Gegenstand des auf Englisch durchgeführten interdisziplinären Workshops war das Shang jun shu („Schriften des Fürsten von Shang“), eine herrschaftstheoretische Textsammlung aus dem alten China. Ihr Inhalt wird den politischen Konzepten Shang Yangs (gestorben 338 v. Chr.) und seiner Schüler zugeordnet. Diese reformierten die Verwaltung und Staatsführung des Landes Qin im vierten Jahrhundert v. Chr. grundlegend und legten so das Fundament für den späteren Machtzuwachs Qins und die Gründung des Kaiserreichs 221 v. Chr. Das Shang jun shu ist unlängst in den Fokus sinologischer Aufmerksamkeit geraten, als im letzten Jahr zwei neue Übersetzungen dieses Textes publiziert wurden: eine englisch-1 sowie eine deutschsprachige.2 Vor diesem Hintergrund bot der Workshop, an welchem mit Yuri Pines (Jerusalem) und Kai Vogelsang (Hamburg) auch die beiden Übersetzer teilnahmen, Gelegenheit, auf der Grundlage zweier vollständiger Übertragungen dieses Schriftenkonvoluts Fragen zu Macht und Herrschaft in diesem zu thematisieren und im interdisziplinären Gespräch fruchtbar zu machen.
In seiner Einleitung erläuterte CHRISTIAN SCHWERMANN (Bochum) zunächst die im Titel des Workshops angelegten zeitgeschichtlichen Parallelen: Auch der damalige Fürst Qins, der Landesherrscher Xiao (regierte 361-338 v. Chr.), sei bestrebt gewesen, sein Land zu alter Stärke zurückzuführen und verlorengegangene Territorien zurückzuerobern. Erst aus diesem Grund habe er Ratgeber an seinen Hof eingeladen, damit diese Pläne unterbreiteten, wie dies gelingen könne. Im Folgenden betonte Schwermann die zentrale Rolle, welche Macht und Herrschaft in den Schriften des Fürsten von Shang spielten, und erläuterte, dass dieser Text bestens geeignet sei, konzeptuelle Fragen im Spannungsfeld von Macht und Herrschaft gerade auch über Fachgrenzen hinweg zu diskutieren. Zudem deutete Schwermann an, dass der diskutierte Text auch für das Verständnis politischer Prozesse im modernen China wichtige Einsichten bereithalte.
CHRISTOPH HARBSMEIER (Oslo) eröffnete den Workshop mit einem Vortrag, der die philologische Grundlagenarbeit am Shang jun shu in den Fokus rückte. Nach einem knappen Überblick über wichtige Stationen der chinesischen Forschungsgeschichte widmete er sich Problemfeldern wie dem genetischen Verhältnis verschiedener Textversionen, der Notwendigkeit, euphonische Eigenschaften gerade auch altchinesischer Prosatexte stärker zu berücksichtigen, sowie der Frage, inwieweit wir es tatsächlich mit einem Text zu tun haben, der von Shang Yang, der titelgebenden Persönlichkeit, verfasst worden ist. Insgesamt vermochte Harbsmeier auf diese Weise deutlich zu machen, welch zentrale Bedeutung der sorgfältigen philologischen Erschließung altchinesischer Texte in der Sinologie zukommt.
YURI PINES (Jerusalem) widmete sich in seinem Beitrag dem Shang jun shu-Kapitel LAI MIN („Volk anwerben“). Dieser Text lasse sich aufgrund historischer Bezugnahmen in den Zeitraum 255-240 v. Chr. datieren. Qin befand sich laut Pines zu jener Zeit in der unbefriedigenden Lage, dass trotz erfolgreicher Schlachten gegen die Rivalen eine endgültige Unterwerfung dieser in absehbarer Zeit nicht vollends realisierbar schien. Die im Shang jun shu überlieferte Abhandlung präsentiere eine Analyse der misslichen Situation sowie einen konkreten Lösungsvorschlag. Qin sei demnach – anders als seine Gegner – unterbevölkert und könne deshalb nicht die benötigten Ressourcen für entscheidende Feldzüge aufbringen. Es bedürfe einer ‚Migrationspolitik‘ für Arbeitskräfte, damit der eigene Grund und Boden erschöpfend bestellt werden könne. Das Kalkül: Einerseits würde Qin durch die Zuwanderung von Arbeitskräften selbst gestärkt, die Nachbarländer andererseits durch die provozierte Abwanderung geschwächt werden. Insbesondere die Aussetzung des Kriegsdienstes für Neuankömmlinge würde im Widerspruch zu anderen Traktaten im überlieferten Shang jun shu stehen. Laut Pines spiegele dieses Kapitel nicht nur die historischen Bedingungen seiner Entstehungszeit wider, sondern reflektiere zudem einen pragmatischen Politikstil, der sich nicht an Dogmen orientierte, sondern eine flexible und ergebnisorientierte Anpassung der herrscherlichen Entscheidungen an die äußeren Bedingungen postulierte.
MAXIM KOROLKOV (Heidelberg) widmete sich in seinem Vortrag der Bedeutung lokaler Gemeinschaften (li) für die Reformen Shang Yangs. Der von diesem verlangte staatliche Zugriff auf nahezu die gesamte Gesellschaft habe es notwendig gemacht, natürlich gewachsene dörfliche Gemeinschaften auf dem Lande neu zu organisieren und in die offizielle Verwaltung einzubinden. Dabei wurde deren ursprünglicher sozialer Zusammenhalt zum einen durch ein individuelles Verdienstrangsystem sowie das Prinzip juristischer Gruppenhaftung ein Stück weit abgeschwächt. Andererseits kam der Zentralstaat nicht umhin, von regionalen Gemeinschaften und ihren Eliten Gebrauch zu machen, um möglichst viele Ressourcen mit möglichst wenig Aufwand zu gewinnen. Korolkov gelang es nicht nur, das soziale und sozialplanerische Fundament der politischen Reformen Shang Yangs zu beschreiben, sondern auch, deren weitreichende Folgen für die einfache Bevölkerung zu verdeutlichen. Daneben betonte er jedoch, dass sich gleichsam als Gegengewicht zur zentralstaatlichen Verwaltung ganz unterschiedliche Formen nicht-offizieller Selbstverwaltung etwa zu religiösen oder wirtschaftlichen Zwecken entwickelten. Abschließend wies der Referent darauf hin, dass frühkaiserzeitliche Intellektuelle die von Shang Yang konzipierten, vergleichsweise jungen Formen kommunaler Ordnung bisweilen kritisch betrachteten.
ELISA LEVI SABATTINI (Neapel) befasste sich in ihrem Vortrag mit der sozialtechnischen Agenda zur (Um-)Formung der Gesellschaft, wie sie in den Schriften des Fürsten von Shang greifbar wird. Demnach sei die Vereinheitlichung der Sitten (su) der Beherrschten von zentralem Interesse gewesen. Sabattini führte aus, dass dieser Ansatz des social engineering in direktem Zusammenhang mit der grundsätzlichen Ablehnung von allem Althergebrachten stand. Tradierte Rollenmodelle und entsprechendes traditionsbewusstes Handeln hätten nach Ansicht der Autoren des Shang jun shu nicht als Antworten auf die dringlichen Fragen der Zeit dienen können. In dieser Vorstellung seien es die durch den Herrscher etablierten Rechtsnormen (fa) gewesen, die das wichtigste Instrument bildeten, um Sitten und Gesellschaft zu transformieren und das Land im Hinblick auf die militärische Einigung der Streitenden Reiche im dritten Jahrhundert v. Chr. zu stärken. Sabattini betonte hierbei abermals die Radikalität, mit der dieser Traditionsbruch eingefordert wurde: Nicht nur die rein physische Unterwerfung der Menschen sei für Shang Yang und seine Schüler ein zentrales Ziel gewesen, sondern auch deren Umerziehung und Mentalitätswandel.
HANS VAN ESS (München) lenkte den Blick in seinem Vortrag auf textliche Parallelen zwischen dem ersten Kapitel des Shang jun shu, GENG FA („Änderung der Regeln“), und anderen frühen Texten wie dem Zhanguo ce („Strategeme der Streitenden Reiche“) oder dem Shiji („Aufzeichnungen der Chronisten“). Er wies darauf hin, dass es zwischen diesen Texten offensichtlich Parallelen, jedoch auch signifikante Unterschiede gebe. Dabei rücke die Frage des zeitlichen Verhältnisses der verschiedenen Varianten zueinander in den Vordergrund. Den traditionellen Datierungen sei hier nicht unbedingt zu trauen, so van Ess, vielmehr müsse anhand konkreter Textstellen untersucht werden, ob das Shang jun shu tatsächlich vor dem Shiji zusammengestellt worden sei, oder nicht doch deutlich später.
Der Vortrag von KONRAD VÖSSING (Bonn) über die ‚Tetrarchie‘ (3.-4. Jahrhundert n. Chr.) des Römischen Reiches bot Anlass, das Shang jun shu aus einer transkulturellen Perspektive zu betrachten. In Anbetracht instabiler und fragiler Herrschaft in der Zeit der ‚Soldatenkaiser‘ (235-284) habe der römische Kaiser Diocletian (regierte 284-305) Reformen implementiert, um das Herrschaftssystem zu stabilisieren: die sogenannte Tetrarchie. Das Vier-Kaiser-System habe laut Vössing den Versuch dargestellt, Usurpationen und Nachfolgestreitigkeiten bereits im Vorfeld zu unterbinden. Trotz der implementierten Reformen erwies sich die neuartige Konstruktion jedoch als störanfällig. Denn mit dem Tod des Augustus Constantius (306) brach erneut Streit um die Nachfolge aus. Die Institution der Tetrarchie müsse daher als ein gescheiterter Reformversuch erachtet werden, so Vössing, der in seiner Abschlussbetrachtung Gemeinsamkeiten und Differenzen in Bezug auf das Shang jun shu herausstellte. Gemeinsam sei beiden Beispielen eine den politischen Reformen vorausgehende Phase herrschaftlicher Instabilität, die man habe beseitigen wollen. Ferner würden sich beide Ansätze insofern durch eine gewisse Radikalität auszeichnen, als dass sie bewusst mit etablierten Traditionen brachen. Die Formalisierung von Herrschaft und deren Immunisierung gegen Kritik seien ebenfalls auffällige Parallelen. Differenzen würden sich hingegen im Hinblick auf die Legitimationsstrategien zeigen: Versuchte Diocletian, durch die Inkorporation von Schutzgöttern eine stabilisierende religiöse Legitimationsgrundlage zu schaffen, so spiele eine solche im Shang jun shu keine Rolle.
KAI VOGELSANG (Hamburg) widmete sich in seinem Vortrag dem Konzept des ming zhu beziehungsweise ming jun. Diese Termini spielen nachweislich in solchen Texten eine zentrale Rolle, welche Vogelsang der Denkrichtung des „Politischen Realismus“ zuschreibt, also unter anderem im Shang jun shu. Gemeinhin werden diese Ausdrücke als Referenzen auf einen „hellsichtigen / intelligenten / erleuchteten Herrscher“ interpretiert. Diese Deutungen wies Vogelsang gleichwohl zurück: Das Wort ming verweise nicht auf die Hellsichtigkeit des Herrschers, sondern auf seine abgehobene Überparteilichkeit, die auf ganz ähnliche Weise Geistern (shen) oder Gesetzen (fa) zugeschrieben werden konnte. Dabei dürfte begriffsgeschichtlich auch eine volksetymologische Deutung der Komposition des Schriftzeichens für ming eine Rolle gespielt haben, welches augenscheinlich aus den Komponenten „Sonne“ (ri) und „Mond“ (yue) zusammengesetzt ist: Ähnlich wie diese hellen, überparteilichen, alles anstrahlenden Himmelskörper sei die Figur des Herrschers von den Politischen Realisten konzipiert worden. Dabei habe man den Monarchen tendenziell zunehmend als bloßen Repräsentanten des Beamtenapparates aufgefasst, der von diesem, genau wie der Mond von der Sonne, nur mehr angeschienen worden sei. Der Vortrag zeigte eindrücklich, wie wichtig die gründliche Analyse politischer Schlüsselbegriffe für die Auseinandersetzung mit altchinesischen Texten und ihren Herrschaftstheorien ist.
Welche Konzepte von „Macht“ lassen sich im Shang jun shu finden? Aus welchen Termini setzt sich das entsprechende Wortfeld zusammen? Diesem Thema widmete sich PAUL R. GOLDIN (Philadelphia), indem er zeigte, wie zahlreiche Passagen des Shang jun shu die engmaschige Vernetzung verschiedener Machtkonzepte belegen, die einander bedingen, aber auch komplementieren. Auf der einen Seite lassen sich Begriffe nachweisen, die eine physisch-wirtschaftlich-militärische „Macht“ (li, „Kraft“, insbesondere im Sinne von „Produktionskapazität“; qiang, „Stärke“) bezeichnen. Auf der anderen Seite stehen laut Goldin solche, die auf eine eher transzendente Macht verweisen, welche nicht an rein physische Überlegenheit gekoppelt ist. Dieses breite Spektrum umfasse Begriffe wie shi („Machtstellung“), quan („Gewicht“, „Einfluss“, „Autorität“), wei („ehrfurchtgebietende Macht“) und de („charismatische Macht“). Goldin machte darauf aufmerksam, dass insbesondere letztgenannter Begriff bereits Gegenstand einer zeitgenössischen Debatte war: In zahlreichen Passagen im Shang jun shu wird das spezialisierte de-Konzept („Tugend“, „Güte“), so wie es andere Denkschulen der chinesischen Antike propagierten, negativ beurteilt und der eigenen Konzeption Vorrang eingeräumt. Abschließend unterstrich Goldin, dass – besonders im Hinblick auf die Übersetzung – Konzepte aus ihrem jeweiligen Kontext heraus bestimmt werden sollten und Interferenzen mit der Terminologie anderer antiker Denkschulen oder gar den Machtbegriffen moderner Autoren vermieden werden sollten.
HEINER ROETZ (Bochum) griff in der von ihm moderierten Abschlussdiskussion schließlich verschiedene Aspekte der vorangegangenen Beiträge auf. Mit Blick auf die beiden Neuübersetzungen des Shang jun shu und die damit verbundenen translatorisch-philologischen Herausforderungen betonte auch er, dass beim Übersetzen die Leitwörter eines Textes auch im Hinblick auf ihren Gebrauch in anderen Schriften befragt werden müssten. Dies gelte insbesondere deshalb, weil Begriffe ihre Bedeutung schon in der altchinesischen Periode veränderten. Hinzu kämen allerlei Schwierigkeiten hinsichtlich der Datierung überlieferter Textkonvolute. Kontrovers wurde diskutiert, inwiefern die Denkschule des Shang jun shu auf Grundlage jüngster Forschungserkenntnisse neudefiniert werden muss: Ist ihre traditionelle Bezeichnung als Legismus (fajia) sinnvoll oder sollte man, dem Ansatz von Kai Vogelsang folgend, vielmehr von einem Politischen Realismus antikchinesischer Prägung sprechen? Allein die Bedeutung des Wortes fa („Norm“, „Regel“, „Gesetz“) sorgte in diesem Kontext für eine lebhafte Diskussion. Das Shang jun shu präsentiert in den Worten von Roetz ein selbstlegitimierendes, „geschlossenes politisches System“, in dem die Einbindung einer wie auch immer gearteten „Öffentlichkeit“ wohl bewusst ausgeklammert worden sei. Es handele sich um einen Text, in dem der Mensch als ein vornehmlich rationales Wesen konzipiert sei, das sich von etablierten Traditionen lösen müsse, um die gesellschaftliche Ordnung in einer Zeit des Chaos wiederherzustellen. Moral, ein in anderen Denkschulen diskutiertes Mittel zur Begründung von Ordnung, werde im Shang jun shu bewusst ausgeblendet, ja abgelehnt. Rationalität und Überparteilichkeit (vergleiche den Beitrag von Kai Vogelsang), das heißt der Mensch jenseits individueller Moral als Teil eines Systems, seien die Grundvoraussetzungen, auf die sich Macht und Herrschaft in diesem Text stützen würden. Im Hinblick auf den amoralischen Grundtenor würden sich außerdem gewisse Gemeinsamkeiten mit dem Daoismus antiker Prägung erkennen lassen. Abschließend bemerkte Roetz, dass aktuelle politische Entwicklungen einem verstärkten Interesse an Texten wie dem Shang jun shu durchaus zuträglich seien.
Konferenzübersicht:
Christian Schwermann (Bochum): Welcome Address and Introduction
Christoph Harbsmeier (Oslo): Some Reflections on the Current State of Shang Jun Shu Studies
Yuri Pines (Jerusalem): Waging a Demographic War: The “Attracting the People” Chapter of the Book of Lord Shang
Maxim Korolkov (Heidelberg): (Political) Community: Grassroot Socio-Territorial Units in Ideology and Practice of Early Chinese Empires
Elisa Levi Sabattini (Neapel): The Revision of Popular Customs: Modeling Societies According to the Shang Jun Shu
Hans van Ess (München): The First Chapter of the Shang Jun Shu and Its Relationship to the Shiji
Konrad Vössing (Bonn): Unity among ‘the Four Emperors’ (293-306 AD) – a Revolution of Rulership in the Roman Empire
Kai Vogelsang: (Hamburg): Concepts of Rulership in the Discourse of Political Realism
Paul R. Goldin (Pennsylvania): Classical Chinese Words for ‘Power’
Heiner Roetz (Bochum): Wrap-Up
Anmerkungen:
1 Shang Yang, The Book of Lord Shang: Apologetics of State Power in Early China, herausgegeben und übersetzt von Yuri Pines, New York 2017.
2 Shang Yang, Shangjun shu: Schriften des Fürsten von Shang, Stuttgart 2017.