In den Geschichts- und Kulturwissenschaften hat sich mittlerweile ein breiter Konsens darüber herausgebildet, dass Wissenschaft und Politik, Wissen und Macht nicht als voneinander geschiedene soziale Sphären zu begreifen sind. Wie aber das komplexe Verhältnis von Wissenschaft und Politik in der Zeitgeschichte zu konturieren sei, dieser Frage ging der Workshop nach.
Die Geschichtswissenschaft der letzten Jahrzehnte kennt für politisch aktive WissenschaftlerInnen im Wesentlichen zwei Modi der Einflussnahme: die Beratung oder das Verfassen von Leitartikeln. Hat die historische Expertenforschung in Anschluss an Lutz Raphaels Forschungsprogramm zur „Verwissenschaftlichung des Sozialen“ hingegen untersucht, wie wissenschaftliche Expertisen politische Entscheidungsprozesse beeinflussen,1 so ging es der historischen Intellektuellenforschung vor allem darum, WissenschaftlerInnen als Kommentatoren des Zeitgeschehen in den Blick zu nehmen, wobei vorwiegend auf GeisteswissenschaftlerInnen fokussiert worden ist und insgesamt ein Niedergang der Figur des öffentlichen Intellektuellen zu verzeichnen sei.2
Für die Aktivitäten von WissenschaftlerInnen aber, wie sie sich z. B. seit den 1960er-Jahren in Formen eines politischen oder gesellschaftlichen Aktivismus beobachten lassen (z. B. in der Anti-Psychiatrie-Bewegung, Antiatomkraft-Bewegung, Umweltbewegung, Gentechnik-Debatte, Migrationsdebatte, Debatten um Klimawandel etc.), scheinen weder die Form staatlicher Expertengremien noch die Rolle des kritischen Intellektuellen eine adäquate Beschreibung darzustellen. Vielmehr – so die Ausgangsthese der VeranstalterInnen des Workshops – gebe es ein ganzes Arsenal anderer medialer, institutioneller oder auch informeller Strategien der Einflussnahme, die überhaupt erst noch zu katalogisieren seien. Um sich diesem Problemfeld anzunähern, schlugen die VeranstalterInnen versuchsweise Scientific Political Activism als Sammelbegriff vor, den die ReferentInnen in sechs Fallstudien empirisch anzureichern versuchten.
INES HÜLSMANN (Zürich) stellte in ihrem Vortrag die Gründungsausschüsse der sogenannten Reformuniversitäten Bielefeld, Bochum und Konstanz in vergleichender Perspektive in den Mittelpunkt. Hülsmann skizzierte dazu zunächst die konfliktreiche Etablierung einer planvollen Wissenschaftsorganisation in der frühen Bundesrepublik, die im Jahr 1957 ihren maßgeblichen Höhepunkt in der Einrichtung des Wissenschaftsrats fand. Die Gründungsausschüsse fungierten, so argumentierte die Referentin überzeugend, als strategische Plattformen für ausgewählte Wissenschaftler, mittels derer sie über das Veröffentlichen von programmatischen Leitartikeln hinaus hochschulpolitisch tätig werden konnten. Im halböffentlichen Raum erlaubte ihnen das Format Gründungsausschuss als „formgewordenes Vertrauensverhältnis“, im komplexen Regime der Hochschulpolitik „unter sich zu bleiben“ und informell Gelehrtenpolitik zu betreiben. Hülsmann betonte dabei im Besonderen die unter vorgeblicher politischer Neutralität mitunter konfliktreich ausgehandelte Personalpolitik, die über die Zusammensetzung der Ausschüsse entschied und die zur Folge hatte, dass die gesellschaftlich-politische Positionierung zu einem wichtigen Rekrutierungskriterium für Universitätsstellen wurde.
LUKAS HELD (Zürich) spürte anhand des zwischen 1965 und 1970 an amerikanischen Highschools durchgeführten Achievement Motivation Development Projects einer vermeintlich passiven Form von Aktivismus jenseits von Lobby- und Beratertätigkeit nach. Nach dem Motto eines „Giving psychology away“ positionierten sich die US-amerikanischen Motivationspsychologen David McClellend und Alfred Alschuler durch Workshops, Lehrmaterialien und Selbsthilfebücher als großzügige Wissensspender mit gesellschaftspolitischer Agenda, ohne dabei das Feld der institutionalisierten Politik betreten zu müssen. Der Referent arbeitete dabei konzise Gelingensbedingungen für eine solche politische Nutzbarmachung psychologischen Wissens heraus: So musste theorieförmiges Wissen in praktische Übungen übersetzt werden, die in konkreten sozialen Kontexten Anwendung finden konnten. Dazu war es nötig, dass die Psychologen möglicherweise entgegen der fortschreitenden akademischen Debatte den Forschungsstand zumindest temporär einfroren – auch auf die Gefahr hin, dadurch aus der Scientific Community ausgeschlossen zu werden. Schließlich galt es aber zuvorderst mittels einer Rhetorik der Dringlichkeit, welche die aktuellen gesellschaftlichen Fragen und Konflikte wie Rassismus und gesellschaftliche Ungleichheit als psychologische Probleme reformulierte, überhaupt erst eine öffentliche Nachfrage zu generieren und somit die Kontextbedingungen des eigenen Erfolgs zu schaffen.
MARINA LIENHARD (Zürich) skizzierte sodann anhand der Biographie des schottischen Psychiaters und Schizophrenieforschers Robert D. Laing das Feld der Psychiatriekritik in den langen 1960er-Jahren. Sie rekonstruierte, wie Laing ab Ende der 1950er-Jahre einen grundlegenden Wandel hin zu antipsychiatrischen Ansätzen vollzog. In seinen Publikationen wies sie auf eine konzeptionelle Verschiebung von Schizophrenie als Krankheit hin zur Betonung der pathologisch kranken Gesellschaft hin, die als eine zunehmende Politisierung zu verstehen sei. Lienhards Verdienst liegt, wie auch PASCAL GERMANN (Bern) in seinem Zwischenkommentar hervorhob, im Besonderen darin, das Konzept der Grenzüberschreitung und des „boundary work“ für das Thema des Workshops fruchtbar gemacht zu haben.3 Hieran anknüpfend bot Laings zunehmend inszeniertes Auftreten in außerwissenschaftlichen Öffentlichkeiten in der anschließenden Diskussion zudem Gelegenheit, das spezifische Verhältnis von Wissenschaft, Scientific Political Activism und medialer Aufmerksamkeitsökonomien zu problematisieren.
NILS GÜTTLER (Zürich) nahm die ökologischen Protestbewegungen in der Bundesrepublik Deutschland in den Blick, um der Frage nachzugehen, warum in diesem an sich schon gut erforschten Feld die Rolle von WissenschaftlernInnen bislang kaum untersucht wurde. Dies überrasche insbesondere deswegen, weil sich WissenschaftlerInnen häufig in direkter Nähe zu den einschlägigen Konfliktherden befanden und ihr Wissen in untypischen medialen Formaten und Plattformen wie Newslettern, selbstgedruckten Zeitschriften, spontan errichteten Podien, Kirchen, Parlamenten und Verwaltungen zirkulierte. Zum einen habe diese Vernachlässigung damit zu tun, dass sich die Wissenschaftsgeschichte bislang schwer damit getan habe, die politische Geschichte in ihr Narrativ zu integrieren. Zum anderen könne die häufig ambivalente politische Funktion, die WissenschaftlerInnen innerhalb dieser Bewegung erfüllten, nicht adäquat mit dem Konzept des „Experten“ beschrieben werden. Güttler schlug darum vor, den Fokus von den Akademien, Universitäten und wissenschaftlichen Einrichtungen auf jene Orte zu wenden, wo Umweltwissen im 20. Jahrhundert gesellschaftlich virulent und politisch umkämpft war. Dazu böten sich beispielsweise großen Infrastrukturprojekte an wie die Erweiterung des Frankfurter Flughafens. In der anschließenden Diskussion wurde die Frage diskutiert, inwiefern eine solche breite Verteilung und Nutzung von wissenschaftlichem Wissen und das Auftauchen von sogenannten „GegenexpertInnen“ als eine Entwicklung hin zu einem postfaktischen Zeitalter gesehen werden kann, in der Wissen und Meinung ununterscheidbar zu werden drohen, oder ob es sich vielmehr um einen Demokratisierungsprozess handelt.
ANNA MARIA SCHMIDT (Duisburg/Essen) wandte sich der bundesdeutschen Gentechnologie-Debatte zu und fokussierte dazu auf ein Fachsymposium im Jahr 1986 in Heidelberg, das tatsächlich beides war: ein Ort der Wissenschaftsvermittlung und der politischen Agitation. Sie legte den Schwerpunkt ihrer Analyse dieser öffentlichen Zusammenkunft von Biologen, Chemikern, Medizinern, Rechts- und Politikwissenschaftlern auf die eingesetzten Rhetoriken und Selbstinszenierungen der Beteiligten und arbeite so eindrucksvoll heraus, wie WissenschaftlerInnen in ihren Sprech- und Darstellungsweisen gezielt politische Botschaften platzierten. Sie taten dies ironischerweise gerade dadurch, dass sie den eigenen Status als unabhängige WissenschaftlerInnen betonten. So wurde ihr Auftreten als eine direkte Form eines Scientific Political Activism lesbar, das darauf abzielte, BürgerInnen mit einer kritischen Einschätzung der Gentechnologie zu erreichen, um so den gesellschaftlichen Druck auf die schwarz-gelbe Regierung zu erhöhen, die zu dieser Zeit versuchte, eine liberale Gentechnik-Gesetzgebung auf den Weg zu bringen – und damit letztlich scheiterte.
Im abschließenden Doppelreferat von MONIKA WULZ und MAX STADLER (beide Zürich) ging es um die Frage, wie es zur Allianz von neurechtem Denken und (natur-)wissenschaftlichen Argumentationsweisen kam und sich dadurch seit etwa den 1970er-Jahren ein Sprechen über Ungleichheit zwischen Menschen, Kulturen und „Völkern“ etablieren konnte, das Ansprüche auf wissenschaftliche Autorität erhebt. Die Referenten führten die Entwicklung auf eine Krise des Wissens und des Verstehens in den 1960/70er-Jahren zurück, als Vorstellung von Rationalität und Planbarkeit des gesellschaftlichen Lebens an ein Ende gekommen waren und zugleich ein neues Verständnis dessen entstand, was den Bereich des Politischen und seine Aktionsformen ausmache. In dieser Phase sei es zur Gründung neuer Foren, Publikationsprojekten, Stiftungen, para-akademischen Forschungsinstitutionen und Think Tanks gekommen, in denen sich PolitikerInnen und WissenschaftlerInnen trafen, um Wissen über Ungleichheit auszutauschen bzw. dieses überhaupt erst als solches in Position zu bringen. Der Krise des wohlfahrtsstaatlichen Planungsdenkens und des sozialstaatlichen Bestrebens nach Chancengleichheit habe die Neue Rechte die Arbeit an einem Wissen von der Geschichte und Natur hierarchischer Gesellschaftsordnungen gegenübergestellt – von Elite- und Leistungsdiskursen, Rassentheorien und der Geschichte eines nicht-jüdisch-christlichen Europa. Monika Wulz und Max Stadler konnten damit die verbreitete These einer allgemeinen Wissenschaftsfeindlichkeit der Neuen Rechten stark relativieren und zugleich zeigen, dass biologistische Deutung sozialer Ungleichheit auch nach 1970 neben Formen eines neuen kulturellen Rassismus fortbestanden. Die Analyse der spezifischen Vereinnahmungsweisen von Wissenschaftlern unterschiedlicher Disziplinen und politischer Orientierung für das Projekt der Neuen Rechten zeigte eindrucksvoll, wie über den Rückgriff auf Wissenschaft gezielt Deutungsmacht aufgebaut werden konnte. So wurde es der Neuen Rechten möglich, politische Gegner als unwissenschaftlich und emotionsgeleitet zu diffamieren und ihre eigene Position als fundierte Tatsachen auszugeben.
PASCAL GERMANN (Bern) wies schließlich in seinen Kommentaren auf einige konzeptionelle Baustellen hin: Zum einen hob er auf die auffälligen narrativen Gemeinsamkeiten der einzelnen Beiträge ab. So habe man den Eindruck gewinnen können, Scientific Political Activism bestünde ausschließlich darin, dass WissenschaftlerInnen zumindest zeitweise die Sphäre der Wissenschaft verlassen, um sich politisch zu engagieren. Um die hierin implizierte scharfe konzeptionelle Trennung der beiden Felder zu vermeiden, gelte es immer auch die Perspektive umzukehren und Formen des Political Scientific Activism zu untersuchen, also im Sinne einer historisch-politischen Epistemologie diejenigen „Kategorisierungen und Deutungen“ in den Blick zu nehmen, „die auf politischen Voraussetzungen basieren, auf politische Nachfragestrukturen antworten und Horizonte politischen Handelns abstecken.“ Zum anderen wies Germann auf die Gefahr hin, die Autorität und Strahlkraft einzelner politisch aktiver WissenschaftlerInnen zu überschätzen; ein solches politisches Engagement stelle sich doch in der Regel als ein prekäres Unterfangen dar, das konfligierenden Ansprüchen zu genügen hatte und sich dabei immer wieder in Widersprüche verstrickte. Neben je eigenen kontextuellen Faktoren machte Germann als Gründe hierfür im Besonderen die unterschiedlichen Zeithorizonte aus, in denen Politik und Wissenschaft operierten. Gerade diese Unsicherheiten und Widersprüche gelte es bei der Historisierung des Scientific Political Activism in den Blick zu nehmen.
Den OrganisatorInnen und ReferentInnen ist es mit dem Workshop gelungen, einige empirische und konzeptionelle Schneisen in die politische Zeitgeschichte wissenschaftlichen Wissens zu schlagen und dabei ein Themenfeld zu eröffnen, dessen weitere Erforschung mit dem Versprechen aufwartet, substantielle Beiträge sowohl zur Wissenschaftsgeschichte als auch zur politischen Geschichte der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu liefern. Dies gilt im Besonderen dann, wenn es mit einem wissensgeschichtlichen Zugriff gelingt, die Überlagerung unterschiedlicher politischer, kultureller und wissenschaftlicher Kontexte herauszuarbeiten, indem die Zirkulation von wissenschaftlichem Wissen im Feld des Politischen zum Gegenstand der Untersuchung gemacht wird. Die auch dem Workshop-Programm zugrundeliegende Unterscheidung von Geistes- und Naturwissenschaften erweist sich dabei jedoch als heuristisch hinderlich: In der vergleichenden Zusammenschau der Beiträge zeigte sich, dass den Naturwissenschaften mitnichten ein Sonderstatus zukommt; wie Pascal Germann resümierte, erweisen sich „die ‚harten‘ Fakten der Naturwissenschaft offenbar nicht als immuner gegenüber einem Scientific Political Activism als die sozialen Fakten der Sozialwissenschaften“. Statt Disziplinen beziehungsweise Disziplinengruppen zum Ausgangspunkt der Untersuchung zu nehmen, sollte daher stärker von einzelnen politischen Debatten und Konflikten sowie von konkreten Formen politischer Intervention durch WissenschaftlerInnen her gedacht werden. Als Diskussionsgrundlage hierzu wäre die Publikation der Beiträge des Workshops wünschenswert.
Konferenzübersicht:
1. Session: Geisteswissenschaften
Moderation: Monika Wulz (ETH Zürich)
Lukas Held (Universität Zürich): Einführungsvortrag
Ines Hülsmann (ETH Zürich): Einflusssphäre Gründungsausschuss: «Gelehrtenpolitiker» und die Entstehung der «Reformuniversitäten» in den Halböffentlichkeiten der BRD, kommentiert von Lukas Held
Lukas Held (Universität Zürich): Politik der Verführung: Strukturelle Ungleichheit als
psychologisches Problem, kommentiert von Marina Lienhard
Marina Lienhard (Universität Zürich): Grenzüberschreitungen: Wissenschaft, Anti- Psychiatrie und Wahnsinn in den langen sechziger Jahren, kommentiert von Ines Hülsmann
Zwischenkommentar: Pascal Germann (Universität Bern)
2. Session: Naturwissenschaften
Moderation: Lukas Held (Universität Zürich)
Nils Güttler (ETH Zürich): Gegenexperten: Umweltwissen und neue Epistemologien rund um die Startbahn West-Bewegung, kommentiert von Monika Wulz
Anna Maria Schmidt (Universität Duisburg-Essen): Die Rolle der WissenschaftlerInnen in
der bundesdeutschen Debatte um Gentechnologie in den 1980er-Jahren, kommentiert von Nils Güttler
Monika Wulz / Max Stadler (ETH Zürich): Wissenschaft und Neue Rechte
Pascal Germann (Universität Bern): Schlusskommentar
Anmerkungen:
1Lutz Raphael, Die Verwissenschaftlichung des Sozialen als methodische und konzeptionelle Herausforderung für eine Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts, in: Geschichte und Gesellschaft 22/2, 1996, S. 165–193. Siehe auch Alexander Bogner; Helge Torgersen, Sozialwissenschaftliche Expertiseforschung. Zur Einleitung in ein expandierendes Forschungsfeld, in: dies. (Hg.): Wozu Experten? Ambivalenzen der Beziehung von Wissenschaft und Politik, Wiesbaden 2005, S. 7–29.
2 Siehe exemplarisch den Forschungsbericht von Hans Manfred Bock, Der Intellektuelle als Sozialfigur. Neuere vergleichende Forschungen zu ihren Formen, Funktionen und Wandlungen, in: Archiv für Sozialgeschichte 51, 2011, S. 591–643.
3 Siehe grundlegend Thomas F. Gieryn, Boundary-work and the Demarcation of Science from non-Science. Strains and Interests in Professional Ideologies of Scientists, in: American Sociological Review 48/6, 1983, S. 781–795.