Gottlieb von Jagow (1863-1935) und sein Umfeld. Ein kaiserlicher Spitzendiplomat zwischen Erstem Weltkrieg und Kriegs(un)schuldforschung

Gottlieb von Jagow (1863-1935) und sein Umfeld. Ein kaiserlicher Spitzendiplomat zwischen Erstem Weltkrieg und Kriegs(un)schuldforschung

Organisatoren
Historische Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften; Deutsche Forschungsgemeinschaft; Leibniz-Sozietät der Wissenschaften zu Berlin e.V.
Ort
München
Land
Deutschland
Vom - Bis
06.06.2019 - 07.06.2019
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Von
Jakob Müller, Friedrich-Meinecke-Institut, Freie Universität Berlin

Die historische Forschung zum Ersten Weltkrieg begann bereits während des Kriegs und war Teil der Propaganda der kriegführenden Staaten. Die publizistische Auseinandersetzung um die Deutungshoheit endete 1918 nicht, sondern wurde mit vermehrter Schärfe fortgeführt. Die Tagung stellte am Beispiel des ehemaligen Staatssekretärs des Äußern Gottlieb von Jagow die Einbindung ehemals politisch Verantwortlicher in die geschichtspolitischen Debatten der Weimarer Zeit und in die Strategie der deutschen Regierung zur Revision des Versailler Vertrages vor. Die Beiträge widmeten sich exemplarisch Personen aus dem Umfeld Jagows sowie der Kriegsschulddebatte in Belgien und Polen.

HANS WERNER HAHN (Jena) begrüßte die Teilnehmer des Workshops im Namen der Historischen Kommission der Bayerischen Akademie der Wissenschaften und gab sodann einen Abriss zur Entwicklung der von der Kommission herausgegebenen traditionsreichen Reihe „Deutsche Geschichtsquellen des 19. und 20. Jahrhunderts“. Deren erste Bände erschienen bereits ab dem Jahre 1919 zum großen Themenkreis der Herausbildung des deutschen Nationalstaates. Nach dem Zweiten Weltkrieg gewannen die Editionen sowohl durch Aktenveröffentlichungen zur Vorgeschichte und Geschichte des Ersten Weltkrieges als auch von Dokumenten zur Geschichte der Geschichtsschreibung zwei neue Schwerpunkte. In beide fügt sich das von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderte Projekt „Gottlieb von Jagow und die Kriegsschuldfrage 1918 bis 1935. Zur Rolle des ehemaligen Chefs des Auswärtigen Amtes in den geschichtspolitischen Debatten der Weimarer Zeit. Eine historiographisch-biographische Untersuchung“ ein.

REINHOLD ZILCH (Berlin) erläuterte einleitend Forschungsfragen und bisherige Ergebnisse des DFG-Projekts. Jagow sei ein großer Unbekannter, obwohl er in der Juli-Krise 1914 zu der sehr kleinen Zahl der Entscheidungsträger zählte. Das Projekt widme sich nun Jagows Rolle im Rahmen der Kriegsschuldforschung. Hierzu dienen die bisher bekannten 27 Veröffentlichungen Jagows als Ausgangspunkt, die zwischen 1919 und 1935 erschienen. Diese sollen nach ihrer Einbindung in die offiziöse deutsche Kriegsschuldforschung befragt werden, d.h. vor allem nach der Zusammenarbeit mit dem Auswärtigen Amt und dem Reichsarchiv bei der Abfassung der Texte und ihrer Verbreitung. Darüber hinaus werde die Rezeption Jagows im In- und Ausland und die Entwicklung des Jagow-Bildes bis heute in den Blick genommen. So solle ein Beitrag zur Geschichte des Ersten Weltkriegs und seiner Folgen geleistet werden, ebenso wie zur Historiographiegeschichte, insbesondere der sogenannten Kriegsschuldforschung und der Rolle der ehemaligen kaiserlichen Eliten in der Weimarer Republik. Mit Hilfe der Akten des Schuldreferates im Politischen Archiv des Auswärtigen Amts ließ sich bisher eine direkte Zusammenarbeit Jagows mit dem AA in drei Fällen nachweisen. Auch für Jagows erste Nachkriegsschrift „Ursachen und Ausbruch des Weltkriegs“, die im April/Mai 1919 während der Verhandlungen in Versailles erschien, sei eine inhaltliche Abstimmung wahrscheinlich. Das Buch erschien fast zeitgleich mit den Betrachtungen Bethmann-Hollwegs, der ebenfalls im Verlag Hobbing publizierte. Eine Abstimmung mit dem AA lasse sich aber bisher nicht belegen. Nachweisen ließ sich hingegen, dass Jagow diese Publikation bereits während des Kriegs vorbereitete. Ein weiterer Schwerpunkt des Projekts sei der Abgleich der nach 1919 erschienenen Schriften mit dem 1931 abgeschlossenen, aber unveröffentlichten Manuskript der Memoiren Jagows, in denen er u.a. scharfe Kritik am Kaiser übte. Eine Frage sei, welche Aussagen, Einsichten und Wertungen Jagow bis 1931 neu gewonnen hatte bzw. zu äußern bereit war und warum er dann von einer Publikation Abstand nahm.

GERD FESSER (Apolda) behandelte die Darstellung Jagows in den posthum veröffentlichten „Denkwürdigkeiten“ des ehemaligen Reichskanzlers Bernhard von Bülow. Die Betrachtungen des Fürsten zur wilhelminischen Politik waren vor allem wegen seiner ebenso plastischen wie boshaften Schilderungen der historischen Personen den Zeitgenossen eine beliebte Lektüre. Die wenig selbstkritischen Ausführungen Bülows seien trotz einiger Falschdarstellungen eine wichtige historische Quelle. Der Abgleich mit anderen Dokumenten, etwa seinen unveröffentlichten Merkbüchern, zeige, dass Bülow in vielem richtig lag. Niemand habe zudem den Byzantinismus der wilhelminischen Hofgesellschaft besser schildern können als der Byzantinist Bülow. Dieser bezeichnete es als schweren Fehler, dass Deutschland 1914 zuerst angriff, und kritisierte Jagow, dem er bescheinigte, im Gegensatz zu seinem Vorgänger Kiderlen die Warnungen Lichnowskys, des deutschen Botschafters in London, nicht ernstgenommen zu haben. Jagow verteidigte sich in dem Band „Front wider Bülow“ gegen diese Darstellung.

Der Vortrag HARTWIN SPENKUCHS (Berlin) widmete sich dem Verhältnis Jagows zu Karl Fürst von Lichnowsky. Letzterer hatte die Ernennung Jagows 1913 unterstützt, entwickelte sich dann aber zu einem wichtigen Kritiker der Reichsleitung. Er berichtete bereits 1912, dass das Vereinigte Königreich ein Niederwerfen Frankreichs nicht zulassen werde. In einem während der Julikrise an Jagow gerichteten Privatbrief kritisierte er die Nibelungentreue zu Österreich-Ungarn und vertrat die Ansicht, die deutsche Politik habe die Ängste in Frankreich und Großbritannien erst hervorgerufen. Die Veröffentlichung seiner Aufzeichnungen während des Kriegs trug ihm eine Anklage wegen Landesverrats und den Ausschluss aus dem Preußischen Herrenhaus ein. In der Kriegsschulddebatte nach 1918 spielte Lichnowsky keine wichtige Rolle mehr. Im seinem 1926 erschienenen Buch „Auf dem Weg in den Abgrund“ vertrat er die Ansicht, Deutschlands Staatsmänner hätten den Krieg nicht gewollt, ihn aber durch Inkompetenz herbeigeführt. Jagow verteidigte sich vor allem gegen Lichnowskys Vorwurf, einen Präventivkrieg gewollt zu haben. Dies habe ihm ferngelegen, man habe aber eine Minderung des deutschen Ansehens nicht in Kauf nehmen können, wie sie ein Verzicht auf die Unterstützung Wiens mit sich gebracht hätte.

Den Abendvortrag „Die unbewältigte Niederlage“ hielt GERD KRUMEICH (Düsseldorf), der dafür plädierte, bei der Betrachtung der Kriegsschulddebatte die Perspektive der heimkehrenden Soldaten stärker einzubeziehen. Deren Einsatz sei ebenso wie das Leiden derjenigen, die Angehörige im Krieg verloren hätten, durch die Niederlage entwertet worden. Im Gegensatz zu Frankreich gebe es in Deutschland bis heute eine Unfähigkeit zur gemeinsamen Trauer, die die politischen Gegensätze hätte überbrücken können. Die historische Forschung habe sich zwar mit der Kriegsschulddiskussion der 1920er Jahre befasst, jedoch nicht thematisiert, warum diese so verbissen geführt worden wäre. Die Forschung der 1970er und 1980er Jahre habe die Überzeugung, dass Deutschland am Beginn des Kriegs schuldig sei, vorausgesetzt. Erst Christopher Clarks Buch „Die Schlafwandler“ habe dies verändert. Es sei noch nicht genug reflektiert worden, warum dieses Buch so erfolgreich gewesen sei. Krumeich betonte, er selbst vertrete die Auffassung, dass es die deutschen Verantwortlichen waren, welche die Lunte des gemeinsam errichteten Pulverfasses in Brand gesetzt hätten. Allerdings hätten vor dem Ersten Weltkrieg auch Linke die Vorstellung einer Einkreisung Deutschlands geteilt. Die umfangreiche Literatur zur Kriegsschuldfrage zeige, dass es sich um ein „kollektives Trauma“ der Deutschen handelte. Es sei beispielsweise nur wenig bekannt, dass Otto Wels, als er 1933 vor dem Reichstag die Ablehnung des Ermächtigungsgesetzes begründete, den außenpolitischen Kurs der Regierung Hitler begrüßte und darauf verwies, er habe schon 1919 die These einer deutschen Kriegsschuld abgelehnt.
Anschließend entwickelte Krumeich die These, es habe zwei Varianten der Dolchstoßlegende gegeben: Eine radikale und antisemitische, derzufolge der Armee von einer jüdischen Verschwörung der Dolch in den Rücken gestoßen wurde, und eine gemäßigte, die lediglich die Revolution für die harten Friedensbedingungen verantwortlich machte. In diesem Zusammenhang erwähnte Krumeich u.a. die Aktenveröffentlichungen Kautskys und Eisners. Die Soldaten der Entente seien ebenso erschöpft wie die deutschen gewesen und wären keineswegs nach Berlin marschiert. Erst die Revolution habe die Verhandlungsführer der Entente zu einer unnachgiebigen Haltung gegenüber der deutschen Seite veranlasst.

Den folgenden Tag eröffnete JAKOB MÜLLER (Berlin) zum Thema „Jagow und die Kriegsschuldfrage in Belgien“. Dort habe sich die Debatte fast ausschließlich um die „Schuld im Krieg“, nicht um die „Schuld am Krieg“ gedreht. Dass Deutschland den Krieg mit Belgien durch den Einmarsch verursacht hatte, wurde schließlich auch hierzulande nicht in Frage gestellt. Deutsche Versuche, Zweifel an der belgischen Neutralität zu wecken, gab es während des Kriegs und in der unmittelbaren Nachkriegszeit, später wurde dieser Vorwurf kaum noch erhoben. Ein Schwerpunkt der Debatte war die „Franktireurfrage“, also der deutsche Vorwurf, die belgische Zivilbevölkerung habe sich im August 1914 an Angriffen auf deutsche Soldaten beteiligt. Müller verwies auf die erstaunliche Hartnäckigkeit, mit der in Deutschland am Vorwurf einer „völkerrechtswidrigen“ Kriegsführung Belgiens festgehalten wurde. Ein zumindest kleinlicher Vorwurf, da der Krieg ja erst durch einen nicht nur völkerrechtswidrigen, sondern auch vertragsbrüchigen Einmarsch deutscher Truppen im befreundeten Nachbarland verursacht worden war. Ein weiteres Missverhältnis bestehe auch hinsichtlich der Behandlung deutscher Völkerrechtsverletzungen während der Besatzung Belgiens. Während die Franktireurfrage im Rahmen der Kriegsschuldforschung breit behandelt worden sei, habe etwa die Verschleppung belgischer Arbeiter nach Deutschland und hinter die Front kaum Aufmerksamkeit gefunden.

PIOTR SZLANTA (Warschau) behandelte anschließend die polnische Kriegsschuldforschung und Jagow. Er hob die besondere Perspektive Polens auf den Ersten Weltkrieg hervor. Für die polnischen Eliten war vor dem Krieg klar, dass die einzige Hoffnung auf eine Wiederherstellung der staatlichen Unabhängigkeit ein allgemeiner europäischer Konflikt war. Tatsächlich gehörte der neu entstandene Staat zu den Siegermächten, der im Gegensatz zu den ehemaligen Teilungsmächten in Versailles mit am Verhandlungstisch saß. Während des Ersten Weltkriegs kämpften polnische Soldaten in den Armeen der Teilungsmächte sogar gegeneinander. Dieser "Brudermord" wurde allerdings nach dem Krieg durch einen nationalen Mythos überblendet, der behauptete, die polnischen Soldaten aller Armeen hätten gemeinsam für die Unabhängigkeit Polens gekämpft. Die deutsche Nationalitätenpolitik während des Kriegs wurde in Polen nach dem Krieg kaum thematisiert, auch die Kriegsschulddebatte spielte keine große Rolle.

CHRISTIAN LÜDTKE (Düsseldorf) referierte zum Verhältnis Jagows zum "Nestor der zivilen Militärgeschichte" Hans Delbrück. Zwischen beiden bestand kein besonders enger Kontakt und Delbrück verzichtete auch auf eine Charakterisierung Jagows in seinen Schriften. Der ehemalige Staatssekretär wandte sich vor allem in Zusammenhang mit Veröffentlichungen an den Herausgeber der Preußischen Jahrbücher, etwa im Frühjahr 1919, um sich bereits im Voraus die Möglichkeit zur Replik auf Kritik an seiner Schrift zu den Kriegsursachen zu sichern. Delbrück erhoffte sich hingegen von Jagow eine Bestätigung seiner Zwei-Phasentheorie, dass die Reichsleitung Österreich-Ungarn zunächst zum entschlossenen Handeln gedrängt, jedoch später gebremst habe. Jagow bestätigte diese Darstellung und auch andere Angaben fanden ihren Weg in Delbrücks Werke, allerdings gab es auch Meinungsverschiedenheiten, etwa in Bezug auf die deutsche Flottenpolitik, die Delbrück kritisierte. In einem Fall warf der Historiker dem Politiker sogar vor, in seiner Darstellung der Juli-Krise zu viel preisgegeben zu haben. Es sei von entscheidender Bedeutung, dass Berlin den Inhalt des österreichischen Ultimatums nicht kannte. Dieser Versuch, Jagow zu einer für Deutschland wünschenswerten Darstellung zu bewegen, sei jedoch ein Einzelfall in Delbrücks Wirken gewesen, das ansonsten der historischen Wahrheit verpflichtet geblieben sei.

Den letzten Vortrag des Workshops hielt MARTIN KRÖGER (Berlin) vom Politischen Archiv des Auswärtigen Amts über das Schuldreferat. Während das Amt nach dem Krieg nach regionalen Zuständigkeiten neu gegliedert wurde, gehörte die neu gegründete Struktureinheit zu den sogenannten Querschnittsreferaten. Bereits 1914 war mit der Sammlung von Dokumenten zum Kriegsausbruch begonnen worden, die nach 1918 vom "Büro Bülow" fortgesetzt wurde, das dann zum Kriegsschuldreferat wurde und im Kampf gegen die "Kriegsschuldlüge" an vorderster Front stand. Es betrieb Akteneditionen, förderte erwünschte Publikationen und beobachtete andere. Seine Geschichte ist eng mit der Entstehung eines historischen Archivs verknüpft, was auch die 1937 erfolgte Umbenennung des Kriegsschuldreferats in "Historisches Referat" zeige. Der heutige Bestand umfasst 609 Akteneinheiten und erlitt nur geringe Kriegsverluste. Er gibt Aufschluss über die Arbeit des Referats, aber auch darüber, was man im Amt über einzelne Themen zu wissen glaubte.

Der historiographisch-biographische Ansatz der Tagung sollte über die Person des ehemaligen Staatssekretärs hinaus die Frage des Charakters der Kriegsschulddiskussion erörtern. Hierbei zeigte sich, dass diese für die Weimarer Republik ebenso wie für die frühe Bundesrepublik wichtige Debatte noch keineswegs abgeschlossen ist. Kontrovers wurden insbesondere neuere Thesen zur Dolchstoßlegende und dem angeblichen belgischen Franktireurkrieg 1914 diskutiert.

Konferenzübersicht:

Hans Werner Hahn (Jena): Begrüßung

Reinhold Zilch (Berlin): Gottlieb von Jagow und die Kriegsschuldfrage 1918–1935 – Forschungsfragen und bisherige Ergebnisse des DFG-Projektes

Gerd Fesser (Apolda): Jagow und Bülow

Hartwin Spenkuch (Berlin): Jagow und Fürst Lichnowsky

Gerd Krumeich (Düsseldorf): Die zerrissene Republik: Die Kriegsschulddiskussion im Schatten von Versailles 1918–1933

Jakob Müller (Berlin): Die Kriegsschuldfrage in Belgien und Jagow

Piotr Szlanta (Warschau): Die polnische Kriegsschuldforschung und Jagow

Christian Lüdtke (Düsseldorf): Jagow und Delbrück

Martin Kröger (Berlin): Die archivalische Überlieferung zur Kriegsschuldfrage im Politischen Archiv des Auswärtigen Amts


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