Rationalitäten des Lebensendes. Sterbekulturen in Vergangenheit und Gegenwart

Rationalitäten des Lebensendes. Sterbekulturen in Vergangenheit und Gegenwart

Organisatoren
Anna Bauer / Florian Greiner / Sabine Krauss / Marlene Lippok / Sarah Peuten, Zentrum für Interdisziplinäre Gesundheitsforschung (ZIG) der Universität Augsburg
Ort
Augsburg
Land
Deutschland
Vom - Bis
07.03.2019 - 08.03.2019
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Von
Julia-Sophie Senneke, Institut für Sozialwissenschaften, Universität Augsburg

Die Erforschung des Lebensendes erfährt aufgrund der sich stark wandelnden Sozialstruktur Deutschlands einen steten Bedeutungszuwachs. Dies manifestiert sich mit der Etablierung der Thanatologie als eigenständigem Forschungsfeld – der interdisziplinären Wissenschaft des Sterbens und des Todes. Die wissenschaftliche Analyse flankiert dabei die gesellschaftlichen Transformationsprozesse der jüngeren Vergangenheit hin zu einer verbesserten, insbesondere als humaner verstandenen, Versorgung und Begleitung am Lebensende, beispielsweise durch die Hospizbewegung oder Palliativmedizin. Diese Verwobenheit von normativen gesellschaftlichen Aushandlungen und wissenschaftlicher Ergründung stellt sich besonders dann problematisch dar, wenn die Nutzung von zunächst gesellschaftskritischen Begriffen wie Institutionalisierung, Ökonomisierung oder Mechanisierung von der Forschung unhinterfragt übernommen wird. Der Workshop befasste sich mit jenen Problemstellungen, die einer wachsenden thanatologischen Forschungspraxis im 21. Jahrhundert gegenüberstehen. Dem Anspruch an interdisziplinärer Perspektivenvielfalt verpflichtet, förderte der Workshop den Austausch zwischen Forscher/innen aus der Pflegewissenschaft, Soziologie, Medizin, Kommunikationswissenschaft, Ethnologie und Geschichtswissenschaft.

Nach einer kurzen Begrüßung durch die wissenschaftliche Geschäftsführerin des Zentrums für interdisziplinäre Gesundheitsforschung, Julia von Hayek, führte FLORIAN GREINER (Augsburg) im Namen des Organisationsteams in die Komplexität des Themenfeldes ein. Hierbei fokussierte er die historisch nachzuzeichnenden Veränderungen innerhalb der deutschen Sterbekultur. Im Zuge dessen verwies er auf die Dringlichkeit, mit welcher thanatologische Forschung betrieben werden müsse, um die in den letzten Jahrzehnten neu entstandenen gesellschaftlichen, ethischen, medialen und medizinischen Rationalitäten am Lebensende zu erfassen.

Am Anfang des Workshops thematisierte ISABEL ATZL (Stuttgart) pflegerische Praktiken bei Sterbenden und stellte in diesem Zusammenhang ihr Forschungsprojekt zu Pflegepraktiken am Krankenbett im 19. und frühen 20. Jahrhundert vor. Mit ihrem Fokus auf die wechselseitige Beziehung zwischen Texten und Objekten, welche auf die beginnende Professionalisierung des Pflegeberufes verweisen, erweitert Atzl die historisch-kritische Methode sowie die Praxistheorie um dreidimensionale Dinge. Die untersuchten Objekte, wie z. B. der Bettschirm, brachte sie in Verbindung mit den Praktiken am Krankenbett und stellte besonders den auf Zuwendung und Wohlbefinden orientierten Umgang mit Sterbenden heraus. Im Anschluss an die historische Analyse von Pflegepraktiken stellte MARA KAISER (Vallendar) das Phänomen des Ekels im heutigen „Palliative Care“ Bereich vor. So rückte sie mit Hilfe der narrative inquiry das subjektive Erfahrungswissen der Pfleger/innen in den Mittelpunkt ihrer Forschung und eruierte eine Tabuisierung des Ekels. Das Spannungsfeld zwischen der Präsenz von Ekelgefühlen im Arbeitsalltag der Pflegenden und dem handlungsleitenden Anspruch an Professionalität und settingspezifischer Haltung beabsichtigte Kaiser durch die Schaffung von „Schutzräumen“ aufzulösen, in welchen Pfleger/innen gemeinsam über Ekelgefühle sprechen können, ohne das fürsorgliche Beziehungsgefüge zwischen Pfleger/in und dem zu Pflegenden zu belasten.

LILIAN COATES (Mainz) plädierte in ihrem Vortrag über Care-Beziehungen am Lebensende in stationären Hospizen für eine differenziertere Betrachtung des Hospizes als eine Organisation im Spannungsfeld zwischen medizinisch-pflegerischer Behandlung und Fürsorge. Das konstruierte Eigenbild der Hospize, welches besonders durch die Kontrastierung zum anonymisierten Sterben im Krankenhaus geprägt sei, dürfe von den Forscher/innen nicht unhinterfragt nachgezeichnet werden. Vielmehr gelte es die Komplexität der hospizlichen Arbeit als Wechselspiel zwischen „Care“ sowie Bürokratisierung und Ökonomisierung aufzuzeigen. SABINE KRAUSS (Augsburg) fokussierte in ihrem Vortrag den ambulanten Bereich und die Spezialisierte Ambulante Palliativversorgung (SAPV) in ihrer Einbettung in die Gesundheitspolitik. Anhand von Interviews, die im Rahmen des Verbundprojektes „Evaluierung der SAPV-Richtlinie: Outcomes, Interaktionen, Regionale Unterschiede (SAVOIR)“ erhoben wurden, analysierte sie mithilfe Max Webers Idealtypen des Handelns die Rationalitäten, welche in der SAPV vorherrschen. Am Beispiel des Umgangs mit Zeit in der SAPV exemplifizierte sie die vorherrschende, auf Zweckrationalität beruhende Logik der Rationalisierung und Ökonomisierung der Gesundheitspolitik in Deutschland. Obgleich die Zweckrationalität in der SAPV grundsätzlich angelegt sei, zeigte Krauss auf, wie in der Praxis oftmals eine pflegerische Seite besonders betont wird, die sich einer einseitigen Rationalisierung des Lebensendes zu entziehen vermag.

MICHAELA THÖNNES (Zürich) führte mit ihrem Vortrag zur Institutionalisierung und Individualisierung in der ambulanten Pflege die Diskussion um Sterbeverläufe sowie den hieran beteiligten Akteur/innen fort. Mit Hilfe klassischer Begriffe der Soziologie betrachtete sie Sterben als sozialen Vorgang, welcher von Normen bestimmt und von Institutionen organisiert werde. Thönnes konzentrierte sich auf Prozesse der Institutionalisierung sowie der Individualisierung, deren normative Aufweichung in der thanatologischen Forschung sie kritisch diskutierte. JULIA DORNHÖFER (Freiburg) stellte ihr Forschungsprojekt zu Patientenverfügungen vor und vertiefte die Diskussion um Selbstbestimmung am Lebensende als Teil eben jenes Ideals vom guten Sterben, das wiederholt im Zentrum des Workshops stand. Als zentrale These ihrer Arbeit beschrieb sie die Patientenverfügung, welche oftmals im Sinne einer dinglichen Manifestation der Debatten um Selbstbestimmung und Patientenrechte am Lebensende fungiere, als eine soziale Koproduktion, entstehend aus einem Interaktionsnetzwerk. Dabei unterwerfe die Patientenverfügung das Lebensende einer Dokumentenlogik und rationalisiere die ihr zugrundeliegende Willensbildung.

Eine Vertiefung zu Fragen nach „Care“ am Lebensende zur Medialisierung ANNA WAGNER (Augsburg), die die Kommunikation über Vorsorge für das Lebensende am Beispiel ausgewählter Online-Foren untersuchte. Mittels einer qualitativen Inhaltsanalyse zeigte sie, dass individuelle Vorsorge in der Gegenwart durch medienvermittelte Kommunikation praktiziert und ausgehandelt wird. Die entstehende Vergemeinschaftung in Online-Foren offenbare hierbei, wie Care-Netzwerke entstehen und stetig erweitert werden können, wodurch eine Verschränkung von Online- und Offlinekommunikation zu beobachten sei. Die Kommunikation in den jeweiligen Foren sei von der Suche nach Informationen und Erfahrungen, jedoch auch von dem Bedürfnis nach emotionaler Unterstützung geprägt. Ebenfalls aus einer kommunikationswissenschaftlichen Perspektive heraus argumentierte ANKE OFFERHAUS (Bremen), dass die Digitalisierung gesellschaftliche Veränderungen vorantreibe, die den Umgang mit Sterben, Tod und Trauer von der privaten Sphäre in den Fokus der Öffentlichkeit rücke. Sie unterstrich diese Argumentation durch die Analyse zweier mediatisierter Handlungsfelder, die zugleich eine Erweiterung von Handlungsmöglichkeiten am Lebensende offenbaren: die Thematik des digitalen Nachlasses und der Onlinetrauer auf z. B. digitalen Friedhöfen und in Trauerforen.

NIKLAS BARTH (München) konzentrierte sich in seinem Vortrag auf die Akteur/innen, die an der Konstruktion der Idee eines guten Sterbens beteiligt sind. Sterbeverläufe wurden hierbei als hochkomplexe organisatorische Prozesse erfasst, die zwar im Leben vorstrukturiert werden können, jedoch keinen weiteren Zugang zum Erleben des Sterbenden ermöglichen. Dementsprechend werde das Ideal des guten Sterbens von Lebenden konstruiert, die dem Sterbeprozess entweder als Erlebende beiwohnen oder ihn als aktiv Handelnde gestalten. Die normative Leitidee des guten Sterbens stand auch in FELIX TIRSCHMANNS (Konstanz-Landau) Ausführungen zur Sterbekultur im Hospiz im Mittelpunkt, wobei hier besonders die De-Rationalisierung des Lebensendes in Hospizen betont wurde. In einer detaillierten Einzelfallstudie zeigte er, wie die Ausrichtung der hospizlichen Praxis auf die Ideen eines guten Sterbens auch ungewollte Nebeneffekte produziere, etwa wenn Sterbende angesichts der intensiven Zuneigung die Hoffnung auf ein Überleben zurückgewinnen. Die Schaffung alternativer Deutungsangebote sowie einer neuen Sterbekultur, die sich von einer technokratischen und medizinischen abgrenze, werden im Hospiz als Ort sinnhafter Tätigkeiten realisiert.

Eine gänzlich neue Sichtweise brachte die Palliativmedizinerin ANNA KITTA (Wien) zu Sterberäumen ein. Sie empfand die vorwiegend kritische Perspektive auf das Krankenhaus als Sterbeort als zu einseitig und häufig irreführend. So sei das Krankenhaus zwar kein beliebter Sterbeort, wohl aber auch zukünftig der häufigste, was dringliche Fragen zur Sterbebegleitung in Kliniken aufwerfe. Die Verweise auf die Unzulänglichkeiten des Krankenhauses als Sterbeort verwarf sie, indem sie eine Fokussierung weg vom Sterbeort und hin zum Erleben des Sterbens vornahm. Mittels der Würdetheorie (Chochinov) und der Narrativen Medizin diskutierte sie Möglichkeiten, um von einem krankheits- und symptomorientierten Ansatz abzukommen und den Patient/innen das Gefühl eines „Gesehen-Werdens“ zu vermitteln. So könne es gelingen, deren Persönlichkeiten stärker zu berücksichtigen und damit die Furcht vor einem anonymen Sterben im Krankenhaus zu lindern. ANNA BAUER (Augsburg) betonte in ihrem Beitrag die Bedeutung des Sterbeortes und erörterte, wie das Sterben zuhause von der SAPV in organisierte Formen überführt wird. Besonders der Aspekt der Organisation dieser Sterbebegleitung wurde unter Hinzunahme der Systemtheorie von Niklas Luhmann hervorgehoben. Da die SAPV im privaten Gefüge des Zuhauses agiere, entstehe durch Organisation einerseits Berechenbarkeit, anderseits Erwartungssicherheit – das Ideal des guten Sterbens werde durch stetige Wiederholungen routiniert und dessen Umsetzung somit erwartbar. Neben dem Raum wird ebenfalls die Zeit zu einem wichtigen Aspekt in der palliativmedizinischen Versorgung Sterbender zu Hause. Durch einen Abgrenzungsdiskurs über die abstrakte Zeitlogik des Krankenhauses erscheint die palliativmedizinische Arbeit im Zuhause des Patienten als ein anzustrebendes Ideal. Abschließend sprach THORSTEN BENKEL (Passau) über die Veränderung des Sterbens von einem „unkontrollierbaren Schicksal zu einer logistischen Herausforderung“ für das Individuum. Die normative Leitidee des guten Sterbens werde hierbei zu einem Trugbild der Lebenssättigung, welches auch nur für alternde Menschen denkbar sei, was die Tatsache, dass in jedem Alter gestorben wird, ausblende. Die Vorstellung, das Leben sei ein individuell zu gestaltendes Projekt, gelte heutzutage auch für das Sterben, wodurch Reflexivität sowie Subjektivität am Lebensende zunehmen. Dies stehe im Kontrast zu der Tatsache, dass sich das Sterben als menschliche Praxis einer durchgreifenden Rationalisierung entziehe und von Irrationalität geprägt sei.

Der Workshop spiegelte die Perspektivenvielfalt wider, die die Untersuchung des Lebensendes eröffnet. Hierbei profitierten die Teilnehmer/innen besonders vom interdisziplinären Austausch und den je spezifischen Forschungserfahrungen, die lebhafte Debatten ermöglichten. Die Schwerpunkte, die im Verlauf des Workshops deutlich wurden und als Verbindungslinien zwischen den unterschiedlichen Vorträgen dienten, waren Aspekte der Selbstbestimmung bzw. der Ideale eines normativ konnotierten guten Sterbens, die spezifischen Care-Beziehungen, denen am Lebensende ein bedeutender Wert zufällt sowie die steigende Ausdifferenzierung von Handlungsmöglichkeiten am Lebensende. Die diversen Rationalitäten, die immer weiter das Ende des Lebens zu bestimmen drohen, wie z. B. Prozesse der Ökonomisierung, der Bürokratisierung oder der Medialisierung, wurden anhand dieser drei übergeordneten Thematiken analysiert und mitunter auch ihre Wirkmacht relativiert. Die Thanatologie als Forschungsgebiet kann von einem solch interdisziplinären Austausch nur profitieren.

Konferenzübersicht:

Florian Greiner (Augsburg): Rationalitäten des Lebensendes – Chancen und Perspektiven in der interdisziplinären Gesundheitsforschung

Sektion 1: Pflegepraktiken bei Sterbenden damals und heute
Moderation: Marlene Lippok (Augsburg)

Isabel Atzl (Stuttgart): Bettschirm und Karbolwasser – Pflegerische Praktiken und die dazugehörigen Objekte im Umgang mit Sterbenden und Toten im 19. und frühen 20. Jahrhundert

Mara Kaiser (Vallendar): Einsichten in den Ekel: Eine Narrative Inquiry zu den Erfahrungen von Palliative Care Pflegenden

Sektion 2: Das richtige Maß finden – Care in der Sterbebegleitung
Moderation: Anna Bauer (Augsburg)

Lilian Coates (Mainz): Mit den „Studies of Work“ im stationären Hospiz: Eine ethnomethodologische Betrachtung von Care-Beziehungen am Lebensende

Sabine Krauss (Augsburg): Who cares? Rationalitäten der Versorgung Sterbender zwischen Über- und Unterversorgung

Sektion 3: Herausforderungen und Optionssteigerungen in der Sterbekultur
Moderation: Pia Heutling (Augsburg)

Michaela Thönnes (Zürich): Das soziologische Grundthema der Institutionalisierung und Individualisierung in der Analyse von qualitativen Interviews im Bereich der ambulanten Pflege

Julia Dornhöfer (Freiburg): Sterben? Mit Sicherheit! Die Patientenverfügung als Instrument der persönlichen Sterbeversorgung

Sektion 4: Medialisierung(en) des Lebensendes
Moderation: Florian Greiner (Augsburg)

Anna Wagner (Augsburg): „Bitte achte auf dich“ – Die Kommunikation in Online-Communities über Care am Lebensende

Anke Offerhaus (Bremen): Sterben, Tod und Trauer in der digitalisierten Gesellschaft

Sektion 5: Aus der Suche nach dem „guten Tod“ – Sterben optimieren?
Moderation: Sabine Krauss (Augsburg)

Niklas Barth (München): Akteure des „guten“ Sterbens – Bilder und Szenarien von Sterbeverläufen in der organisierten Sterbebegleitung

Felix Tirschmann (Koblenz-Landau): Das bessere Sterben, Heilsversprechen durch „Care“ am Lebensende

Sektion 6: Sterberäume in der Palliativmedizin
Moderation: Sarah Peuten (Augsburg)

Anna Kitta (Wien): Wie kann PatientInnen der Raum gegeben werden die eigene Person zu zeigen? Versuche einer Erweiterung der medizinischen Perspektive am Lebensende

Anna Bauer (Augsburg): Atopie des Sterbens – Raum und Zeit in der organisierten, palliativmedizinischen Betreuung Sterbender zu Hause

Thorsten Benkel (Passau): Normativität, Subjektivität, Reflexivität. Über Bedeutungsumbrüche im Sterbeprozess

Abschlussdiskussion
Moderation: Sarah Peuten (Augsburg)


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