Die traditionsreiche, jährlich im Frühjahr abgehaltene öffentliche Vortragsveranstaltung der Gesellschaft für Unternehmensgeschichte e.V. gastierte dieses Jahr bei der SAP AG in Walldorf und war der nach wie vor allerorten prognostizierten „Industrie 4.0“ gewidmet. Wie SAP-Vorstandsmitglied LUKE MUCIC (Walldorf) als auch die neue GUG-Vorstandsvorsitzende SABINE FALKE-IBACH (Düsseldorf) in ihren einleitenden Vorträgen betonten, birgt diese sowohl Chancen als auch Herausforderungen – und zwar sowohl für die betroffenen Industrien selbst als Akteure im Feld, als auch für die wirtschaftsgeschichtliche Forschung als externe Beobachterin.
Die historische Perspektive eröffnete REINHOLD BAUER (Stuttgart), dessen Vortrag dem Ziel gewidmet war, die Vision der Industrie 4.0 zu historisieren und in den Kontext der Geschichte von Produktionstechniken und -organisation einzubetten, sowie nach Kontinuitäten in der Entwicklung zu fragen. Dazu betrachtete er vor allem den Übergang der Industrie 2.0 zur Industrie 3.0. Die Industrie 2.0, d.h. der sog. „Fordismus“, habe sich durch die weitgehende Arbeitszerlegung, die Nutzung von Sondermaschinen, maximale Standardisierung und die Starrheit der Produktion ausgezeichnet, emblematisch zu sehen im berühmten Fließband der Ford Motor Company. Infolge dieser Veränderungen in der Produktionsstruktur konnten große Stückzahl hergestellt werden, was die Entstehung der Massenkonsumgesellschaften in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts bedingte.
Bis in die Mitte der 1970er-Jahre blieb dieses Produktionsregime unangefochten. Verschiedene Faktoren wie die Ölkrise, die steigende Arbeitslosenzahl, das verlangsamte Wirtschaftswachstum und ein Globalisierungsschub hätten dann jedoch zu veränderten Konkurrenz-, Markt- und Wachstumsbedingungen, sowie zur Ausbildung neuer Konsummuster geführt. Innovative Rationalisierungsstrategien waren gefordert: Die flexible Automatisierung wurde zum "Zauberwort", neue Ideen der Fertigungsorganisation spiegelten sich in den rechnergesteuerten Produktionsmitteln wider, die sich im Zuge der "mikroelektronischen Revolution" durchsetzten und zu deren Symbol wiederum der Industrieroboter mutierte. Das "Ende der Industriearbeit", sowie die Rolle des Menschen in der Industrie waren die Diskussionsthemen der Zeit, wobei der utopischen Vorstellung eines von der Arbeit befreiten Menschen die Dystopie der Massenarbeitslosigkeit gegenübertrat. Mitte der 1980er sei diese Debatte jedoch allmählich im Sande verlaufen und von einer Phase der Ernüchterung abgelöst worden: Weder die hohen Erwartungen noch die Befürchtungen hatten sich erfüllt, denn weder war jede einfache Arbeit offenbar einfach algorithmierbar, noch war dies in den möglichen Fällen immer von Vorteil. Die radikale Vollautomatisierung schien nicht mehr wünschenswert, der Aufwand zu hoch. Der Wert menschlicher Arbeitskraft wurde wieder höher eingeschätzt.
In der Debatte zur Industrie 4.0 seien, so Bauer, nun vor allem konzeptionelle Gemeinsamkeiten zu beobachten: Technologische Innovationen sollen auf gewandelte gesellschaftliche Prioritäten und Marktveränderungen im Zuge der Globalisierung antworten. Auch die Frage nach der Zukunft der Arbeit und das Szenario einer menschenleeren Fabrik stehe dabei wieder im Raum. Unterschiede im Vergleich zum Übergang von der Industrie 2. 0 zur Industrie 3.0 zeigten sich indes vor allem in den neuen Elementen der Industrie 4.0 wie nicht zuletzt der "Kommunikation", aber auch im Anspruch vieler Unternehmen nicht nur die Produktion, sondern die gesamte Lebensdauer des Produktes bis hin zum Recycling zu kontrollieren. Der Mensch indes werde heute einhellig als unersetzbarer Entscheider angesehen. Als ein Problem in der Debatte um die "Industrie 4.0" identifizierte Bauer gleichwohl den Umstand, dass insgesamt sehr unterschiedliche Vorstellungen zum Verhältnis von Mensch und Maschine vorherrschend seien, was für Unübersichtlichkeit sorge.
Daran anschließend stellte HARTMUT HIRSCH-KREINSEN (Dortmund) seine arbeitssoziologischen Forschungsergebnisse der vergangenen sechs bis acht Jahre vor und kam gleich zu Beginn auf die "Mainstreamthese" zu sprechen, dass ein disruptiver Wandel der gesamten Arbeitswelt bevorstehe, der nicht nur die Industriearbeit, sondern alle Arten von Berufen treffen werde. Nicht zu bestreiten sei, dass sich in der von Vernetzung, Künstlicher Intelligenz und maschineller Autonomie geprägten Industrie die Frage neu stelle, welche Funktion der Mensch noch übernehmen werde. Wie schon Bauer verwies auch Hirsch-Kreinsen auf die zwei vorherrschenden Sichtweiten von Jobverlust, Dequalifizierung und wachsender sozialer Ungleichheit einerseits, sowie einer gänzlichen Kompensation von Jobverlusten und einer generellen Aufwertung von Arbeit andererseits. Die Empirie zeige jedoch, dass eindeutige Entwicklungstrends bis dato kaum auszumachen seien: In der Mehrzahl der Betriebe seien nur geringe Veränderungen zu beobachten; stattdessen würden konventionelle Prozesse verbessert, derweil man sich den neuen Möglichkeiten gegenüber in Vorsicht übe, da die Konsequenzen noch kaum abzusehen seien. Im Hinblick auf die Arbeit selbst ändere sich voraussichtlich nur wenig – langfristig seien eher moderate Jobverluste zu erwarten.
Jedoch sei, so Hirsch-Kreinsen weiter, ein langfristiger Strukturwandel von Tätigkeit und Qualifikation infolge der Tendenzen hin zu Automatisierung, Upgrading, Polarisierung und Flexibilisierung zu erwarten, die sich durchaus ergänzen könnten. Digitale Arbeit sei dabei als Gestaltungsprojekt zu verstehen, für das es kein Patentrezept gebe: Prognostizierte Potenziale und Innovationen seien nicht gleichzusetzen mit ihrer tatsächlichen Umsetzung. Die Bestimmungsfaktoren für den Einsatz der neuen Technologien hingen von verschiedenen Punkten wie Managemententscheidungen, Unternehmensstrategien und politischen Entscheidungen ab. Auch die befürchteten sozialen Konsequenzen stellten keinen Automatismus dar, denn einen "Technikdeterminismus" gebe es nicht. Die Alternative von "entweder Technologie oder Mensch" sei so in der Gestaltung von Produktionsstrukturen selten gegeben, beide seien vielmehr Faktoren innerhalb eines sozio-technischen Designs.
Indes bestünden mit Blick auf die konkrete Ausgestaltung gravierende Fragen in puncto Reichweite und Einsatzfelder der Entwicklungen. Auch bestünden Vorbehalte, sogar Desinteresse gegenüber der schwer beherrschbaren Komplexität der neuen Systeme. Die sozialpolitische Herausforderung bestehe vor allem darin, die Lücke zwischen den Jobverlusten und ihrer Kompensation zu überbrücken. Hier sei die Politik gefragt, passende Rahmenbedingungen zu schaffen. Ein historisch informierter Blick auf vergleichbare Konstellationen, so Hirsch-Kreinsen abschließend, könne jedoch zweifellos Abhilfe schaffen.
In der Podiumsdiskussion stellte THORSTEN PÖTTER (Frankfurt am Main) heraus, dass die Digitalisierung für sein Unternehmen notwendig sei, um in der Zukunft weiter bestehen zu können. Die Nachfrage, ob die Industrie 4.0 in seinem Unternehmen angekommen sei, verneinte er allerdings ausdrücklich und bezweifelte gleichzeitig, dass dies in irgendeinem Unternehmen über Ansätze hinaus bereits gelungen sei. Die Situation sei hier mit jener in den Rechtswissenschaften vergleichbar, wo ebenso über bereits über vieles diskutiert würde, was noch nicht vorhanden ist.
HERBERT ZECH (Basel) führte diese "Science-Fiction-Sachverhalte" auf eine Mischung von Geschichtsvergessenheit und Überenthusiasmus zurück und erhielt Zustimmung von KARL-HEINZ LAND (Köln). Letzterer verwies allerdings darauf, dass dies auch als ein Zeichen der Gewöhnung an die enorme Beschleunigung von Innovationsdynamiken interpretierbar sei: Insofern sei es durchaus rational, bereits jetzt über die zukünftige Entwicklung einer "Industrie 5.0" nachzudenken. Die allgemeine Konzentration auf die Optimierung von bereits vorhandenen Produkten in der deutschen Industrie sei demgegenüber von Nachteil, da diese in Zukunft wahrscheinlich gar nicht mehr existieren würden. Hier seien andere Herangehensweisen und Geschäftsmodelle gefragt.
Mit Blick auf die vermeintliche Fehlerhaftigkeit vergangener Prognosen wie jener der 1970er-Jahre, die eine allgemeine Massenarbeitslosigkeit perhorreszierten, widersprach Reinhold Bauer der Neigung, diese grundsätzlich als falsch zu bewerten: Zum einen seien durchaus Arbeitsplätze verloren gegangen, zum zweiten sei heute in der Tat eine erhebliche Diversifizierung von Qualifikationen zu beobachten. Diverse komplexe Prozesse wie die Tertiärisierung hätten sich seit den 1970er-Jahren überlagert und mit dazu beigetragen, die Arbeitsplatzverluste zu kompensieren. Wie die Entwicklung in Zukunft weitergehen werde, sei allerdings unklar, da die Vielzahl der Faktoren weder zu überblicken noch in ihren Folgewirkungen prognostizierbar sei.
Auch Land betonte, die Debatte um die Arbeitsplätz sei keineswegs neu: Arbeitsplätze seien immer wieder verschwunden, ohne dass dem Menschen die Arbeit ausgegangen sei. Der gegenwärtige Fachkräftemangel und die Überlastung der Arbeitnehmerschaft, etwa an den Schulen, deute in eine andere Richtung. Pötter fügte ergänzend dazu den Dienstleistungssektors an, welcher in den vergangenen Jahren Arbeitsplätze aufgefangen habe. Die gegenwärtige Entwicklung betreffe jedoch genau diesen, weshalb die Folgen nicht abzusehen seien. Dass die jetzige “Revolution“ vom Service, nicht von den Fabriken ausgeht, identifizierte auch Land als genuines Charakteristikum der gegenwärtigen Entwicklung. Pötter fokussierte hier vor allem die Nutzung des Mobiltelefons.
Der letzte große Themenkomplex betraf das Thema Daten, insbesondere die Konkurrenzfähigkeit kleiner europäischer mittelständischer Unternehmen mit den großen amerikanischen Datensammlern der GAFA-Unternehmen. Obschon Daten, so Zech, zweifelsohne an Bedeutung gewonnen haben, sei der entscheidende Faktor doch nicht das Speichern von Daten an sich, sondern die Frage, was man damit mache und vor allem: wie man damit Geld verdienen könne. Pötter ergänzte dazu, die Frage der Datennutzung sei weitaus relevanter als die Frage des Datenschutzes. Datensparsamkeit sei allerdings nicht der richtige Weg: Vielmehr sei die Datensouveränität eines jeden Einzelnen zu schützen. Große Firmen wie Facebook und Google agierten vor allem als Vermittler, die Daten und Wissen weitergeben. Dieses Geschäftsmodell sei jedoch nicht zukunftsfähig, weil die Datensouveränität eine andere Hoheit besitze und der Bürger ein größeres Bewusstsein für die Vorgänge entwickeln werde. Gleichzeitig sei, so Land, eine neue dramatische Verschiebung zu bezeugen: Die Zyklen der Verschiebungen verkürzten sich zunehmend, sodass die Gesellschaft sich weniger einem Technologie-, sondern in erster Linie einem Zeitproblem gegenübergestellt sehe. In den abschließenden Kommentaren zur Frage, wie ein Unternehmen seine Mitarbeiter auf dem Weg der Digitalisierung mitnehmen könne, wurden Offenheit und Aufklärung, das Leben einer Fehlerkultur, die Beteiligung und Einbindung der Mitarbeiter als unabdingbare Faktoren genannt.
Im Anschluss an die Diskussion erhielt WIEBKE LENA GLÄSSER (Berlin), laudiert von TONI PIERENKEMPER (Köln), den Preis für Unternehmensgeschichte überreicht für ihre Dissertation zum internationalen Kartell der Ölgesellschaften in den 1960er- und frühen 1970er-Jahren.
Konferenzübersicht:
Begrüßung
Luke Mucic (SAP, Walldorf)
Sabine Falke-Ibach (Universität Düsseldorf)
Vorträge
Reinhold Bauer (Universität Stuttgart): Vom Ende der Industriearbeit? Industrie 4.0 aus technikhistorischer Perspektive
Hartmut Hirsch-Kreinsen (TU Dortmund): Entwicklungstrends digitalisierter Arbeit
Kommentar: Franz Hero (SAP, Walldorf)
Podiumsdiskussion
Reinhold Bauer (Universität Stuttgart), Hartmut Hirsch-Kreinsen (TU Dortmund), Karl-Heinz Land (neuland.digital, Köln), Thorsten Pötter (Samson AG, Frankfurt am Main) & Herbert Zech (Universität Basel): Unternehmen 4.0 – Hoffnung oder Horror?
Moderation: Carsten Knob (FAZ, Frankfurt am Main)
Verleihung des Preises für Unternehmensgeschichte
Wiebke Lena Glässer (Berlin): Marktmacht und Politik – Das internationale Kartell der Ölgesellschaften 1960-1975
Laudatio: Toni Pierenkemper (Köln)