Zu dem Thema "Geschichtswissenschaft und Archive" fand am 19. Februar 2020 im Hessischen Staatsarchiv Darmstadt, dem Darmstädter "Haus der Geschichte", im Eckhart G. Franz-Saal ein sehr gut besuchter Workshop des Hessischen Landesarchivs statt, der Referate zu recht unterschiedlichen und vielseitigen Themen im Angebot hatte. An praktisch jeden Beitrag schloss sich eine lebhafte, teils kontroverse Diskussion an. Die thematische Ausrichtung des Workshops war der Absicht des Hessischen Landesarchivs geschuldet, den Kontakt zur (universitäten) Wissenschaft zu optimieren. Denn auch wenn das Landesarchiv mit entsprechenden Projekten und der Digitalisierung von Quellen zu den Spitzenreitern in der deutschen Archivlandschaft zählt, so sind doch noch zahlreiche weitere Projekte möglich, um vor allem von den unerschlossenen "Nestern" in den 260 Regalkilometern der hessischen Staatsarchive noch Weiteres zu erschließen.
Dass diese Erschließung zugleich Möglichkeiten der Kooperation mit der historischen Forschung bietet, dafür gaben nach einer den Überblick schaffenden Einleitung von LA-Präsident ANDREAS HEDWIG (Marburg) einige Referentinnen und Referenten aus den umliegenden Hochschulen verschiedenartige Beispiele.
SABINE MECKING (Universität Marburg), seit September 2018 Professorin für Hessische Landesgeschichte in Marburg verwies darauf, dass das 20. Jahrhundert sich trotz aller Verluste durch eine Überfülle an Quellen auszeichnet. Eine Erschließung in verschiedenen Projekten gelte es zu koordinieren. Dem hessischen landesgeschichtlichen Informationsportal LAGIS komme daher als Plattform und als Kommunikationsort dabei eine große Bedeutung zu. Meckings zentrale Themen sind die Migrationswellen, die Aufstände im ländlichen Raum, das "Räume aneignen" einzelner Gruppen. Natürlich sollen darüber die Parlamente, Parteien, Ministerien, Gerichte usw. nicht vernachlässigt werden. Aber auch das Freizeitverhalten kann aus ihrer Sicht Gegenstand der Forschung sein. Jüngst ist die Geschichte der Polizei in Hessen in den Fokus der Forschung an ihrem Lehrstuhl getreten.
MICHAEL KISSENER (Mainz), seit 2002 Professor für Zeitgeschichte an der Universität Mainz, hat mit einer Arbeitsgruppe u.a. die General- und Personalakten des Bundesgerichtshofs Karlsruhe erschlossen. Der Bestand, derzeit noch im Keller des Gerichts, harrt der Abgabe an das Bundesarchiv. In einer gemeinsamen Kommission von Arbeitsgruppe, Bundesarchiv und Bundesgerichtshof wurden diese Akten nun erstmals gesichtet und sollen bewertet und ausgewertet werden. Hier sind einzelne Bundesländer weiter vorangeschritten, wie berichtet wurde, Rheinland-Pfalz z.B. arbeite die Akten der Landgerichte auf. Thomas Henne, Dozent an der Archivschule in Marburg, wies auf die Chancen hin, mit Forschungsprojekten die Anbietungspflicht von Behörden durchzusetzen. Klargestellt wurde in der Diskussion auch, dass Drittmittel im Gegensatz zu finanzierter Auftragsforschung umsatzsteuerfrei blieben. Allerdings sei dann zu gewährleisten, dass die Ergebnisse einschränkungslos zugänglich gemacht würden. Gerade in der Zeitgeschichte ergebe sich die Frage, in welcher Form dies geschehen könne, wobei gerade die personengeschichtlichen Daten meist personendatenschutzrechtlicher Relevanz unterlägen. In diesem Fall würde es sich, so Andreas Hedwig, anbieten, die Kompetenz der Archive in Kooperationen zu suchen und zu nutzen und die Datenbanken mit und in den Archiven zu platzieren und zu publizieren.
HANNAH AHLHEIM (Gießen), seit 2018 Professorin für Zeitgeschichte an der Universität Gießen, berichtete von den Recherchen, die sie für ihre Habilitationsarbeit über "das Schlafen in Archiven" angestellt hat. Sie präzisierte, dass die Entdeckungen in den Archiven nach erster Skepsis durchaus differenziert und einschlägig gewesen seien. Erste Funderfolge stellten sich nach Recherchen in den Repertorien mit Schlagwörtern wie "Wohnungselend", "Schlafstellen(un-)wesen" ein. Ahlheim verwies darauf, dass in den Weltkriegen zudem die Schlafmangelforschung relevant wurde, deren Forschungsakten (vor allem Prof. Kleitman, Chicago) viel Material bergen würden. Manche wichtige Archivalie fand Hanna Ahlheim auch in den Redaktionsakten der großen Zeitschriften der Zeit, beispielsweise, wenn diese Redaktionen darüber diskutierten, was über ein Medikament verantwortlich publiziert werden könne und was unerwünschte Schleichwerbung sei. Welche ungewohnten, aber lohnenden Perspektiven diese Arbeit bot, zeigte sich bei der Frage "wer arbeitete/arbeitet nachts?" oder in der Feststellung, dass auch der heute in Mitteleuropa übliche Schlaf durchaus ein Kulturprodukt ist. Wie etwa A. Roger Ekirch (In der Stunde der Nacht, 2006) aufzeigte, richtete sich z.B. der präindustrielle Schlaf vornehmlich nach der Dunkelheit, und Guillaume Garnier ging den Verbrechen nach, die nachts verübt wurden (L’oubli des peines. Une histoire du sommeil (1700–1850), 2013). Die Referentin bekannte freimütig, wie wichtig bei ihrer Arbeit die Google-Books-Suchmethode gewesen sei. Das Referat zeigte einmal mehr: Moderne, faszinierende Fragen der Forschung führen vielfach zu Begegnungen von Forschung und Archiven auf Augenhöhe.
Im Gegensatz zu ihren Vorrednerinnen versuchte MARTINA SITT (Kassel) sich in Kritik an der archivalischen Bereitstellung von Quellenmaterial. Am Beispiel eines 'mangels Erschließungsmöglichkeit' nicht zugänglichen Familienarchivs fragte die Referentin, was unternommen werden müsse, um nach solchen Übergaben den Zugang zu den Akten weiterhin zu gewährleisten. Ihr konkreter Vorwurf, das Archiv würde die Nutzung blockieren, wurde allerdings in der Diskussion von den Archivmitarbeitern zurückgewiesen. Beim Finden ihrer Protagonistinnen – denn sie beklagte auch die mangelnde Präsenz von Frauen in den Archiven und der Forschung – hätte sie, so Martina Sitt, auch in LAGIS, mit dem sie seit längerer Zeit konstruktiv zusammenarbeite, Schwierigkeiten, weil LAGIS die Frauen, die als Malerin beispielsweise unter ihrem Geburtsnamen "Tischbein" bekannt seien, unter ihrem letzten Ehenamen registriert wurden. Ihre Bitte lautete daher, möglichst bei der Verschlagwortung/Erschließung die Recherchegewohnheiten und zeitbedingten Fragestellungen (Frauen) der Forschung zu berücksichtigen. So könnten z.B. weitere Materialrechnungen von Malern erschlossen werden. In die Verzeichnungen der Archive sollten auch Bildobjekte und Bildquellen integriert werden. Auch frühe Projekte und unausgeführte Planungen kamen der Referentin in den Suchfunktionen der Archive bisher zu selten vor. Bei der Provenienzforschung diagnostizierte sie ein Kompetenzgerangel. Das Autographennachweisportal Kalliope sei nach ihrer Ansicht unvollendet und müsste eigentlich selbst Gegenstand der Forschung werden.
In Heidelberg hat der Referent CORD ARENDES (Heidelberg) seit 2012/13 eine Professur für Angewandte Geschichtswissenschaft (Public History) inne. Damit ist zwar die medial und digital vermittelte Neueste Geschichte gemeint, aber Archivalien kommen bisweilen auch hier vor. Bezüge zur Regional- und Landesgeschichte ergeben sich regelmäßig. Neue Lehr- und Lernformate bieten heute Vorlesung-Seminare mit Praxisbezug und Projektanbindung. Das Studium ist durch "forschendes Lernen und Lehren" geprägt. Die klassische Hausarbeit wird dabei u.a. vom Arbeiten mit den Quellen abgelöst. Um die Defizite in Quellenkunde und den Fächern der historischen Hilfswissenschaften zu kompensieren, sollten die Heidelberger Studentinnen und Studenten im WS 2019/20 "Tourismusgeschichte und Geschichtstourismus in Heidelberg" dadurch kennenlernen, dass sie in drei Arbeitsgruppen je Tourismusführer für die 1920er-, 1930er- und 1950er-Jahre des 20. Jahrhunderts entwickelten und realisierten. Ganz anders wählte TORSTEN RIOTTE (Frankfurt am Main), PD an der Professur für Neuere Geschichte (19. Jh.), den Zugang für die Lernenden: Aus dem Bestand der Berichte der britischen Gesandten in den Bundesstaaten des Deutschen Bundes sollten sie jene auswählen, die für eine Edition relevant wären, und die Auswahl begründen und für die Edition bearbeiten.
Die 2019 neu ins Amt eingeführte Leiterin des Hessischen Hauptstaatsarchivs in Wiesbaden, NICOLA WURTHMANN (Wiesbaden), fragte in ihrem Beitrag danach, ob das Archiv in unserer Zeit seine Attraktivität verlöre. Die Akten würden immer weniger interne Entscheidungsfindungen dokumentieren. Durch die Digitalisierung sei das Material zunehmend disparat und für Bewertung dieses Materials sei noch ungemein viel zu lernen. Neue Methoden und Fragestellungen relativierten heute die Archivalien. Es gelte, eine Vielfalt an Möglichkeiten der Interpretation historischer Ereignisse zu berücksichtigen. Aber werden dadurch die Archivalien an Releveanz für die Forschung verlieren oder gar verzichtbar?
Archivdirektor LARS ADLER (Darmstadt) konnte von Erfahrungen berichten, die er durch seinen Lehrauftrag für Mittelalterliche Geschichte am Institut für Geschichte der TU Darmstadt gesammelt hat. Adler berichtete, dass das Geschichtsstudium heute auch ohne Quellenkontakt gut möglich sei. Der Verlust der Lehrstühle für Landesgeschichte und Historische Grundwissenschaften in den letzten Jahrzehnten mache sich inzwischen deutlich an der Basis bemerkbar. Daraus resultierten ein Wandel des Berufsbildes im Archiv und eine Neuorganisation der dienstlichen Zuständigkeiten sowie der Bearbeitung der Aufgaben. Archive sähen sich nicht mehr als Forschende, sondern als 'Forschung Ermöglichende'. In der Forschung würden aus Gründen der Kriterien der Antragstellung für Drittmittel die Fragen zu 'groß', zu raumgreifend und zu spezialisiert gestellt. Oft würde das Thema für den Projektantrag 'transnational' und interdisziplinär und 'gendergerecht' entwickelt. Auf der Strecke blieben dabei Themen der Landesgeschichte, der Personengeschichte und der biographischen Forschung, die umfangreichere Auswertungen von Archivalien voraussetzten. Den Studierenden solle daher möglichst frühzeitig der Kontakt mit den Quellen ermöglicht werden und das Handwerkszeug zum eigenen Bearbeiten vermittelt werden. Seine Kernthesen fasste Lars Adler wie folgt zusammen: Den Nutzern im Archiv müssten archivische Grundkenntnisse und Recherchemöglichkeiten vermittelt werden, die Originalquellen sollten in den Lehrbetrieb eingebunden werden, über die einschlägigen Archivbestände und Quellenarbeiten solle verstärkt informiert werden, und die Repro- und Digitalisierungsquote solle von Archiven wie von der Forschung verstärkt werden.
Der Lehrstuhlinhaber für Mittelalterliche Geschichte an der TU Darmstadt, GERRIT JASPER SCHENK (Darmstadt), breitete vor dem Auditorium anschließend eine Fülle von neuen Errungenschaften zu den DH (Digital Humanities) in den Geschichtswissenschaften aus. Seine Ausgangsfrage war, ob Quantitätssteigerung auch eine Qualitätssteigerung bedeute. Er unterstrich die Rolle der Gedächtnisinstitutionen als Schnittstelle zwischen Universität, Forschung, Lehre und Verwaltung. In der Lehre seien neue Sub- und Intradisziplinen entstanden, die Technik, Methoden und Forschung beträfen: die Digitalen Hilfswissenschaften, die Digitale Edition und Quellenkunde, die Digitale Quellenkritik und die Rekonstruktion und Emulation von Quellen. Findbücher und Repertorien seien zunehmend als Bilder, aber vermehrt auch mit Meta-Daten zu nutzen (Beispiele sind die Online-Suche des Landesarchivs Baden-Württemberg oder Arcinsys). Weit fortgeschritten sei inzwischen der Handschriftencensus http://www.handschriftencensus.de/, und mit Transkribus werde eine Software entwickelt, die auch Handschriften erkennt. Mit der Edition der Chronik des Ulrich von Richental durch Thomas Martin Buck sei 2019 erstmals eine digitale Edition in der MGH erschienen https://edition.mgh.de/001/html/. Inzwischen sei dringend der Ausbau digitaler Forensik vonnöten. Aus den Datenbanken und digital verfügbaren Quellen würden neue Fragen und Forschungsfelder entstehen. Als Beispiel nannte Schenk die Digitalisierung des Darmstädter Tagblatts 1740–1986 http://tudigit.ulb.tu-darmstadt.de/show/_md_search?md_query_cat=sammlung&md_query_var=sammlung54&md_query_sort=sort_date_idocval+asccval+asc. In der Lehre sei inzwischen der Einsatz digitaler Tools und Arbeitstechniken gang und gäbe. Diese gelte es auf die Historischen Hilfswissenschaften auszuweiten. So werden etwa ganz selbstverständlich Geoinformationssysteme (GIS) verwendet. Aber auch das Crowdsourcing verbreite sich in der Geschichtswissenschaft. Eine besondere Herausforderung stelle auch der Umgang mit den 'born-digital-data' dar. Diese müssen erfasst und gesichert werden. Es bedürfe der Ausweitung der archivierten Datensphäre u.a. auf monopolisierte Daten aus den Wirtschaftsunternehmen, die umfangreich vermarktet würden. Zu fragen bliebe, wie unter diesen Bedingungen weiterhin Archive das kulturelle Gedächtnis kanonisieren könnten. Heute würde beispielsweise die Randgruppenforschung extrem forciert und gefördert. Grundsätze ethisch verantworteten Forschens müssten auch bei Datenbanken zur Anwendung kommen. Als weiterhin drängendes Problem bliebe, so Schenk, die fehlende Nachhaltigkeit der DH-Forschung, das Hinterlassen von Datenruinen und die Fluidität. Hierzu haben das IAAS Stuttgart und das DCH Köln ein von der DFG gefördertes Projekt "SustainLife" mit dem auf OASIS-Standards basierenden TOSCA (Topology and Orchestration Specification for Cloud Applications) vorgelegt, welches Schenk nachdrücklich empfahl.
Dass die zahlreichen Beispiele, die Gerrit Schenk nannte, auch im hessischen Raum möglichst viele Nachfolger und Nachahmer finden, dafür warb eindrücklich FRANCESCO ROBERG (Marburg). Das Landesarchiv böte gerne seine Erfahrung und Hilfe beim Einwerben, Beantragen, Bewirtschaften, Abrechnen und Dokumentieren von Projektmitteln an. Für die Zusammenarbeit mit der Landes- und Zeitgeschichte seien die Archive die natürlichen und effizienten Partner, um bei der Digitalisierung von Beständen jenen Sachverstand zu entwickeln, um die Erfassung und Erschließung sachgerecht leisten zu können. Die Geschichtswissenschaft hingegen sollte ihre Expertise intensiver in Projekte mit den Archiven einbringen und deren Angbote für die Drittmittelförderung erkennen und nutzbar machen. Die Forschung sollte die Bereiche in den Archiven benennen, die sich für Projekte eigenen würden – gerne auch als niederschwellige kleinere Projekte. Die Archive jedenfalls, dies betonte Landesarchivpräsident Andreas Hedwig abschließend nochmals, seien aufgewacht und freuten sich auf neue Herausforderungen. Die Beiträge des Workshops werden im Laufe des Jahres 2020 in einem Sonderheft der Archivnachrichten aus Hessen erscheinen.
Konferenzübersicht:
Johannes Kistenich-Zerfaß (HStA Darmstadt): Begrüßung
Andreas Hedwig (Hessisches Landesarchiv Marburg): Impuls - Archive und historische Forschung
Panel I: Aktuelle Forschungstendenzen
Sabine Mecking (Philipps-Universität Marburg): Herausforderungen und Potentiale einer Landes- und Zeitgeschichte
Michael Kißener (Johannes Gutenberg-Universität Mainz): Die Geschichte des Bundesgerichtshofs. Zusammenarbeit des Bundesarchivs und des Arbeitsbereichs Zeitgeschichte an der Universität Mainz
Hanna Ahlheim (Justus-Liebig-Universität Gießen): Schlafen im Archiv? Neue Fragen an alte Akten
Martina Sitt (Kunsthochschule Kassel): Anmerkung zu künftiger Verschlagwortung aus kunsthistorischer Forschungsperspektive
Panel II: Zukunftsperspektiven der Quellenarbeit
Cord Arendes (Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg): Public History und der Einsatz archivalischer Quellen in der Praxis
Torsten Riotte (Goethe-Universität Frankfurt am Main): Ein „Vetorecht" der Quellen? Empirisches Arbeiten im universitären Unterricht
Nicola Wurthmann (HHStA Wiesbaden): Archivalische Quellen für die Forschung unverzichtbar? Attraktivität und Zugänglichkeit von Archivgut im digitalen Zeitalter
Lars Adler (HStA Darmstadt): Archivische Quellen für akademische Zulassungsarbeiten - ein Problemaufriss
Panel III: Neue Felder der Geschichtswissenschaft
Gerrit Jasper Schenk, (Technische Universität Darmstadt): Digital Humanities in der Geschichtswissenschaft. Schnittstelle zwischen Archiv, Bibliothek und Universität
Francesco Roberg (Hessisches Landesarchiv Marburg): Forschungsförderung und Drittmitteleinwerbung im HLA. Stand und Perspektiven