Bevölkerung sowie den städtischen Bewohnern und Bewohnerinnen gestiftet wurden. Dies führten Kaska und Maegraith auf die unterschiedliche strukturelle Gestaltung von städtischem und ländlichem Vermögen zurück, mit dem in den ländlichen Regionen in erster Linie der Fortbestand des Hofes gesichert werden musste. In diesem Kontext wiesen Kaska und Maegraith auf die soziale Funktion der geistlichen Legate hin, die ihre Wirkmacht durch Begräbnisse sowie das öffentliche Zelebrieren von Seelenmessen zu Gunsten der verstorbenen Testatorinnen und Testatoren und deren Angehörigen entfalteten.

Dass auch Kleinbauern testierten sowie ihr Testierverhalten thematisierte GERTRUD LANGER-OSTRAWSKY (St. Pölten). Sie bezog sich dabei auf circa 200 ausgewertete Testamente der Stiftsherrschaft Göttweig aus dem Zeitraum zwischen 1780 und 1848, in der kein geltendes Erbrecht existierte, sondern die ungeteilte Besitzweitergabe vorherrschte. Rechtliche Grundlagen für die testamentarischen Besitztransferprozesse bildeten das „Erbzinsrecht“ sowie maßgeblich das Ehegüterrecht in Form der Gütergemeinschaft. In Heiratsverträgen, die im niederösterreichischen Landesarchiv überliefert sind und dort unmittelbar zusammen mit den Testamenten gelagert wurden, wurde bereits die Besitznachfolge definiert. Oftmals nutzten Testatorinnen und Testatoren diese Rechtsdokumente, um das Verhalten ihrer nahen Angehörigen und Verwandten sowie die außerfamilialen Beziehungen zu regulieren, zu belohnen und zu sanktionieren. Zudem geben die bäuerlichen Testatorinnen und Testatoren in ihren Testamenten verschiedentlich Auskunft über sich selbst, ihr Leben, ihre Beziehungen, ihr Agieren, ihre Emotionen und können daher auch als Ego-Dokumente gelesen werden, so Langer-Ostrawsky.

Jüdische Testierpraktiken waren Gegenstand der letzten beiden Vorträge des Workshops. PAOLA FERRUTA (Paris-Sorbonne) richtete ihren Fokus auf die im venezianischen Ghetto Novo lebenden aschkenasischen Juden des 17. Jahrhunderts und im Speziellen auf die weiblichen Angehörigen der Familien Luzzatto und Calimani. Rechtlich mussten deren Testamente sowohl den Vorgaben Veneziens als auch den im Ghetto geltenden jüdischen Normen entsprechen. Dennoch eröffneten sich Frauen und insbesondere Witwen innerhalb dieses Rahmens vielfältige Handlungsspielräume, ihren Besitz und ihr Vermögen an verschiedene Personen zu transferieren. Laut Ferruta enthalten die Testamente zugleich eine Vielzahl an Informationen über die Beziehungsnetze der testierenden Frauen, ihre Familien sowie über deren ökonomische Verhältnisse.

Durch eine qualitative und quantitative Auswertung von über 650 Testamenten Hamburger und Altonaer Juden konnte DOREEN KOBELT (Hamburg / Potsdam) erläutern, wie sich die rechtliche Gleichstellung von jüdischen Männern und Frauen im Erbrecht des 19. Jahrhunderts auf die innerfamilialen- und Geschlechterbeziehungen sowie den ökonomischen Status von Frauen und die Testierpraktiken von Hausvätern auswirkte. Demzufolge wurden in erster Linie die Kinder im väterlichen Testament bedacht. Daraus resultierend sowie durch einen parallel erfolgenden Bedeutungsverlust der Mitgift, gerieten Frauen, Mütter und Witwen zunehmend in prekäre ökonomische Verhältnisse. Bedingt wurde dies durch die Vorstellung der ‚Liebes-Ehe‘ und der damit verbundenen neuen Rollen- und Funktionszuschreibungen die Ehefrauen als Mutter, die Frauen von der Mitarbeit in wirtschaftlichen Betrieben ausschloss, so Kobelt.

CLAUDIA ULBRICH (Berlin) beschloss den Workshop mit einem Kommentar, indem sie die Beiträge zusammenfasste, miteinander in Beziehung setzte und offene Forschungsfragen formulierte. Testamente sind ihr zufolge nicht nur eine „faszinierende“ Quellengattung und Textsorte, die qualitativ und quantitativ ausgewertet werden und das Grundgerüst von mikrohistorischen Fallstudien bilden können. Durch eine umfassende Kontextualisierung, die Einordnung in den rechtlichen Rahmen und das unabdingbare mit anderen Quellengattungen und hier insbesondere mit Brautschatz- und Mitgiftregelungen in Beziehung setzen, geben Testamente zudem auf unterschiedliche und vielfältige Art und Weise Aufschluss, unter anderem, wie sich soziale und Geschlechterbeziehungen, materielle und immaterielle Verhältnisse wandelten und wie Gegenstände von den Akteurinnen und Akteuren situativ funktionalisiert wurden. Darüber hinaus lassen sich durch die Analyse von Testamenten verschiedene Handlungsmöglichkeiten sowie Logiken des Handelns rekonstruieren, so Ulbrich. Kritisch gab sie zu bedenken, dass bei der Arbeit mit Testamenten der formelhaften Darstellung und der verwendeten biblischen Sprache mehr Beachtung geschenkt werden sollte. Wie der Akt des Schreibens und des Testierens gestaltet war, das heißt wann, wo und wie lange vor dem Tod eines Testators, einer Testatorin ein Testament verfasst wurde sowie welche Strategien einem Testierakt zugrunde lagen – diese Fragen sollten der Kommentatorin zufolge bei der Forschung mit Testamenten verstärkt Berücksichtigung finden.

Der Workshop hat einmal mehr gezeigt, wie divers die Quellengattung ‚Testament‘ zu betrachten ist. Ein Testament ist alles zugleich: eine rechtshistorische, kulturgeschichtliche, soziale, ökonomische, religiös konnotierte, materielle, beziehungsstiftende wie auch negierende und literarische Quellengattung, dessen Narrativ kontext- und funktionsabhängig von Testatorinnen und Testatoren geschrieben und mündlich erzählt wurde und in denen diese immer auch ein Zeugnis ihrer selbst gaben. Davon ausgehend und in Beziehung gesetzt mit anderen Quellengattungen sowie mit einer umfassenden und konsequenten Kontextualisierung, lassen sich durch ein kritisches historisches Arbeiten mit Testamenten eine Vielzahl neuer Perspektiven auf die mehrdimensionalen, miteinander verschränkten und nicht losgelöst voneinander zu betrachteten historischen Wandlungsprozesse gewinnen. Auch hat der Workshop gezeigt, dass Fragestellungen zur Testierfreiheit, eine Analyse der in den Testamenten verwendeten rechtshistorischen und -begrifflichen Termini sowie mit Emotionen beladene Formulierungen in Testamenten nach wie vor große Desiderate der historischen Testamentsforschung bilden.

Konferenzübersicht:

Siglinde Clementi (Bozen/Brixen) / Margareth Lanzinger (Wien): Begrüßung und Einführung / Saluti e introduzione

Anna Bellavitis (Rouen): Testamento e relazioni di genere a Venezia in età moderna

Michaela Hohkamp (Hannover): Der letzte Wille: Eine Angelegenheit öffentlichen Streitens?

Beatrice Zucca Micheletto (Cambridge): Testamenti di donne e di uomini in città: percorsi migratori e professionali negli Stati Sabaudi (XVIII–XIX secolo)

Charlotte Zweynert (Hannover): Welche Vermögen sind vererbbar? Helmina von Chézy (1783–1856) und die Bedeutung von Testamenten für den Transfer symbolischen und sozialen Kapitals in weiblicher Linie

Janine Maegraith (Wien / Cambridge) / Johannes Kaska (Wien): Auf Kosten von Verwandtschaft oder Seelenheil? Testamente im südlichen Tirol in der Frühen Neuzeit

Gertrude Langer-Ostrawsky (St. Pölten): Bäuerliche Testamente im Erzherzogtum Österreich unter der Enns 1780–1850. „folgendes über mein Vermögen anzuordnen“

Paola Ferruta (Paris-Sorbonne): Il testamento femminile come fonte privilegiata della storia della famiglia ebraica: alcuni studi di caso nella Venezia del Seicento

Doreen Kobelt (Hamburg / Potsdam): Was bleibt – Die letzte Gabe als Spiegel von innerfamiliären und Geschlechterbeziehungen in jüdischen Testamenten des 19. Jahrhunderts aus Hamburg und Altona

Claudia Ulbrich (Berlin): Schlusskommentar / Conclusioni

Anmerkung:
1 Vgl. Ankündigung: Der letzte Wille. Norm und Praxis des Testierens in der Neuzeit, 19.10.2018-19.10.2018 Brixen, in: H-Soz-Kult, https://www.hsozkult.de/event/id/termine-38183 (20.09.2018).