Die Ergebnisse oder bereits die Untersuchungsobjekte geisteswissenschaftlichen Arbeitens online frei zugänglich zu machen und damit die (Fach-)Öffentlichkeit zur raschen Kenntnis- und vor allem auch zur Teilnahme einzuladen, ist heute ein ebenso naheliegendes Element wie probates Instrument der Forschung, der Lehre und der Wissenschaftskommunikation. Weblogs, virtuelle Themendossiers und Online-Repositorien für digitale bzw. digitalisierte Quellen oder Forschungsdaten eröffnen dabei – wenn sie gut gemacht sind – gegenüber klassischen, analogen Publikationsformen einen echten Mehrwert.
Der internationale Workshop zielte auf einen Erfahrungsaustausch zwischen verantwortlichen Koordinatoren wissenschaftlicher bzw. fachbezogener Internet-Themenportale an der Schnittstelle von Public History und Digital Humanities ab. Praktische Fragen des Auf- und Umbaus sowie des alltäglichen Unterhalts entsprechender Onlineangebote standen dabei im Mittelpunkt der Präsentationen und Diskussionen. Eingeladen waren vor allem Vertreter wissenschaftlicher Online-Portale, die historische Themen adressieren.
Anlass des Workshops war das derzeit im Aufbau befindliche, deutsch-englische Themendossier „Shared Histories: Deutsche und Juden im östlichen Europa – Aspekte einer historischen Verflechtung“1, das seit dem Jahreswechsel 2019/2020 im Rahmen des Forschungsportals zu Ost-, Ostmittel- und Südosteuropa „osmikon“ schrittweise online geht.2 „Shared Histories“ will die historische Dimension jüdischen und deutschen Lebens inmitten der anderssprachigen und andersglaubenden Mehrheitsbevölkerung Osteuropas ins öffentliche Bewusstsein rufen. Das Themendossier geht zurück auf eine Idee von Tobias Grill (München), der 2015 als Postdoktorand der Graduiertenschule für Ost- und Südosteuropastudien am Center for Advanced Studies (CAS) der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) auslotete, inwieweit für Deutsche und Juden im östlichen Europa von einer Verflechtungsgeschichte oder shared history die Rede sein kann.3 Die Koordination und Redaktion des Portals liegen derzeit in den Händen von Alexis Hofmeister.
In seiner Keynote umriss GERHARD LAUER (Basel) zunächst die Ursprünge der digitalen Geisteswissenschaften und den aktuellen Stand bzw. die Herausforderungen textbasierter, wissenschaftlicher Onlineportale.4 Für ihn liegt der Mehrwert solcher Angebote vor allem darin, die für ein bestimmtes Forschungsthema oder -feld benötigten Materialien, das heißt Quellen und/oder Forschungsdaten und darauf bezogene Forschungsliteratur, aus unterschiedlichen Beständen (virtuell) zusammenzuführen, um diese dann – idealerweise computergestützt – mit unterschiedlichen Forschungsfragen auswerten zu können. Anzustreben sei dabei ein thematisch klar definierter, unterschiedliche Materialien und Bestände systematisch verknüpfender sowie variabel durchsuchbarer Korpus, der neue Forschungen ermögliche (am besten sogar zu Fragen, die aktuell noch gar nicht absehbar seien). Analog zum FAIR-Prinzip bei Forschungsdaten sollten die Korpusinhalte „findable“, „accessible“, „interoperable“ und „reusable“ sein.
ECKHART ARNOLD (München), Leiter des Referats „Digital Humanities“ der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, sprach über „Dos and Don’ts of Virtual Thematic Portals“ und erläuterte an gelungenen und weniger gelungenen Beispielen, was bei der Architektur wissenschaftlicher Portale beachtet werden sollte. Er plädierte dafür, sich stets über die Adressaten eines solchen Angebots im Klaren zu sein. Das Oberflächendesign und die Programmierung der über das Portal angesteuerten Datenbanken und Analyseinstrumente müssten klar voneinander unterschieden werden. Und oft seien es Nachlässigkeiten – etwa nicht auf die Zielgruppe abgestimmte Formulierungen, eine verwaiste Nachrichtenrubrik oder veraltete bzw. fehlende Kontaktdaten –, die gravierende Auswirkungen auf die Attraktivität eines Portals hätten.
Speziell für die universitäre Lehre entwickelt wurde das „Digital Humanities Virtual Laboratory“ (DHVLab).5 JULIAN SCHULZ (München) gab einen Einblick in das von der IT-Gruppe Geisteswissenschaften an der Ludwig-Maximilians-Universität München eingerichtete Portal. Studierende erhalten hier die Möglichkeit, sich an Methoden und Instrumenten der digitalen Geisteswissenschaften auszuprobieren und unter anderem auch selbst erste Anwendungen zu programmieren. Was heute oft noch etwas fremdelnd als Digital Humanities charakterisiert werde, sei in der nahen Zukunft geisteswissenschaftlicher Forschungsalltag.
Ein primär forschungsorientiertes Angebot stellte CHRISTOPH SCHINDLER (Frankfurt am Main) mit dem „Fachportal Pädagogik“ vor.6 Der zentrale Fachinformationsdienst für die Bildungsforschung, Erziehungswissenschaft und Fachdidaktik ermöglicht den Zugriff auf relevante Literaturdatenbanken, Forschungsdaten sowie Fachinformationen und verknüpft diese – unter anderem in Themendossiers – soweit möglich miteinander. Gleiches gilt für den Fachinformationsdienst Kunst, Fotografie, Design, „arthistoricum.net“7, den KERSTIN ALBERS (Mainz) präsentierte, sowie für den FID Ost-, Ostmittel- und Südosteuropa mit seinem bereits erwähnten Portal „osmikon“. Es handelt sich um übergreifende und entsprechend komplexe Portale mit Informationsdienstleistungen für bestimmte Forschungsfelder und Disziplinen, die der Wissenschaft unterschiedlichste Nutzungsmöglichkeiten eröffnen.
Inhaltlich viel stärker fokussiert und dabei auf Forschung und vor allem die schulische und hochschulische Lehre ausgerichtet sind Online-Angebote wie „EurViews / Worldviews – The World in the Schoolbooks“8 des Georg-Eckert-Instituts – Leibniz-Institut für internationale Schulbuchforschung oder die „Hamburger Schlüsseldokumente zur deutsch-jüdischen Geschichte“9 des Instituts für die Geschichte der deutschen Juden. KERSTIN SCHWEDES (Braunschweig) stellte WorldViews vor als multilinguale, digitale Quellenedition mit Schulbuchauszügen „zu Themen von interregionaler, transnationaler und globaler Relevanz.“ Hier lassen sich eine Vielzahl von digitalisierten historischen Quellen, die jeweils in Essays historisch eingeordnet werden und verschiedentlich miteinander verknüpft sind, vergleichen und analysieren. Die von SONJA DICKOW (Hamburg) vorgestellten Schlüsseldokumente wiederum sind so ediert, annotiert und miteinander verknüpft, dass sie Nutzern im Wortsinn unterschiedliche Facetten der deutsch-jüdischen Geschichte eröffnen können.
Einen anderen Ansatz verfolgt das von MARTIN JAEGER (München) vorgestellte, sich an die breite Öffentlichkeit richtende Portal „Bavarikon: Bavarian Treasuries of Culture and Knowledge“.10 Es handelt sich um eine umfangreiche Sammlung unterschiedlichster Kultur- und Wissensschätze Bayerns, an der sich insbesondere Museen und Bibliotheken des Freistaates beteiligen. Die Bandbreite der Objekte sei eine Herausforderung, so Jäger; die schiere Zahl der Objekte ist es ebenso. Das hier edierte Material soll kulturell relevant, signifikant, divers, einzigartig und in der Darstellung von hoher Qualität sein. Eine erzählerische Rahmung und Einordnung fallen hier indes schwer; Nutzer dürften daher insbesondere die virtuellen Ausstellungen dankbar aufgreifen.
Virtuelle Ausstellungen können materielle Ausstellungen online duplizieren. Wie das von AGATA KORBA (Warschau) vorgestellte Portal „Wirtualny Sztetl / Virtual Shtetl“11 des Museums der Geschichte der polnischen Juden – POLIN zeigt, können sie eine museale Dauerausstellung aber auch systematisch ergänzen. Das „Virtual Shtetl“ ist dem reichen, im Holocaust aber größtenteils zerstörten Erbe des polnischen Judentums gewidmet und trägt kontinuierlich Informationen zur Geschichte und Gegenwart des polnischen Judentums zusammen. Adressat ist zunächst die polnische Öffentlichkeit, in der heute oft nur wenig über diesen Aspekt der eigenen Geschichte bekannt sei; die fremdsprachigen Varianten, insbesondere die englischsprachige, richten sich zugleich an eine globale Öffentlichkeit. Nutzer können hier in verschiedenen Datenbanken Orte oder Personen jüdischen Lebens in Polen recherchieren und eigenes Wissen beitragen.
Das Portal „European History Online / Europäische Geschichte Online“ (EGO)12 des Leibniz-Instituts für Europäische Geschichte, das JOACHIM BERGER (Mainz) vorstellte, wiederum lässt sich als multimediales Dossier charakterisieren, das sich letztlich an eine Fachöffentlichkeit richtet. Die Beiträge renommierter Autorinnen und Autoren sind mit Digitalisaten historischer Quellen unterschiedlicher Medialität (Texte, Fotos, Videos) verknüpft. Zum Zeitpunkt der Erstellung dieses Angebots war dies innovativ, aber auch wenn sich solches Online-Storytelling bewährt hat, ist es längst noch nicht überall Standard. Die Hoffnung auf kollaborative Arbeitsformen einschließlich der Kommentierung und Diskussion der Beiträge sei indes nicht im gewünschten Umfang in Erfüllung gegangen.
Überhaupt ist der Umgang mit Nutzererwartungen und -erfahrungen von zentraler Bedeutung für die Konzeption und den Unterhalt solcher Onlineangebote. Welche Inhalte müssen für welche Zielgruppen wie und mit welchem Aufwand aufbereitet werden? STEFAN LANGE und FELIX KOETHER (Marburg) gaben einen Einblick in die Planung eines neuen Portals „History and Cultural Heritage in Eastern Europe”, das am Herder-Institut für historische Ostmitteleuropaforschung entsteht. Weil das Portal vor allem bildungsfernere Bevölkerungsgruppen ansprechen soll, sind umfangreichere Nutzerstudien vonnöten. Das Bauchgefühl der Anbieter reicht hier nicht aus. Das wurde auch anhand der Ergebnisse der von KERSTIN ALBERS (Mainz) vorgestellten Zwischenevaluierung des bereits erwähnten Fachinformationsdienstes “arthistoricum.net” deutlich.
Die Podiumsdiskussion „Developments and Usage Habits in the Field of Digital Humanities“ mit MARCIN WODZINSKI (Wrocław) und ENRICO NATALE (Bern) beschloss den Workshop mit grundsätzlichen Überlegungen. Bei aller Euphorie für virtuelle Themenportale dürfe sich das Verständnis von Digital Humanities nicht darin erschöpfen, digitalisierte Quellen lediglich online zu stellen. Wichtig sei deren Annotation, die Verknüpfung und die Möglichkeit, Nutzer angeleitet oder eigenständig weitere Analysen vornehmen zu lassen. Die idealerweise computergestützte Auswertung entsprechenden Materials könne zugleich auch weiterhin in analoge, gedruckte Publikationsformen münden, argumentierte Wodzinski. Die Diskussion wagte auch eine Einordung virtueller Themendossiers und Online-Portale in das Feld der Public History, wobei die Bestimmung des Begriffs insgesamt vage blieb. Abgehoben wurde dabei vor allem auf den Grad der erreichten Öffentlichkeit und dieser bisweilen vielleicht überschätzt. Dass entsprechende Angebote, die sich an die breite, also explizit auch nichtwissenschaftliche Öffentlichkeit richten, das Potenzial haben, einen wichtigen Beitrag zur Entwicklung historischen Bewusstseins in einer Gesellschaft zu leisten und/oder das Wissen und die Erfahrungen von Nichtwissenschaftlern in die historische Forschung einzuspeisen, war aber unstrittig.
Zentrale Herausforderung für alle Portale war, ist und bleibt die Stichhaltigkeit ihres Konzepts, also der Sinn und Zweck eines solchen Angebots, seiner Inhalte und Zielgruppen. Großes Potenzial wurde während des Workshops vor allem solchen Angeboten bescheinigt, die mit einem klar nutzerorientierten Konzept und funktional („keep it smart, keep it simple“) historische Materialien unterschiedlicher Quellengattungen zugänglich machen, erläutern und so vernetzen, dass sie diese nicht nur präsentieren, sondern auch Anknüpfungspunkte für die weitere Forschung bieten. Den Fachinformationsdiensten für die Wissenschaft (FID) als nationale Angebote für Spezialliteratur und forschungsrelevante Informationen und der im Aufbau befindlichen Nationale Forschungsdateninfrastruktur (NFDI) komme in diesem Zusammenhang in Deutschland eine besondere Rolle zu, solche Angebote zu ermöglichen. Als strukturelle Herausforderungen wurden Fragen des Urheberrechts, der Wertschätzung solcher Angebote innerhalb der Wissenschaft und vor allem der Nachhaltigkeit in Zeiten befristeter Projektfinanzierungen benannt.
Konferenzübersicht:
Keynote
Gerhard Lauer (Basel): Old Wine in Digital Bottles? Achievements and Challenges for Textual Oriented Humanities
Panel I: Mapping European History and Politics – a Transnational Endeavor
Agata Korba (Museum der Geschichte der polnischen Juden – POLIN, Warschau): Wirtualny Sztetl / Virtual Shtetl – A portal dedicated to the heritage of Polish Jewry
Sonja Dickow (Institut für die Geschichte der deutschen Juden, Hamburg): Key Documents of German-Jewish History (Digital Edition)
Martin Jäger (Bavarian State Library, Munich): Bavarikon: Bavarian Treasuries of Culture and Knowledge
Panel II: Virtual Thematic Portals as Part of Digital Humanities. Experiences, Chances, Challenges
Eckhart Arnold (Bayerische Akademie der Wissenschaften, München): Dos and Don’ts of Virtual Thematic Portals
Julian Schulz (IT-Gruppe Geisteswissenschaften, Ludwig-Maximilians-Universität München): Digital Humanities Virtual Laboratory: IT for All (DHVLab)
Christoph Schindler (Leibniz-Institut für Bildungsforschung und Bildungsinformation, Frankfurt): The German Education Portal and the Portal for Research on History of Education: Beyond Digital Expert Information Services?
Panel III: Project Management, Workflow and Sustainability of Virtual Thematic Portals
Joachim Berger (Leibniz-Institut für Europäische Geschichte, Mainz): European History Online / Europäische Geschichte Online (EGO)
Kerstin Schwedes (Georg-Eckert-Institut – Leibniz-Institut für internationale Schulbuchforschung, Braunschweig): The Example of the Edition EurViews / Worldviews - The World in the Schoolbooks
Panel IV: What Do Users Expect of Virtual Thematic Portals? Studies, Approaches and Data
Stefan Lange und Felix Köther (Herder-Institut für historische Ostmitteleuropaforschung, Marburg): The New Portal „History and Cultural Heritage in Eastern Europe”
Kerstin Albers (Mainz): An Analysis of the Information Demand: The Example of the Expert Information Service Kunst “arthistoricum.net”
Round-Table-Discussion “Developments and Usage Habits in the Field of Digital Humanities”
Marcin Wodzinski (Universität Wrocław), Enrico Natale (infoclio, Bern)
Anmerkungen:
1https://www.osmikon.de/themendossiers/shared-histories/ (16.04.2020).
2 „osmikon“ wird maßgeblich vom Fachinformationsdienst Ost-, Ostmittel- und Südosteuropa unterhalten, der an der Bayerischen Staatsbibliothek in München angesiedelt ist. Das Themendossier „Shared Histories“ wird von der Bundesbeauftragten für Kultur und Medien (BKM) im Rahmen einer Projektförderung bis Ende 2020 ermöglicht und von der Bayerischen Staatsbibliothek durch Digitalisate und die nötige Infrastruktur unterstützt.
3 Vgl. Tobias Grill (Hrsg.), Jews and Germans in Eastern Europe. Shared and Comparative Histories, Berlin u.a. 2018 (New Perspectives on Jewish Histories; 8); Open Access: https://www.degruyter.com/view/product/475705 (16.04.2020).
4 Videomitschnitt auf LMUcast: https://cast.itunes.uni-muenchen.de/clips/xpZSEKMcQJ/vod/online.html (16.04.2020).
5https://dhvlab.gwi.uni-muenchen.de/index.html (16.04.2020).
6https://www.fachportal-paedagogik.de/ (16.04.2020).
7https://www.arthistoricum.net/ (16.04.2020).
8http://worldviews.gei.de/ (16.04.2020).
9https://juedische-geschichte-online.net/ (16.04.2020).
10https://www.bavarikon.de/ (16.04.2020).
11https://sztetl.org.pl/en (16.04.2020).
12http://ieg-ego.eu (16.04.2020).