Die diesjährige Schreibwerkstatt des Forums Geschichte der Humanwissenschaften, die seit 2016 existiert, bot Nachwuchswissenschaftler/innen wieder die Möglichkeit, ihre Forschungsvorhaben vorzustellen und die Rohfassungen ihrer Texte mit anderen Wissenschaftler/innen zu diskutieren. Damit sollen nicht nur die Textentwürfe zur Publikationsreife gebracht werden, sondern in diesem Format auch die Vernetzungsmöglichkeiten in der Erforschung der sogenannten „Psy-Wissenschaften“ (Psychologie, Psychiatrie, Psychotherapie) gestärkt werden. Strukturell wurden die Beiträge von Kommentator/innen erst kurz zusammengefasst und anschließend konstruktiv kritisch betrachtet sowie von Expert/innen fachlich diskutiert.
Nach der Begrüßung durch die Organisator/innen VERENA LEHMBROCK (Erfurt) und LAURENS SCHLICHT (Berlin) begann ANDREAS JÜTTEMANN (Berlin) zur Eröffnung der Schreibwerkstatt mit einem Beitrag zum Thema „Zukunft des Wilhelm-Wundt-Hauses Grimma als Erinnerungsort der Psychologie“. Das Wilhelm-Wundt-Haus war die letzte Wohnstätte des deutschen Physiologen, Philosophen und Psychologen Wilhelm Wundt (1832-1920) und wird aktuell restauriert. Aktuell wird ein Konzept zur zukünftigen Nutzung durch einen 2016 gegründeten Förderverein erarbeitet. Mehrere Nutzungsideen stehen dabei im Raum, unter anderem die Gründung eines Instituts zur Psychologiegeschichte, die Errichtung eines Museums für Psychologiegeschichte oder der Aufbau eines Tagungshauses mit Übernachtungsmöglichkeiten. Ideen und Vorschläge der Anwesenden betrafen die Befürwortung eines Psychologiemuseums aber auch eines Stipendienprogramms, das sich nicht nur an wissenschaftlich Tätige richtet, sondern auch an Künstler/innen.
ALEXANDER LIEMEN (Jena) präsentierte einen Aufsatzentwurf zum Thema „Psychopathie und NS-Täterschaft. Westdeutsche NSG-Verfahren und psychiatrische Sachverständigentätigkeit in den ersten Nachkriegsjahrzehnten“. Darin untersucht er die Archivakten der Gerichtsprozesse von NS-Täter/innen, bei denen Gutachten zur Zurechnungsfähigkeit angefertigt und in denen die Angeklagten als psychopathisch eingeschätzt wurden. Anklagepunkte, die für die Erstellung des Korpus relevant waren, schließen Gewaltverbrechen bzw. schwere Körperverletzung sowie Totschlag und Mord ein. Liemen stellt dabei die These auf, dass sich das Psychopathie-Verständnis Kurt Schneiders, nach dem Psychopathie nicht zur Schuldunfähigkeit bzw. -minderung führt, durchgesetzt hätte. Kommentiert wurde der Beitrag von Laurens Schlicht, der den Aufsatz in die Diskussion der Umwelt-vs.-Anlage-Debatte eingebettet sieht und diesen Aspekt im Aufsatz stärker hervorheben würde. Gleichzeitig stellte er sich die Frage, in welcher Beziehung diese Debatte mit der im Aufsatz fokussierten Frage nach Zurechnungsfähigkeit korreliert wäre. Weiterhin merkte er an, dass der Aufsatz zwei Perspektiven beinhalte, eine Makroperspektive (bei der vor allem eine Betrachtung hinsichtlich statistischer Parameter im Vordergrund steht) und eine Mikroperspektive (bei der vor allem fallbezogen analysiert wird), die klarer voneinander getrennt beschrieben werden müssten bzw. sich auf eine der beiden Perspektiven fokussiert werden müsste. Als Expertin für diesen Beitrag illustrierte Sophie Ledebur, dass die Debatte um die Einführung verminderter Schuldfähigkeit (zurechnungsfähig – vermindert schuldfähig – unzurechnungsfähig) intendierte, dass die Internierung auf unbestimmte bzw. auf Lebenszeit der Angeklagten möglich wurde, was stärker im Artikel hervorgehoben werden müsste. Im Plenum wurde daraufhin die Frage diskutiert, zu welcher Forschungsdebatte der Aufsatz einen Beitrag leistet (Anlage-Umwelt; Konstruktion von Schuldunfähigkeit; Psychopathie-Verständnis Kurt Schneiders) und welche Faktoren verbessert werden müssten, um den Aufsatz publikationsreif werden zu lassen (klare These und roter Faden, neue historische Quellen oder theoretisches Konzept).
Daran anschließend wurde ein Ausschnitt von CAROLIN PIOTROWSKIs (Konstanz) Dissertation mit dem Titel „Heterophonie und Kultur. Überlegungen zur Ähnlichkeit zweier Konzepte“ vorgestellt und diskutiert. Der hier betrachtete Ausschnitt argumentiert anhand der Arbeiten von Erich Moritz von Hornbostel (1877-1935), einem österreichischen Musikethnologen, und konstatiert in seiner Argumentationslinie einen grundlegenden Paradigmenwechsel im Fach der Vergleichenden Musikwissenschaft des 19. Jahrhunderts. Hornbostls experimentalpsychologisch begründetes Interesse, welches durch die Sozialisation bei Carl Stumpf geprägt war, wird im Kontrast zu den damals vorherrschenden ethnografischen Ansätzen aufgezeigt und miteinander in Bezug gesetzt. Piotrowski zieht dafür das Beispiel der Erarbeitung einer „Mythologie der Pawnee“ heran, welche Hornbostel im Rahmen einer Feld- und Forschungsreise in die USA/Oklahoma anstrebte. Diese Reise stellt in seiner eigenen Wirkungshistorie ebenfalls eine Ausnahme dar, da Hornbostels Tätigkeit bis dahin typischer Weise im Archiv bzw. Labor stattfand. Die Autorin zeigt in ihrer Darstellung auf, dass Chicagoer Kulturanthropologen und Berliner Experimentalpsychologen anerkennend miteinander kommunizierten und führt aus, dass die vergleichende Musikwissenschaft „nicht nur evolutionistische und kulturdiffusionistische, sondern auch und vielleicht insbesondere kulturrelativistische Bezüge“ aufweist. Im Kommentar fasste Sandra Janßen zusammen, dass die praktische Feldforschung darauf hinleitete, bestimmte Idealvorstellungen einer Harmonie bzw. der Vorstellung einer Ursprungsvariation aller Mythen zu verlassen und dies zu einer Art kulturpessimistischen Zeichen bzw. zu einem Relativismus des Gegenstandes – sei es die Sprache, die Musik oder Mythologie – führe. In der Diskussion wurde von Expertin Alexa Geissthövel angeregt, die Zielrichtung der methodischen Herleitung hinsichtlich der Hauptthesen stärker auszubauen. Diskutiert wurde in diesem Rahmen ebenso die Problematik, inwiefern die Thematik ein Artefakt der Selbsthistorisierung der Psychologie darstelle, die Darstellung somit also die eigene Deutung der Zeitschaffenden reproduziere. Dieser Punkt der Selbsthistorisierung wird von der Autorin aufgenommen und teilweise bestätigt. Angeregt wurde zudem, angrenzende Theorien zum Beispiel von Levi Strauss, einzubinden um eine Synthese zwischen den Bereichen Theorie und Praxis herzustellen. Als ein relevantes Konstrukt wurde der Begriff der Varianz benannt. Allgemein wurde seitens der Teilnehmer die überaus interessante Thematik und Argumentationsstärke der Arbeit positiv herausgestellt.
CARLA SEEMANN (Berlin) stellte einen Paper-Entwurf vor, bei dem sie die Hauptpunkte ihrer Masterarbeit zusammenführt. Darin analysiert sie, auf welche Weise sich die drei miteinander in Diskussion stehenden Wissenschaftler/innen Charlotte Bühler, William Stern und der Jugendaktivist Siegfried Bernfeld der Forschung zu Tagebüchern Jugendlicher innerhalb der Jugendpsychologie der 1920er-Jahre widmen. Clara Seemanns Untersuchung leitet dabei die Fragestellung, wie die Tagebuchpraxis Jugendlicher von den drei Forschenden in einen wissenschaftlichen Kontext überführt wurde. Als Kommentatorin warf Verena Lehmbrock die Frage auf, inwiefern sich die drei Positionen inhaltlich und konzeptionell unterscheiden. Während Charlotte Bühler ein eher biologisch orientiertes und auf einem kasuistischen Vorgehen basierendes Entwicklungsmodell postuliert, bei dem Tagbücher als tatsächlich ungehemmt formulierte Selbstzeugnisse betrachtet werden, ordnet Stern Tagebücher als Introjektionen in die Entwicklungspsychologie ein, ohne eine biologische Komponente. Anders als Bühler sieht Stern Tagebücher also als Zugang zum inneren Wesen des Jugendlichen, ohne dass die Tagebuchschreibenden selbst einen uneingeschränkten Zugang zu ihrem eigenen inneren Erleben besäßen. Deshalb müsse, nach Stern, der Zusammenhang zwischen Tagebuchinhalt und Persönlichkeit des Schreibenden erst deutend entschlüsselt werden. Bernfeld hingegen, der nicht aus dem akademischen Milieu stammt, sondern aus der Jugendbewegung heraus argumentiert, bezieht den kulturhistorischen Kontext in seine Tagebuchanalyse mit ein. So fragt er nach den Gründen, nach denen eine Person zu einem bestimmten Zeitpunkt Tagebuch schreibt, anstatt sich an vorgegebenen wissenschaftlichen Modellen zu orientieren. Diskutiert wurde anschließend, wodurch ein „Tagebuch“ eigentlich definiert ist und inwiefern es sich von anderen autobiografischen Schriften abgrenzt. Außerdem wurde der Vergleich zwischen den Herangehensweisen der drei Forschenden in den Blick genommen und kritisch hinterfragt, inwieweit nicht alle drei eine Form von Typologisierung vornehmen, bloß mit anderen theoretischen Hintergründen. Hierbei wurde auch die Definition des Begriffs „Kasuistik“ diskutiert, den sowohl Bühler als auch Stern für ihr Vorgehen zugrunde legen. Um zur Publikationsreife zu kommen, wurde vorgeschlagen, noch stärker die methodische Grundlage des epistemischen Objekts ‚des Jugendlichen‘ im Sinne Hans-Jörg Rheinbergers hervorzuheben und so den Fokus auf die Konstruktion von Subjektkonstitutionen zu legen.
Von ANASTASSIYA SCHACHT (Wien) wurde ein Artikel mit dem Titel „‘They`ll cure you. And they will cure me, too’ – Picturing soviet psychiatry in the popular culture oft the late soviet era“ vorgestellt. In dieser Arbeit befasst sich die Autorin mit der Darstellung der Praktiken bzw. Rolle der sowjetischen Psychiatrie innerhalb der Populärmedien der westlichen Länder – und stellt diesen in einen Vergleich der medialen Berichte, die innerhalb der sowjetischen Besatzungszone gezeigt wurden. Diese Arbeit stellt einen „experimentellen Versuch“ dar, die Positionen ausschließlich über Exempel der Psychiatriedarstellung aus der Popkultur aufzuzeigen. Im Ergebnis stellt sie fest, dass in der westlichen Literatur die Darstellung und Beachtung der sowjetischen Psychiatrie fast ausschließlich im akademischen Diskurs abgebildet wird, nicht über Populärmedien. Ab den 1960er-Jahren erscheinen in den westlichen Ländern zwar eine breite Vielfalt an Darstellungen populärer Abbildungen der Psychiatrie, jedoch wird innerhalb dieser das Bild der sowjetischen Psychiatrie nicht aufgegriffen bzw. wird der politische Missbrauch nicht thematisiert. Verschiedene Beispiele westlicher sowie sowjetischer populärer Medienwerke werden dafür exemplarisch aufgeführt und eingeordnet. Das Selbstbild der Psychiatrie innerhalb der sowjetischen Staaten stellte sich divers dar: vor allem sowjetische Autoren beschrieben ein weitgehend positives, heroisches Bild von Verrücktheit. Demgegenüber benannte der allgemeine öffentliche Diskurs nie direkt den andauernden Konflikt des psychiatrischen Missbrauchs. Währenddessen wurden in der sowjetischen Popkultur leichtherzige Komödien über psychiatrische Thematiken gezeigt. Erst durch die Perestroika 1985 wandelte sich das Bild der Erzählung, wodurch die Thematik in ihrer tragischen Reichweite realitätsnäher gezeigt wurde. Diskutiert wurde unter Expertin Sophie Ledebur vor allem hinsichtlich der Argumentationsebene der dargestellten Schlussfolgerungen. Konkretere Darstellungen der Missbrauchsfälle würden dem Leser eine genauere Einsicht in die Thematik geben. Einen Zusammenhang der öffentlichen Berichterstattung in die Gesamtberichterstattung der Thematik gäben einen guten Überblick über die Veränderung des öffentlichen Diskurses, doch lässt sich diese durch eine bestehende Lücke der Diskurse in den 1980er-Jahren leider nicht durchgehend schließen. Abschließend wurde diskutiert, inwiefern die Psychiatriekritik innerhalb der „Henne-Ei-Problematik“ zu betrachten ist: Wurde diese erst durch die Berichtserstattung der Medien aufgegriffen und gelangte dadurch in die Fachwelt, oder war dies anders herum? Frau Schacht legte zumindest für die sowjetischen Staaten dar, dass der Diskurs in der Bevölkerung umgangssprachlich verfolgt wurde, jedoch nicht im Fachdiskurs aufgegriffen wurde.
Der letzte Beitrag dieser Schreibwerkstatt stammte von SANDRA JANßEN (Berlin) und beschäftigt sich thematisch mit der Konstruktion des „Totalitären Subjekts“ innerhalb der Psychologie, der politischen Theorie und Literatur der 1930er- und 1940er-Jahre. Im Unterkapitel ihrer projektierten Habilitationsschrift mit dem Titel „Ich – Welt – Andere“ setzte sich Sandra Janßen schwerpunktmäßig mit dem Phänomen der Psychosen auseinander und extrahiert aus einer Auswahl grundlegender Texte das Subjekt als relationales Phänomen, das einerseits situativ in die Welt eingebunden aber auch relational zur Welt bezogen erscheint. Als Kommentatorin hob Caroline Piotrowski hervor, dass es sich dabei um ein paradoxales Subjektverständnis handele, bei dem das Subjekt einerseits Welt hervorbringe und gleichzeitig als sich zur Welt hervorbringendes Subjekt konstruiert würde. Letztlich sei das Subjekt immer in Beziehungen zu anderen gedacht und somit in Machtbeziehungen aus Dominanz- und Unterwerfungsverhältnisse eingelassen. Als zentrale These der 1930er- und 1940er -Jahre lassen sich in den ausgewählten Schriften diese Verhältnisse nicht mehr als polar, sondern als totalitär charakterisieren. Als Fluchtpunkt des Artikels wird das Subjekt-Welt-Verhältnis in seiner psychologischen Exzess-Form der Paranoia begriffen. Konstruktiv kritisch wurde in der anschließenden Diskussion darauf hingewiesen, dass in diesem Kapitel noch deutlicher hervorgehoben werden müsste, warum bestimmte Bewertungskategorien als auch die zugrundeliegenden Texte selbst ausgewählt wurden. So könnten z.B. auch außerakademische Theorien wie die Charakterologie oder andere wissenschaftliche Theorien, wie die Völkerpsychologie, einen Einfluss auf die Subjektkonstruktion dieser Zeit gehabt haben. Eine Begründung für den Einschluss bestimmter Theorien, würde daher den Vorwurf entkräften, nicht alles abzubilden, was innerhalb der betreffenden Epoche veröffentlicht wurde.
In einer abschließenden Reflexion des Tages wurden allen Teilnehmenden für die interessanten und vielseitigen Beiträge aus der aktuellen Forschung zu den Psy-Wissenschaften gedankt und die vielen hilfreichen Anregungen für die einbringenden Autor/innen gewürdigt. Angeregt wurde für das nächste Treffen, dass Kommentator/innen die Texte nicht zusammenfassen, sondern nur kurz kommentieren sollten, um schneller in die Diskussion einsteigen zu können. Alles in allem bot die Dritte Schreibwerkstatt des Forums Geschichte der Humanwissenschaften einen überaus interessanten Querschnitt durch die gegenwärtige Forschung zur Geschichte der Psy-Wissenschaften.
Konferenzübersicht:
Andreas Jüttemann (Institut für Geschichte der Medizin und Ethik der Medizin, Charité Universitätsmedizin Berlin): Zukunft des Wilhelm-Wundt-Hauses Grimma als Erinnerungsort der Psychologie
Alexander Liemen (Freier Autor, Jena): Psychopathie und NS-Täterschaft. Westdeutsche NSG-Verfahren und psychiatrische Sachverständigentätigkeit in den ersten Nachkriegsjahren
Carolin Piotrowksi (Universität Konstanz): Heterophonie und Kultur. Überlegungen zur Ähnlichkeit zweier Konzepte
Carla Seeman (Humboldt-Universität zu Berlin, Institut für Geschichtswissenschaft): Tagebücher als ‚Seelenkonterfeie‘? Sammlung und Deutung von Selbstzeugnissen in der deutschen Jugendpsychologie der 1920er-Jahre
Anastassiya Schacht (Universität Wien, Institut für Germanistik): „They’ll cure you. And you. And they will cure me, too” – Picturing soviet psychiatry in der popular culture of the late soviet era
Sandra Janßen (Carl von Ossietzky Universität Oldenburg) Das totalitäre Subjekt. Zu Psychologie, politischer Theorie und Literatur der 1930er- und 1940er-Jahre