Die Tagung, die zu Ehren von Martin Dinges, dem scheidenden stellvertretenden Leiter und Archivar des Instituts für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung, ausgerichtet wurde, stellte im Wesentlichen eine thematische Amalgamierung der Forschungsinteressen des Jubilars dar. Die von Dinges im deutschsprachigen Raum vorangetriebene „Männergesundheitsforschung“, die ihren wissenschaftlichen Schwerpunkt bislang im 19. und 20. Jahrhundert hatte, wurde im Rahmen der Tagung zeitlich bedeutend erweitert. Man kehrte damit zu den disziplinären Wurzeln Martin Dinges zurück, indem die Tagung vor allem die Frühe Neuzeit in den Blick nahm. Neben langjährigen Wegbegleiterinnen und Wegbegleitern wurde auch der wissenschaftliche Nachwuchs rege miteinbezogen. Die insgesamt gutbesuchte Tagung präsentierte mit ihren 19 internationalen Referentinnen und Referenten einen bunten Überblick über aktuelle Forschungsansätze in der interdisziplinären Männergesundheitsforschung, zu einem großen Teil unter Einbezug von historischen Selbstzeugnissen. Einer thematischen Strukturierung folgend, wurde die Tagung in acht Sektionen unterteilt, die im Folgenden teilweise zugunsten einer stärkeren Schwerpunktsetzung aufgebrochen wird.
In seiner Einführung skizzierte Martin Dinges etliche Forschungsfragen, die im Laufe der Tagung mehrfach Beachtung finden sollten. Dabei ging es ihm vorranging darum, tradierte Dichotomien zwischen Männlichkeit auf der einen und Gesundheit auf der anderen Seite zu hinterfragen. Schlagworte wie die männliche Risikofreudigkeit oder das Konzept hegemonialer Männlichkeit wurden kritisch genannt. Dinges plädierte für eine quellenbasierte Analyse der je vorherrschenden Körperpraktiken und Wissensbestände. Die zugrundeliegende Frage nach einem genuin männlichen Gesundheitshabitus in der Frühen Neuzeit wollte Dinges um intersektionale Zugänge in Bezug auf Stand, Profession, Lebensalter, Religion, „Behinderung“ und Sexualität erweitert wissen.
Die erste Sektion firmierte unter dem Schlagwort „Körperkonzepte“. GREGOR SCHUHEN (Koblenz-Landau), beschäftigte sich aus literaturwissenschaftlicher Perspektive mit der narrativen Verarbeitung von Männlichkeit und Krankheit in der Literatur des französischen und spanischen Sprachraumes. Ausgehend von der mittelalterlichen Gebrestenkomik sprach Schuhen von prekärer Männlichkeit und wies auf intersektionale Bezüge hin, die das Themenfeld um die Kategorien „Stand“ und „ability/disabilty“ zu erweitern vermochten. ANDREA BENDLAGE (Bielefeld) präsentierte in ihrem Beitrag das Memorial des Nürnberger Gefangenenseelsorgers Johann Hagendorn, in welchem der Geistliche zwischen 1606 und 1620 seine Erfahrungen in der Begleitung zum Tode verurteilter Straftäter dokumentierte. Bendlage problematisierte geschlechtsspezifische Zuschreibungen von Schönheit, die sich in den Schriften Hagendorns wiederholt finden und erkannte einen Zusammenhang zwischen physischer Stärke, Jugend und Schönheit. Die Erziehungswissenschaftlerin SYLVIA WEHREN (Hildesheim) fokussierte anschließend Konzeptionen von männlich-bürgerlicher Gesundheit im frühpädagogischen Diskurs der Spätaufklärung. Die geschlechtsdifferent entworfene Frühpädagogik, die aus dem instinktgeleiteten Triebwesen einen vernünftigen Menschen machen sollte, orientierte sich implizit an idealisierten androzentrischen Rollenbildern.
Der Zusammenhang zwischen Sexualität, Männlichkeit und Gesundheit in unterschiedlichen kulturellen Settings wurde in der zweiten Sektion eingehend erörtert. KIM KRISTIN BREITMOSER (Hamburg) rekonstruierte anhand eines herausragenden Selbstzeugnisses die amourösen Eskapaden und daraus resultierenden Geschlechtskrankheiten eines preußischen Offiziers während der napoleonischen Kriege. Die akribisch dokumentierten sexuellen Begegnungen mit Prostituierten und Damen der Gesellschaft sowie die Ängste vor sozialer Marginalisierung mit zunehmendem Krankheitsbewusstsein, werfen ein besonderes Licht auf diese militärische Biographie. Während Breitmoser einen äußerst potenten Mann beschrieb, thematisierte CAROLIN SCHMITZ (Cambridge) anhand von Inquisitionsprozessen den kommunikativen Umgang mit Impotenz im frühneuzeitlichen Spanien. Sie skizzierte in diesem Zusammenhang ein Problemfeld, das stark von der Interpretation der Krankheitsursache durch die Betroffenen beeinflusst war. Die Identifikation einer äußeren Krankheitsursache ermöglichte das Sprechen über das eigene Leid und mobilisierte das kollektive Wissen über die Prävention von scheinbar allgegenwärtigen Schadenzaubern.
B. ANN TLUSTY (Lewisburg, Pennsylvania) widmete sich zu Beginn eines weiteren thematischen Blocks den religiös-magischen Einflüssen auf das Gesundheitsverhalten von Männern in der Frühen Neuzeit. Die Suche nach hypermaskuliner Stärke und Schutz vor Verwundung führte im Spannungsfeld von schwarzer und weißer Magie nicht nur zum Glauben an die Wirksamkeit religiöser „Schluckbilder“, sondern auch zur Verwendung von mumifiziertem Menschenfleisch in sogenannten Waffensalben oder der Praxis des „Einheilens“, das heißt zur subkutanen Einverleibung des Leibes Christi. Während Tlusty sich auf den katholischen Raum konzentrierte, eröffnete MICHAELA SCHMÖLZ-HÄBERLEIN (Bamberg) mit ihrer historisch-demographischen Studie zur kleinen jüdischen Gemeinde in Bamberg das weite Feld des jüdisch-christlichen Diskurses um Gesundheit und Krankheit. Sie versuchte dabei stereotype Zuschreibungen zum Gesundheitsverhalten dieser Bevölkerungsgruppe zu identifizieren. ROBERT JÜTTE (Stuttgart) legte seinen Fokus auf die Geschlechterstereotype, die im jüdisch-christlichen Diskurs eine Verweiblichung des jüdischen Mannes mit negativen Attributen konstatierten. Jütte sprach in diesem Zusammenhang allerdings auch von der Konstruktion eines bewussten Gegenbildes zur hegemonialen Männlichkeit, indem der jüdische Mann Schönheit allein über die Gelehrsamkeit erlangte. Erst im Zionismus sollte sich mit dem Bild des „Muskeljuden“ ein alternatives Konzept etablieren.
Insgesamt vier Sektionen fokussierten schließlich unterschiedliche Aspekte schichtspezifischer Männlichkeit. Zur Konzeption von männlicher Gesundheitspraxis im kolonialen Raum präsentierte MARK HÄBERLEIN (Bamberg) das Beispiel der Halleschen Pietisten im Pennsylvania des 18. Jahrhunderts. Er rekonstruierte dabei die strapaziöse Lebenswirklichkeit der Geistlichen in Amerika. Die Tätigkeit in Übersee forderte nicht nur körperlich, sondern auch mental ihren Tribut. Häberlein thematisierte dabei nicht nur das Schicksal des Einzelnen, sondern auch die pflegerischen Bemühungen der Gruppe. SUSAN BAUMERT (Jena) analysierte aus kulturhistorischer Sicht den Umgang von männlichen Forschungsreisenden mit ihrem Körper. Sie skizzierte dabei anschaulich ein Spannungsfeld, in welchem sich der eigene Körper als Komplize oder Feind beschreiben ließ, allerdings auch eine Stilisierung vom individuellen zum nationalen Körper erlebte.
Die Dichotomie zwischen Idealisierung und Kritik stand in PAUL MÜNCHs (Hechingen) Beitrag zu den Gesundheitsverhältnissen von Handwerkern und Bauern in der Frühen Neuzeit im Mittelpunkt. Während Münch feststellte, dass Arbeit für die bäuerlichen Bevölkerungsschichten stark mit einem gottgefälligen Leben verbunden war, warf die frühe Arbeitsmedizin einen kritischen Blick auf die Berufskrankheiten dieser Schichten. Die romantisierenden Bestrebungen bürgerlicher Kreise fügten diesem Diskurs eine weitere Facette hinzu. OLE FISCHER (Hamburg) widmete sich am Fallbeispiel des diätetischen Werkes von Karl Wilhelm Ideler dem Aspekt geschlechtlich konnotierter Diätetik. Diese zielte darauf ab, den gelehrten Mann gesund und kräftig zu erhalten und so seine Wehr- aber auch Geistesfähigkeit zu fördern.
Stärker an historischen Selbstzeugnissen orientiert waren die folgenden Beiträge, die sich nicht nur der narrativen Konstruktion von Männlichkeit, sondern auch den „body reflexive practices“ methodologisch anzunähern versuchten. Am Fallbeispiel der akribisch geführten „observationes“ im Krankheits-Tagebuch eines französischen Diplomaten rekonstruierte MICHAEL STOLBERG (Würzburg / München) in eindrücklicher Weise das medizinisch-präventive Handlungswissen und den letztlich aussichtslosen Kampf eines gebildeten Mannes um seine Gesundheit. Ausgehend von fünf beispielhaften Selbstzeugnissen fragte SANDRA MÜLLER (Bonn) nach der körperlichen Selbst- und Fremdwahrnehmung von Männern während des Dreißigjährigen Krieges. Während der eigene Schmerz und Krankheiten kaum Verschriftlichung finden, wird die Rolle als Versorger und Ernährer der Familie durchaus thematisiert, ebenso wie die immanente Angst vor Seuchen durch das akribische Dokumentieren von Todesfällen erkennbar wird. Dem Vergleich von Lebenslagen widmete sich ANDREAS WEIGL (Wien) am Beispiel adeliger und bürgerlicher Männerkörper. Auch Weigl thematisierte anhand von Selbstzeugnissen die Sprachlosigkeit der Männer im Umgang mit dem eigenen Körper. Die Beschreibung von Schmerz konkurrierte mit der heroischen soldatischen Beschreibung von Verwundung, während im gebildeten Bürgertum die Rezeption von medizinischem Wissen den Typus des „nervösen bürgerlichen Mannes“ zu befördern schien. Anhand eines ausführlichen Briefwechsels zwischen dem Mediziner Thomas Erastus und dem Grafen von Henneberg analysierte SABINE AREND (Heidelberg) einerseits das Arzt-Patientenverhältnis, portraitierte anderseits aber einen Herrscher, dessen Sorge um die eigene Gesundheit und die Auseinandersetzung mit dem zeitgenössischen Gesundheitsdiskurs ihn zeitlebens begleitete. STEFAN SEITSCHEK (Wien) untersuchte am Beispiel des im Telegrammstil abgefassten und somit schwer zugänglichen Tagebuchs von Kaiser Karl VI. die dokumentierten Tagesabläufe der Wiener höfischen Gesellschaft in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Diätetik und regelmäßige Kurpraktiken spielten eine große Rolle im Rahmen der Erhaltung der kaiserlichen Gesundheit.
Die abschließende Sektion thematisierte Strategien von Männern im Umgang mit körperlichen Einschränkungen. Am Fallbeispiel des (ehemaligen) Hofzwerges Joseph Boruwłaski zeichnete HEIKE TALKENBERGER (Stuttgart) ein lebendiges Bild eines selbstbewussten Mannes, der seine Männlichkeit offensiv zu verteidigen suchte, sich jedoch den gesellschaftlichen Gegebenheiten seiner Zeit vielfach aufgrund von ökonomischen Bedürfnissen unterordnen musste. Basierend auf wissenschaftlichen Berichten konstruierte Boruwłaski in seiner Autobiographie ein Selbstkonzept, das ihn als vollwertigen, wenn auch kleinen Mann erscheinen ließ. Selbstwahrnehmung spielte auch in IRIS RITZMANNs (Zürich) Beitrag über einen blinden Mann um 1800 eine gewichtige Rolle. Anhand archivalischer Quellen zu den Hohen Hospitälern in Haina rekonstruierte Ritzmann ein Leben zwischen Selbstbestimmung und Bedürftigkeit. Ob sein Bestreben ein selbständiges Leben als Wandermusiker zu führen, als genuin männlich attribuiert werden kann – eine Frage, die im Rahmen der Tagung wiederholt gestellt wurde – musste auch im Beitrag von Ritzmann offen bleiben.
Die Schlusskommentare von CLAUDIA OPITZ-BELAKHAL (Basel), Gregor Schuhen, MICHAEL MEUSER (Dortmund) und PIERRE PFÜTSCH (Stuttgart) versuchten in erster Linie die in der Diskussion verhandelten Fragen zu bündeln. Dabei ging es einerseits darum, Männlichkeit als narrative Struktur zu begreifen, die in jeder Epoche Prototypen ausformte, die sich dynamisch veränderten. Andererseits wurde im Hinblick auf die vorgestellten Praktiken die geschlechterspezifische Vergleichbarkeit als methodische Herausforderung formuliert. Als Fazit der Tagung lässt sich festhalten, dass durchaus Indizien für einen männlichen Gesundheitshabitus vorlagen, allerdings müssen diese Indizien geschlechterkritisch geprüft und intersektional kontextualisiert werden. Zudem sollten weitere Forschungen klären, in wie weit man tatsächlich von einem zeitlich abgrenzbaren, frühneuzeitlichen Gesundheitshabitus sprechen kann. Die Tagung des Instituts für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung zeigte deutlich das Potential auf, das in einer interdisziplinären Männergesundheitsforschung der Frühen Neuzeit liegt und dürfte wohl dazu beigetragen haben, weitere Forschungen in diesem Bereich anzustoßen. Die Tagungsbeiträge werden als Beiheft zu Medizin, Gesellschaft und Geschichte (MedGG) veröffentlicht.
Konferenzübersicht:
Martin Dinges (Stuttgart): Einführung
Sektion 1: Körperkonzepte
Gregor Schuhen (Koblenz-Landau): ‚Natürliche‘ Narren, verrückte Hidalgos und Hypochonder. Der kranke Mann als Witzfigur in der Literatur der Vormoderne
Andrea Bendlage (Bielefeld): ‚„Ein schöner Mann‘“ – Männlichkeit(en) im Memorial des Nürnberger Gefangenenseelsorgers Johann Hagendorn (1606–-1620)
Sylvia Wehren (Hildesheim): Gesunde Männlichkeit und männliche Gesundheit im frühpädagogischen Diskurs der Spätaufklärung
Sektion 2: Sexualität
Kim Kristin Breitmoser (Hamburg): Das Tagebuch des Johann Friedrich Carl Paris – Geschlechtskrankheiten und Prostitution während der Napoleonischen Kriege
Carolin Schmitz (Cambridge, UK): Tabu, Geheimhaltung oder offene Kommunikation? Das kommunikative Verhalten von impotenten Männern im frühneuzeitlichen Spanien
Sektion 3: Religion
B. Ann Tlusty (Lewisburg, Pennsylvania): Männliche Zauberpraktiken als Präventivmedizin
Michaela Schmölz-Häberlein (Bamberg): Atteste christlicher und jüdischer Ärzte für jüdische Männer im langen 18. Jahrhundert. Krankheit, Behandlung und Zuschreibungen
Robert Jütte (Stuttgart): Der jüdische Mann: Frühneuzeitliche Geschlechterstereotype im christlich-jüdischen Diskurs
Sektion 4: Pfarrer, Forschungsreisende und Adlige
Mark Häberlein (Bamberg): Geplagte Gottesmänner: Zur Wahrnehmung und Bewältigung von Krankheiten durch Hallesche Pietisten im Pennsylvania des 18. Jahrhunderts
Susan Baumert (Jena): „…dass der Wille der Körperschwäche völlig unterlag“. Der Körper als Gegner oder Komplize?! Männliche Forschungsreisende des 18. und 19. Jahrhunderts
und ihre Körperreflexionen
Sektion 5: Bauern und Handwerker
Paul Münch (Hechingen): Irdische Arbeit und himmlische Heiler. Gesundheit und Krankheit bei Handwerkern und Bauern in der Frühen Neuzeit
Sandra Müller (Bonn): Gesunde und versehrte Körper im Dreißigjährigen Krieg. Praktiken und Diskurse von Gesundheit und Krankheit in ausgewählten Selbstzeugnissen
Sektion 6: Vergleich von Lebenslagen
Andreas Weigl (Wien): Der Soldat, der Familienmensch und der Hypochonder. Der verwundete Soldatenkörper, der Familienkörper und der „nervöse“ bürgerliche Männerkörper in den Ego-Dokumenten des Georg Ernst von und zu Gilsa (1754–-1798), Stephan Andreas Haslinger (1740–-1807) und des Joseph Carl Rosenbaum (1790–-1829)
Ole Fischer (Hamburg): Von Gelehrten, Athleten und Grubenarbeitern. Männlichkeit und Diätetik im Werk von Karl Wilhelm Ideler
Sektion 7: Ärzte und Standespersonen
Sabine Arend (Heidelberg): Graf Georg Ernst von Henneberg (1511–1583) als Patient
Michael Stolberg (Würzburg / München): Ein mannhafter Kampf? François-Nicolas Baudot, Sieur Dubuisson-Aubenay (1591–-1652) und sein Krankheits-Tagebuch
Stefan Seitschek (Wien): Der kranke Körper des Kaisers: Karl VI. zwischen Krankheit und Gesundbrunnen
Sektion 8: Körperliche Einschränkungen
Heike Talkenberger (Stuttgart): Männlichkeit unter Druck: Der Hofzwerg Joseph Boruwłaski in seiner Autobiographie
Iris Ritzmann (Zürich): Aus dem Blickwinkel eines blinden Mannes – Ein Leben zwischen Selbstbestimmung und Bedürftigkeit in den Jahrzehnten um 1800
Claudia Opitz-Belakhal (Basel) / Gregor Schuhen (Koblenz-Landau) / Michael Meuser (Dortmund) / Pierre Pfütsch (Stuttgart): Tages- und Abschlusskommentare