In der traditionell eher konservativen Disziplin der Geschichtswissenschaft hält die Digitalisierung Einzug. Dies gilt auch für die Beschäftigung mit NS-Geschichte. Dabei geht es nicht nur um digitale Formate der Geschichtsvermittlung in den sozialen Medien, beispielsweise Evas Story.1 Diskutiert wird auch, inwiefern die Digitalisierung in der Geschichtswissenschaft neue Wege aufzeigen kann, etwa in der Forschung zum Nationalsozialismus. Zu diesem Thema fand an der Jacobs University Bremen der Workshop im Rahmen des Forschungsprojekts „Valentin3D“ statt. Die Organisatorinnen, Frederike Buda und Julia Timpe (beide Bremen) begrüßten TeilnehmerInnen aus verschiedenen Teildisziplinen der Geschichtswissenschaften, die ihre Forschungen sowohl aus den Bereichen der (Re-)Präsentationen als auch der wissenschaftlichen Methoden präsentierten.
Das erste Panel hatte die Darstellbarkeit von Geschichte durch digitale Mittel zum Thema. JANNIK SACHWEH (Wolfenbüttel) erläuterte, wie eine interaktive Medienwand in der Gedenkstätte Wolfenbüttel am Ort des ehemaligen Strafgefängnisses als eine digitale Interaktionsmöglichkeit für BesucherInnen aussehen könnte. Neben interaktivem Kartenmaterial wird die Medienwand auf einem Multi-Touch-Bildschirm Zugang zu Quellenmaterial, Bildern und Hintergrundinformationen bieten. Die BesucherInnen werden durch den Aufbau der Medienwand zur selbstbestimmten und interessegeleiteten Interaktion animiert. In diesem Zusammenhang stellte sich die Frage nach ihrer digitalen Kompetenz. Bereits an dieser Stelle wurde deutlich, dass die Digitalisierung nicht alle in der Geschichtsvermittlung bekannten Problematiken zufriedenstellend bearbeiten kann. Auch bei einem digitalen Zugang muss mit blinden Flecken in der Darstellung umgegangen werden, die durch determinierende Parameter (etwa Kartenausschnitt, Detailreichtum etc.) entstehen.
Um blinde Flecken und Medienkompetenz der BetrachterInnen ging es auch AXEL BANGERT (Berlin), der sich mit nahezu unbekannten Fotografien deutscher Wehrmachtsoldaten von sowjetischen Kriegsgefangenen im Deutschen Reich beschäftigte. In seiner Projektskizze stellte er die Idee einer webbasierten, virtuellen Ausstellung der Aufnahmen vor. Damit man bei der Betrachtung der Bilder nicht zu KomplizInnen der Fotografen und damit der Täter wird, schlug er für seine geplante Ausstellung einen Perspektivwechsel vor. Ob solch ein „Gegenschuss“ oder Einführungen und Anmerkungen zu den Bildern die Problematik wirklich auflösen können, wurde in der anschließenden Diskussion vielfach bezweifelt. Außerdem warf der Vortrag die Frage nach dem Umgang mit Sehgewohnheiten, Vorannahmen und Stereotypen auf. Gerade in Deutschland kann nötiges Vorwissen über die Lebensumstände sowjetischer Kriegsgefangener nicht vorausgesetzt werden. Einer (nicht angeleiteten) Betrachtung der Fotografien wohne zudem die Gefahr einer weiteren Entmenschlichung der Opfer inne. Es wurde kritisiert, dass die Asymmetrie der Bilder nicht (durch die Bilder selbst) bereinigt werden kann. Insgesamt zeigte die Diskussion, welche Schwierigkeiten bei der Digitalisierung und globalen Zurverfügungstellung von (auch analog problematischen) Quellen bestehen.
Das zweite Panel des Workshops diskutierte die Frage, inwiefern die Digitalisierung bei Projekten innerhalb der NS-Forschung genutzt werden kann, die auf der Auswertung von Massendaten basieren. SEBASTIAN BONDZIO (Osnabrück) führte in das Forschungsprojekt „Überwachung. Macht. Ordnung. Personen- und Vorgangskarteien als Herrschaftsinstrument der Gestapo“ an der Universität Osnabrück ein, in dem die nahezu vollständig erhaltene Osnabrücker Gestapo-Kartei – rund 49.000 Karten – mit Hilfe Künstlicher Intelligenz (KI) digitalisiert wurde. Die dadurch entstandene Forschungsdatenbank kann durch verschiedene Tools wie Data- und Text-Mining sowie GIS (Geoinformationssysteme) ausgewertet werden. Dieses Vorgehen revolutioniert den Umgang mit solchen Massendaten. Der größte Nutzen sei, so Bondzio, dass alte Fragen neu verhandelt werden können, wie die zu der vermeintlichen Allwissenheit der Gestapo.
Das anschließend von STEFAN SCHOLL (Mannheim) vorgestellte Projekt zu Möglichkeiten und Herausforderungen bei der Untersuchung des Sprachgebrauchs während der NS-Zeit beschäftigt sich mit der (digitalen) Diskursforschung. Untersucht wird, wie „gewöhnliche“ Menschen während der NS-Zeit sprachlich (inter-)agierten. Scholl stellte zwei unterschiedliche Wege digitaler Diskursforschung vor, den korpuslinguistischen Zugriff und das digitale Annotationsverfahren. In der Diskussion wurde hinterfragt, wie der Kontext der Quellen mit einer dezidiert lexikalisch gesteuerten Abfrage erfasst werden kann und inwiefern die digitale Diskursforschung nicht nur quantitative, sondern auch qualitative Aussagen generieren kann. Die Einordnung des ideologischen Kontexts wurde ebenfalls diskutiert.
In der weiteren Diskussion über einige Hilfsprogramme (Transkribus) wurde deutlich, dass die Digitalisierung in der Geschichtswissenschaft ein hilf- und ertragreiches Tool darstellen kann. Vor allem der Umgang mit Massendaten wird erleichtert. Jedoch benötigen digitalisierte Quellen vor ihrer Nutzung eine analoge Eingabe durch offline geschultes Fachpersonal. Als Allgemeinplatz kann angemerkt werden, dass die (subjektive) Auswahl der Quellen durch die Forschenden bestehen bleibt.
Im dritten Panel ging es um digitale Datenbanken zu Themen der NS-Geschichte. Im ersten Vortrag stellte SONJA DICKOW (Hamburg) Hamburger Schlüsseldokumente zur deutsch-jüdischen Geschichte des Instituts für die Geschichte der deutschen Juden (IGdJ) vor.2 Auf dessen Website werden vielfältige Aspekte des jüdischen Lebens in Hamburg einem breiten Publikum zugänglich gemacht. Dies geschieht über ausgewählte (Archiv-)Dokumente, die digitalisiert und detailliert im Webauftritt beschrieben werden. Wie bei der durch Axel Bangert vorgestellten Projektskizze stellt sich auch bei der Website des IGdJ die Frage nach der ethischen Verantwortung bei der Zurverfügungstellung sensibler Quellen. Die Online-NutzerInnen sollen an das Thema adäquat herangeführt werden. Trotz dieser Herausforderungen kann die Website schon jetzt wertvolle Vermittlungsarbeit gerade im Hinblick auf Archivalien leisten.
CHRISTIANE WEBER (Bad Arolsen) sprach über die Arolsen Archives. Diese Archive gingen 2019 aus dem International Tracing Service (ITS) hervor und befinden sich in der besonderen Situation, nicht dem deutschen Archivrecht zu unterliegen. Dadurch können Quellen in digitaler Form ohne besondere datenschutzrechtliche Hürden online gestellt werden (13 Millionen der insgesamt 30 Millionen Dokumente sind im Online-Archiv zugänglich). Weber stellte zwei digitale Zugänge zu den Arolsen Archives vor, das Online-Archiv aus dem Jahr 2015 sowie den neueren „e-Guide“3, der die Dokumentarten erklärt und es NutzerInnen ermöglicht, sich in den großen Beständen der Arolsen Archives zu orientieren. Sie schloss ihren Vortrag mit dem Hinweis auf die Veränderung, die die Rezeption der Dokumente beim Wechsel in die digitale Welt erfahren, so dass sie beispielsweise nach einer einfachen Google-Suche für jeden einsehbar sind.
Die während des Workshops bereits mehrfach geführte Debatte nach einer notwendigen Kontextualisierung digitaler Zugänglichkeit bzw. des „Kontrollverlusts“ über die Dokumente wurde auch an dieser Stelle aufgenommen. Im Anschluss wurde vor allem diskutiert, ob die allgemeine Zugänglichkeit eher als Chance oder Grenzüberschreitung zu deuten ist. Die Debatte zeigte deutlich, wie entscheidend der Blickwinkel ist und dass aus den Bereichen Forschung und Geschichtsvermittlung unterschiedliche Sichtweisen erwachsen.
Das vierte Panel wurde mit einem Vortrag von TeilnehmerInnen von Andreas Birk geleiteten Forschungsprojekts „3D-Erfassung der Gedenkstätte U-Boot-Bunker Valentin durch Luft-, Boden- und Unterwasserroboter (Valentin3D)“ eröffnet.4 Die Historikerin FREDERIKE BUDA (Bremen) zeigte zusammen mit ihren Kollegen aus der Robotics Group, CHRISTIAN MÜLLER und ARTURO GOMEZ CHAVEZ (beide Bremen), wie im Rahmen dieses Projekts die Überreste des Bunkers „Valentin“ in Bremen-Farge sowohl von außen als auch von innen kartographiert werden. Dazu wurden Scans angefertigt, aus denen mit Hilfe von Algorithmen ein digitales Modell des Bunkers erstellt werden kann; am Ende sollen ein Outside- und ein Inside-Modell des Bunkers vorliegen. Leider konnte nicht dezidiert auf die Frage eingegangen werden, inwiefern sich dieses Modell auch in der Vermittlung nutzen lässt, da eine Bearbeitung dieses Aspekts im Finanzierungsrahmen des derzeitigen Projekts nicht enthalten ist. In der Diskussion wies Christel Trouvé (Bremen), die wissenschaftliche Leiterin des „Denkorts Bunker Valentin“, darauf hin, dass der Bunker oft eine Faszination auf die Besuchenden ausübt, die es erschwert, ihn als Tatort und Tatwaffe zu zeigen. Eine vollumfängliche Zugänglichmachung durch Digitalisierung und Mapping könnte hier eventuell helfen, wie auch bei der Verifizierung von Aussagen von ZeitzeugInnen zum Bunker.
GIULIO SALVATI (New York / Regensburg) erörterte, inwiefern man Karten und Datenmaterial, das von NationalsozialistInnen erhoben wurde, nutzen kann und darf. Er diskutierte diese Frage anhand eines kleinen Archivs bzw. anhand einer durch Crowd-Sourcing initiierten Online-Datenbank zur Zwangsarbeit im Landkreis Erding. Sein Vortrag behandelte damit die Problematik der pädagogischen Vermittlung von NS-Geschichte im Lokalen und die der „locational representation“. Salvati warf die Frage auf, ob die von den NationalsozialistInnen angelegten Archive nicht als koloniale Archive zu werten seien. In der Diskussion einigten sich die Anwesenden darauf, dass die zunehmende Visualisierung die Geschichtswissenschaft und vor allem die digitalisierte Geschichtswissenschaft vor ethische Entscheidungen stellt. Man müsse sich intensiv mit der Entstehungsgeschichte eines Mediums auseinandersetzen. Zudem sei dies mit der Aufforderung verbunden, sich bei jedem Medium zu überlegen, ob die Würde einer Person oder Gruppe geschützt werden muss oder ob der historische Beweis wichtiger sei. Auch hier ging es also um (neue) Herausforderungen in der digitalen Vermittlung von NS-Geschichte.
Das Abschlusspanel eröffnete OLIVER GAIDA (Berlin) mit einem Impulsreferat zum Clio-Guide, einem „Handbuch zu digitalen Ressourcen für die Geschichtswissenschaften“.5 Grundsätzlich gelte weiterhin, dass ein großer Teil der Quellen noch nicht online erfasst ist. Gedenkstätten stellen sich zwar intensiver dar, jedoch ohne spezifische digitale Angebote; andere Themenbereiche (bspw. Widerstand) sind weniger vertreten. Der Abschnitt „Themenkomplex“ wurde erheblich bereichert, aber viele Fachzeitschriften sind noch nicht digital verfügbar.
CHRISTEL TROUVÉ (Bremen) betonte, dass man sich immer wieder vergewissern müsse, welche (digitalen) Ergebnisse zur Geschichte schon vorliegen und dass die digitale Vielfalt innerhalb der Vermittlung mittlerweile immens ist. Aber auch am „Denkort Bunker Valentin“ stelle sich die Frage, was mit dem generierten, digitalisierten und publizierten Wissen geschehe. Trouvé plädierte dafür, stets kritisch zu hinterfragen, warum welche Elemente in der Vermittlung wie genutzt werden.
In der abschließenden Diskussion diskutierten alle TeilnehmerInnen noch einmal darüber, was sich mit dem Einzug des Digitalen innerhalb der Forschung und Repräsentation zur NS-Geschichte geändert hat, vor allem bezüglich des Umgangs mit Quellen und deren Kontextualisierung. In allen Panels trat – zumindest implizit – die Frage nach der ethischen Verantwortung beim Umgang mit digitale Daten und Dokumenten auf, und besonders danach, ob es wünschenswert sei, dass diese im Internet für alle zugänglich sind. Diskutiert wurde auch die Vermittlung von Geschichte und die Frage, wie diese sich durch Digitalisierung ändere bzw. was sich nicht ändern dürfe. Es wurde zudem deutlich, dass es verschiedene Problematiken gibt, die auch mit der Digitalisierung nicht zu lösen bzw. mit ihr nicht genuin verbunden sind. Die Diskutierenden plädierten für eine bessere Organisation der Zusammenarbeit untereinander bei der weiteren Digitalisierung und für eine Einbindung von Nicht-HistorikerInnen. Insgesamt blieb als Fazit, dass die Digitalisierung nicht zurückgedrängt werden kann und sich vielmehr die Frage nach dem Umgang damit stellt.
Es ist geplant, die Überlegungen und Ergebnisse des Workshops in einem Sammelband zusammenzutragen und weiterzuführen, um sie, ganz analog, der Öffentlichkeit zu Verfügung zu stellen.
Konferenzübersicht:
Begrüßung: Julia Timpe (Jacobs University Bremen)
Panel I: Digitale und interaktive Vermittlungsformen zur NS-Geschichte
Moderation: Mareike Witkowski (Universität Oldenburg)
Jannik Sachweh (Gedenkstätte der JVA Wolfenbüttel): Der nationalsozialistische Strafvollzug im Land Braunschweig und die digitale Geschichtsvermittlung in einer Multimediainstallation in der Gedenkstätte JVA Wolfenbüttel
Axel Bangert (New York University, Berlin): Verzerrende Bilder des Fremden: Historische, didaktische und ethische Herausforderungen in der digitalen Vermittlung von Wehrmachtsphotographien
Panel II: Digital-Humanities-Projekte zur Erforschung des Nationalsozialismus
Moderation: Eva Schöck-Quinteros (Universität Bremen)
Sebastian Bondzio (Universität Osnabrück): Allwissend und allgegenwärtig. Die Gestapo mithilfe von Digital History neu erforschen
Stefan Scholl und Mark Dang-An (Leibniz-Institut für Deutsche Sprache, Mannheim): Digitale Diskursforschung: zu Möglichkeiten und Herausforderungen bei der Untersuchung des Sprachgebrauchs während der NS-Zeit
Panel III: Digitale Datenbanken und Quellen zur Geschichte des Nationalsozialismus
Moderation: Joachim Drews (Staats- und Universitätsbibliothek Bremen)
Sonja Dickow (Institut für die Geschichte der deutschen Juden, Hamburg): Hamburger Schlüsseldokumente zur deutsch-jüdischen Geschichte
Christiane Weber (Arolsen Archives, Bad Arolsen): Digitale Dokumente von KZ-Häftlingen. ZwangsarbeiterInnen und Displaced Persons bei den Arolsen Archives – vom Online-Archiv über den e-Guide bis hin zu digital maps
Panel IV: Digital Mapping – Möglichkeiten und Herausforderungen für die Forschung und Geschichtsvermittlung zum Nationalsozialismus
Frederike Buda, Arturo Gomez Chavez und Christian Müller (Jacobs University Bremen): 3D-Mapping of the Bunker Valentin: Methods, Challenges and Possibilities
Giulio Salvati (New York University / Regensburg): The Seduction of Digital Maps and the Pitfalls of (Mis-)Intepretation
Moderation: Andreas Birk (Jacobs University Bremen)
Roundtable: Zeugnisse des Nationalsozialismus, digital: Neue Möglichkeiten und Herausforderungen – neue Methoden und neue Einsichten?
Impulsvorträge von Oliver Gaida (Humboldt-Universität zu Berlin) und Christel Trouvé (Denkort Bunker Valentin, Bremen)
Moderation Julia Timpe (Jacobs University Bremen)
Anmerkungen:
1https://www.instagram.com/eva.stories/?hl=de (30.01.2020)
2https://juedische-geschichte-online.net (31.01.2020)
3https://eguide.arolsen-archives.org/ (04.02.2020)
4http://robotics.jacobs-university.de/projects/Valentin3D-DE (04.02.2020)
5https://guides.clio-online.de/guides/epochen/nationalsozialismus-und-holocaust/2018 (04.02.2020)