Das Adjektiv „grenzüberschreitend“ im Untertitel dieses Nachwuchsforums leitete als Grundmotiv durch die gesamte Veranstaltung. Auf die Ausschreibung reagierten vor allem Forscherinnen und Forscher aus Deutschland und Polen, ein Referent kam aus Tschechien, eine Referentin aus Frankreich, aus Österreich meldete sich niemand. Dies spiegelt sehr gut die geschichtswissenschaftliche Beschäftigung mit dem historischen Raum Schlesien wider. Bedingt durch die Teilung des Herzogtums 1742 kam der größte Teil zu Preußen und nur ein schmales Gebiet verblieb bei der böhmischen Krone beziehungsweise Österreich. Die ehemalige Provinz Schlesien als Teil des Deutschen Reichs wurde nach 1945 mit den Grenzverschiebungen und Zwangsumsiedlungen der Bevölkerung aus dem ehemaligen Ostpolen in die neuen polnischen Westgebiete sowie der schlesischen Bevölkerung in die beiden deutschen Staaten mit neuer Bedeutung aufgeladen und blieb daher im Bewusstsein der Bevölkerung präsent. Die Auseinandersetzung mit schlesischer Vergangenheit schrieb sich in viele – deutsche und polnische – Familien ein und hatte bei einem Teil der anwesenden Referentinnen und Referenten das Interesse an schlesischer Geschichte geweckt. In der Tschechoslowakei war das ehemalige österreichische Kronland Schlesien hingegen verwaltungstechnisch Mähren zugeschlagen worden und blieb in der öffentlichen Wahrnehmung daher kaum sichtbar. Dazu trug der Umstand bei, dass auch in der Tschechoslowakei der Großteil der deutschsprachigen Bevölkerung, die die schlesischen Städte mehrheitlich bestimmt hatte, nach 1945 zwangsemigrieren musste und die Gebiete mit Tschechen und Tschechinnen aus anderen Teilen des Landes besiedelt wurden. Damit ist schlesische Geschichte in Tschechien nicht sehr populär – sie findet sich zwar in Bezug auf das Mittelalter vertreten, im Kontext der tschechischen Nationalbewegung im 19. Jahrhundert stehen jedoch Böhmen und Mähren deutlich im Zentrum der Forschung. In der österreichischen Geschichtsschreibung nehmen die Länder der böhmischen Krone grundsätzlich einen zentralen Platz ein, schließlich bildeten sie seit 1526 einen wesentlichen Teil der Habsburgermonarchie. Und doch beschäftigen sich in der Tat nur sehr wenige österreichische Forscherinnen und Forscher mit dem schlesischen Raum, sei es vor der Teilung mit Gesamtschlesien oder nach der Teilung mit dem verkleinerten Gebiet. Auch hier stehen – einer späten oder fortgesetzten spiegelbildlichen Antwort auf die tschechische Nationalbewegung gleichend – Böhmen und Mähren im Vordergrund.
Die Bewegung, der Austausch und die Vernetzung über Grenzen hinweg zeichnete auch die einzelnen Beiträge des Forschungskolloquiums aus. Alle zusammengenommen überschritten die üblichen Periodisierungsgrenzen; in jeder dieser „Zeiten“ stellte sich Schlesien anders dar, das heißt der Raum, in dem und über den hinaus die historischen Akteure und Akteurinnen wirkten, war höchst veränderlich. Zum mittelalterlichen Schlesien, in dem beispielsweise Aspekte der Landwerdung, der Entwicklung einer gemeinsamen Identifikation Thema hätte sein können, gab es interessanterweise keinen Beitrag. In der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts bildete Schlesien, im Genaueren das Herzogtum Liegnitz, den Schauplatz des schlesischen Adeligen Hans von Schweinichen. STEFAN ROPKE (Universität Bielefeld) vermittelte an dessen Beispiel die kulturellen Praktiken des Dienens. Die nächsthöhere räumliche Ebene und damit Bezugsebene machte JOSEF VACEK (Univerzita Karlova Praha) sichtbar, indem er von Gerichtsfällen des Appellationsgerichts in Prag von 1687 bis 1727 ausging, wohin sich die Gerichtsunterworfenen der Länder der Böhmischen Krone – somit auch Schlesien – wenden konnten. In Bezug auf die im Fokus stehenden Morddelikte ließen sich Unterschiede in der Bestrafung nach den Ländern nachzeichnen.
So wie Hans von Schweinichen durch die Begleitung seines Herrn über die Grenzen seines Herzogtums hinaustrat – sei es aufgrund von Reisen zum gesamtschlesischen Fürstentag in Breslau oder nach Prag in die königliche Hauptstadt – fand auch bei den Gerichtsfällen eine Grenzüberschreitung statt, wenn auch weniger durch die Menschen selbst als vielmehr durch die Akten und Korrespondenz. Ähnliches – und das noch viel weitreichender – gilt für den Akteur in der Präsentation von LOUIS MATHIAS BERGER (Freie Universität Berlin), den schlesischen Gelehrten Abraham von Franckenberg. Über seine Korrespondenz war der Autor des „Raphael oder Arzt-Engel“ von 1676, in dem er sein Konzept einer alchemistischen Medizin darlegte, mit der Gelehrtenwelt verbunden und reiste auch selbst in die Zentren Leipzig, Wittenberg, Jena und bis nach Danzig.
Der Großteil der Vorträge beschäftigte sich jedoch mit dem späten 19., dem 20. sowie dem 21. Jahrhundert. Damit änderte sich die Blickrichtung – nicht mehr Prag oder Wien bildeten die Bezugspunkte des Großteils von Schlesien, sondern nach der Teilung waren dies vor allem Berlin und schließlich der Westen des Deutschen Reichs. Deutlich wahrnehmbar rückte mit der Verlagerung des Zeitpunkts auch die Nationsthematik in den Mittelpunkt der präsentierten Forschung.
DAVID SKRABANIA (Ruhr-Universität Bochum) sprach über die polnischsprachigen Oberschlesier (einen Teil der sogenannten Ruhrpolen), die seit den 1870er-Jahren in den Bergwerken im Ruhrgebiet arbeiteten. Sie mussten sich nach der Abtrennung des östlichen Teils von Schlesien 1922 mit der Frage auseinandersetzen, ob sie Staatsbürger der Zweiten Polnischen Republik werden wollten. Viele, vor allem jene, die in der gemeinsamen Abgeschiedenheit ein polnisches Nationalbewusstsein entwickelt hatten, kehrten zurück, der größere Teil verblieb jedoch im Ruhrgebiet. Die prägende Bergwerksarbeit in Oberschlesien inspirierte TOMASZ HANZEL (Uniwersytet Śląski w Katowicach) zur Bearbeitung der Bergmannsdichtung von Paul Habraschka im 20. Jahrhundert. Auch hier lässt sich die Frage stellen, ob sich die Idylle und Nostalgie in dessen Werken vielleicht erst durch die räumliche Entfernung von Oberschlesien und der Arbeit im Bergwerk entwickelte oder diese zumindest verstärkt hatte. Die Abtrennung des wichtigen Industriegebiets in Oberschlesien vom Deutschen Reich stellte einen vehementen Verlust für die Schwerindustrie dar. FLORIAN PAPROTNY (Ruhr-Universität Bochum) argumentierte in seiner Präsentation, dass dies von der Weimarer Republik nie akzeptiert wurde und daher schon Jahre vor dem Zweiten Weltkrieg eine Wiederangliederung vorbereitet worden sei. Das habe dazu geführt, dass es 1939 sehr leicht gefallen sei, diese Industrie wieder zu übernehmen und zu „germanisieren“.
Durch die Grenzziehungen und Abtrennungen von 1920 und 1922 waren zu den bis dahin zwei „Schlesien“ zwei weitere hinzugekommen: Ostoberschlesien und das sogenannte Teschner Schlesien, das größtenteils nicht an die Tschechoslowakei, sondern an Polen fiel – beide verwaltungstechnisch in der Woiwodschaft Schlesien zusammengefasst. Während sich die Ruhrpolen in ihrer bisherigen „Zweilokalität“ für eine Seite entscheiden konnten, befand sich der Großteil der polnischen Bevölkerung – je nach Perspektive – hinter oder vor der Trennlinie in der neuen Polnischen Republik. Diese bildete nun den neuen Bezugsraum. Innerhalb dessen hatte die Bevölkerung wie anderswo mit den Folgen des Ersten Weltkriegs zu kämpfen. Das stellte NATALIA MARIA KOTRYS (Uniwersytet Wrocławski) in ihrer Präsentation über die Tuberkulose in der Woiwodschaft Schlesien zwischen 1922 und 1939 dar – mit dem Fokus auf die sozialen Konsequenzen dieser Erkrankung in der Zweiten Polnischen Republik. Wie wurde gegen sie vorgegangen, was über sie gedacht, wer erkrankte?
Über die Grenzen von Schlesien hinaus gingen die Bezüge nun nicht mehr nur in Richtung Westen, sondern sowohl nach Warschau, als auch – im Vortrag von KAMIL FRĄCZKIEWICZ (Uniwersytet Wrocławski) – weiter nach Osten; in diesem Fall sogar vom deutschgebliebenen Teil Schlesiens in Richtung Sowjetunion. Er präsentierte seine Untersuchung zum Zusammenspiel der Nationsfrage und Klassenfrage am Beispiel der Kommunistischen Partei in Schlesien während der Weimarer Republik. Auch BARTLOMIEJ ONDERA (Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf) fragte nach den linkssozialistischen Gruppierungen in Schlesien, insbesondere nach Alfons Pilarski und seiner deutsch-polnischen Widerstandsbewegung gegen die nationalsozialistische Herrschaft, die grenzüberschreitend agierte.
Nach 1945 veränderten sich die Räume und Blickrichtungen von neuem. Schlesien wurde zum Sehnsuchtsland vieler Ausgewiesener in der Bundesrepublik Deutschland, während dies in der Deutschen Demokratischen Republik kaum offen gezeigt werden durfte. Aus der Perspektive Polens stellte Schlesien das neue Heimatland vieler aus dem ehemaligen Osten Polens Vertriebener dar. Mit den aus wirtschaftlichen Gründen in Polen zurückgehaltenen Deutschen setzte sich TERESA WILLENBORG (Gottfried Wilhelm Leibniz Universität Hannover) auseinander – und mit deren Reaktion auf die Aberkennung der Rechte der ethnischen und nationalen Minderheiten. Sie verloren die Selbstverständlichkeit ihrer kulturellen Identität und entwickelten in ihren Strategien zum Erhalt der deutschen Sprache und vertrauter Praktiken ein verstärktes Gemeinschaftsgefühl – über die unterschiedlichen Phasen der polnischen politischen Haltung zu ihnen hinweg.
Drei Präsentationen beschäftigten sich schließlich mit dem Thema der Erinnerungspolitik. ADAM WOJTALA (Uniwersytet Wrocławski) fragte nach dem Stellenwert der schlesischen Gründungsgeschichte im Schrifttum der einzelnen Studentenverbindungen innerhalb des Cartellverbandes der Katholischen Deutschen Studentenverbindungen, die nach dem Zweiten Weltkrieg in Westdeutschland wiederbegründet wurden. Wie alle Länder und Städte mussten sich auch Polen und die Stadt Breslau/Wrocław mit dem Nationalsozialismus auseinandersetzen. Die polnischen Erinnerungskulturen zum Nationalsozialismus in Breslau bis 2016 machte LENA CIOCHOŃ (Ruhr-Universität Bochum) zu ihrem Untersuchungsgegenstand. Während die deutsche Vergangenheit der Stadt noch leichter integrierbar zu sein scheint, stelle die Zeit des Nationalsozialismus in der Stadt nach wie vor einen blinden Fleck der Vergangenheitsbetrachtung dar. Wie schwer sich Breslau jedoch noch immer mit seiner deutschen Vergangenheit tut, zeigte EMMA SPRANG-LORENZ (Université Sorbonne-Nouvelle Paris) in ihrer Analyse der Programme zur Kulturhauptstadt Europas 2016.
Der Schwerpunkt der präsentierten Forschung verwies darauf, dass Schlesien in erster Linie mit Blick auf seine jüngste Geschichte und damit einhergehend meist mit dem Fokus auf den Nationalitätendiskurs und die deutsch-polnische Auseinandersetzung wahrgenommen wird. Wie weit diese Gewichtung repräsentativ für die aktuelle Schlesienforschung junger Forschender ist oder ob diese Zusammenstellung einen Zufallsbefund darstellt, wird sich im nächsten Kolloquium für Nachwuchswissenschaftlerinnen und Nachwuchswissenschaftler – 2019 in Görlitz – zeigen.
Konferenzübersicht
Vasco Kretschmann (Kulturreferent für Oberschlesien, Ratingen) / Nicola Remig (Haus Schlesien, Königswinter): Begrüßung und Eröffnung des Kolloquiums
Sektion I
Moderation: Ulrich Schmilewski (Stiftung Kulturwerk Schlesien, Würzburg)
Josef Vacek (Prag): Praxis des königlichen böhmischen Appellationsgerichts: Morde zwischen
1687 und 1727 in Böhmen, Mähren und Schlesien
Louis Mathias Berger (Berlin): Der Arztengel von Ludwigsdorf. Abraham von Franckenbergs
alchemische Medizin zwischen Zentrum und Peripherie
Sektion II
Moderation: Sabine Grabowski (Gerhart Hauptmann Haus, Düsseldorf)
David Skrabania (Bochum): Migrationen aus Oberschlesien ins Ruhrgebiet 1870-1920
Kamil Frączkiewicz (Breslau): Die Kommunistische Partei Deutschlands in Schlesien
während der Zeit der Weimarer Republik
Sektion III
Moderation: Gregor Ploch (Bildungswerk St. Otto, Zinnowitz)
Tomasz Hanzel (Kattowitz): Bergmannsdichtung in Oberschlesien
Florian Paprotny (Bochum): Die Germanisierung der ostoberschlesischen Wirtschaft
Stefan Roepke (Bielefeld): Praktiken des Dienens in den Aufzeichnungen Hans von Schweinichens
Sektion IV
Moderation: Bernard Linek (Schlesisches Institut, Oppeln)
Adam Wojtala (Breslau): Schlesische Motive im Schrifttum der Breslauer katholischen
Studentenverbindungen im CV
Bartlomiej Ondera (Düsseldorf): Zwischen zwei Nationen. Transnationaler Syndikalismus aus
Schlesien als Widerstandsbewegung gegen die Nationalsozialistische Herrschaft
Teresa Willenborg (Hannover): Die deutsche Bevölkerung nach 1945 in Polen in den ehemaligen
deutschen Ostgebieten
Sektion V
Moderation: Vasco Kretschmann (Kulturreferent für Oberschlesien, Ratingen)
Natalia Kotrys (Breslau): Tuberkulose in der Woiwodschaft Schlesien 1922-1939
Lena Ciochoń (Bochum) Polnische Erinnerungskulturen von 1945 bis 2016 zum Nationalsozialismus in
Breslau
Emma Sprang Lorenz (Paris): Wrocław: Umgang mit der deutschen Vergangenheit der Stadt im
Rahmen der European Capital of Culture 2016
Ellinor Forster (Universität Innsbruck): Resümee der Tagung