Auto/Biographie und Gender: Fakt, Fake, Fiktion

Auto/Biographie und Gender: Fakt, Fake, Fiktion

Organisatoren
Katrin Horn und Selina Foltinek, Anglophone Literaturen und Kulturen / Amerikastudien, Universität Bayreuth
Ort
Bayreuth (online)
Land
Deutschland
Vom - Bis
01.10.2020 - 02.10.2020
Url der Konferenzwebsite
Von
Shevek K. Selbert, Graduiertenkolleg 1767 „Faktuales und fiktionales Erzählen“, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg

Der neunte öffentliche Workshop des Arbeitskreises Biographie und Geschlecht sollte in Bayreuth stattfinden. Katrin Horn und Selina Foltinek hatten ihn Corona-bedingt in den Herbst verschoben und schließlich als kontaktfreie Zoom-Veranstaltung in virtueller Form durchgeführt. Ziel war es, „das Verhältnis von Authentizität und historischer Wahrheit in unterschiedlichen Forschungsprojekten zu beleuchten“ (CfP). Nach der Begrüßung durch Katrin Horn und der thematischen Einführung durch Selina Foltinek ermöglichten fünf thematisch fokussierte „Speeddating“-Runden das paarweise Kennenlernen der TeilnehmerInnen untereinander. Die anschließende Diskussion der Grundbegriffe basierte auf der gemeinsamen Textgrundlage, dem Kapitel „Wissen und Fiktionalisierung“ aus Alexandra Wagners Wissen in der Autobiographie (2014) und Julia Novaks Einleitung zu Experiments in Life Writing (2017, S. 1-12).

Den ersten Vortrag lieferte SHEVEK SELBERT (Freiburg) aus sozialwissenschaftlicher Perspektive und gab einen Einblick in sein Dissertationsprojekt zu autobiographischem Wiedererzählen. Anhand dreier Fallbeispiele aus wiederholten biographisch-narrativen Interviews (2006/07 und 2017) entwickelte er ein Modell der „Autobiografiktionalität“, womit er die Beobachtung bezeichnet, dass es paradoxerweise fiktionalisierende Darstellungsverfahren wie Redewiedergaben, Metaphern, Reinszenierungen, Ironie u.ä. sind, durch die zentrale Versprechen faktualer autobiographischer Kommunikation (Sinnherstellung, Identitätsaushandlung) intersubjektiv eingelöst werden. Es zeigte sich, dass es nicht den einen eindeutigen „autobiographischen Pakt“ gibt, sondern eine Bandbreite möglicher Geltungsansprüchen autobiographischen Erzählens: Mit der „historischen Wahrheit“ des Berichts, der „strategischen Wahrheit“ der Programmatik und der „anekdotischen Wahrheit“ der Dialogik ließen sich die Interviewbeispiele zu drei Grundtypen stilisieren, die mit dem Workshoptitel in Einklang gebracht werden konnten.

Eine gefälschte Autobiographie war die Grundlage für den Vortrag von ANNA MAGDALENA BREDENBACH (Erfurt). Schon Zeitgenossen entlarvten Esther Meynell als die eigentliche Autorin der Little Chronicle of Magdalena Bach (1925), die ihrem Leserkreis einen falschen autobiographischen Pakt so überzeugend anbot, dass das Werk noch heute als authentisch rezipiert wird. Bredenbach ging den Fragen nach, welche Quellen Meynell für ihr erstaunlich gut recherchiertes Buch nutzen konnte und wie Genderstereotypen den Text durchziehen. Diese etablieren einen Hierarchie zwischen dem Genie Johann Sebastian Bach und der vermeintlich selbstempfundenen Unwürdigkeit und Unfähigkeit seiner Ehefrau, der vorgeblichen Verfasserin, deren Sorgen und Mühen um das Glück des Ehemannes kreisen.

In der Keynote ermöglichte ANTJE KLEY (Erlangen-Nürnberg) einen Einblick in ihr aktuelles Forschungsprojekt „Death becomes us“. Um den Genderkodierungen von Krankheitsnarrativen als typisch maskuline Erzählmuster auf den Grund zu gehen, nahm sie mit When Breath Becomes Air (Paul Kalanithi, 2016) und In the Body of the World (Eve Ensler, 2013) zwei Werke in den Blick, die statt einer Kampf- und Überwindungsrhetorik eine besondere Ethik der Vulnerabilität in den Vordergrund rücken. Durch sie offenbart sich das Potential von Literatur, gegenüber einer (westlichen) Kultur der Todes- und Sterblichkeitsverdrängung als alternativer Wissensproduzent diskursiv wirksam zu werden. Durch die damit verbundene moralische Tragweite von Literatur erscheinen Zuverlässigkeit und Verbindlichkeit des autobiographischen Paktes umso wichtiger. Dementsprechend spielen Authentifizierungsstrategien in beiden Werken eine große Rolle: Der Neurochirurg Kalanithi beginnt den Schreibprozess mit seiner Lungenkrebs-Diagnose und schreibt bis zu seinem Tod mit 37 Jahren, so dass ein Nachwort seiner Frau das Buch abschließt. Die durch The Vagina Monologues bekannt gewordene Ensler liefert in 53 Kapiteln eine literarische Version eines CAT-scans, um ihre Erkrankung an Gebärmutterkrebs zu verarbeiten. Während sie die Kampfrhetorik im Stile eines „I am going to beat this thing“ hinterfragt („I don’t wanna be a fucking patient“), gelingt Kalanathi über die angesichts der Sterbeerwartung überwundenen Eheprobleme ein Gegengewicht durch Intimität und Vulnerabilität. Es wurde deutlich, dass die autobiographische Beschäftigung mit Sterblichkeit eine Gegenerzählung darstellt zu den vorherrschenden Narrativen des Vorwärtsdrängens und der Selbstoptimierung, deren Sinnentleertheit dadurch noch mehr offengelegt wird.

KATHRIN ENGELSKIRCHER (Mainz) sprach über den autobiographischen Gehalt von Songtexten. Anhand ausgewählter Texte John Lennons zeigte sie, wie dessen jeweiliger konkreter autobiographische Hintergrund textlich Ausdruck fand („first-person-music about me and nobody else“): die frühe Misogynie Lennons in Zusammenhang mit der Erfahrung des Verlassenwerdens durch die Mutter und deren frühen Unfalltod, seine krankhafte Eifersucht in der ersten Ehe mit Cynthia und die spätere symbiotische Beziehung mit Yoko Ono. Textauszüge aus Run for your life (1965) und Norwegian Wood (1965) illustrierten die frühe, gewalttätige und machistische Seite Lennons, Auszüge aus Don’t let me down (1969) die eher verletzliche Seite. Im an die Mutter adressierten Trauerlied Julia (1968) verschmelzen deren Eigenschaften mit denen Yoko Onos. Die These, ein Song wie Woman is the nigger of the world (1972) könnte als Indiz dafür gedeutet werden, dass Lennon sich vom „‚Cockrocker‘ zum Feministen“ entwickelt habe, erwies sich in der anschließenden Diskussion als wohl zu stark, eine zunehmende Relativierung von Geschlechterstereotypen in Lennons Leben und Schaffen ist jedoch nicht von der Hand zu weisen.

JÖRG HOLZMANN (Leipzig/Bern) setzte den musikwissenschaftlichen Fokus fort. Vor dem Hintergrund seines Dissertationsprojektes zu Tonfilmdokumenten präsentierte er ein Work in Progress zu Maurice Guest (1908) der australischen Schriftstellerin Ethel Florence Lindesay Richardson, die unter dem Pseuodandronym Henry Handel Richardson publizierte. Sie hatte am Konservatorium in Leipzig studiert, wo sie auch ihren Musikerroman spielen lässt. Dieser wurde 1954 unter dem Titel Symphonie des Herzens mit Liz Taylor verfilmt, weist jedoch tiefgreifende Eingriffe in die Vorlage auf: Der Film befördert die weibliche Figur des Romans zur Protagonistin, verzichtet auf dessen sexuelle Offenheit und Eindringlichkeit, gleichzeitig ersetzen in der Darstellung des Musikermilieus nun Klischees die Authentizität der Darstellung der Autorin, die auch selbst komponierte.

SELINA FOLTINEK (Bayreuth) berichtete aus ihrem Dissertationsprojekt zur Agency-Produktion in semi-autobiographischer Fiktion zu Same-Sex-Relationships. Das zugrundeliegende Korpus entstand zwischen 1859 und 1987. Die Werke weisen durchaus unterschiedliche fiktionale Anteile auf, haben jedoch gemeinsam, dass sie mit dem Begriff „semi-autobiographisch“ gefasst werden können. Begriffe wie „Semi-Autobiographie“, „Autofiktion“ oder „Namensgleichheitsfiktion“ sind nötig, um Selbstzeugnisse jenseits heteronormativer Kontexte und mit größerer Fragmentierung des Selbst fassen zu können, die sich der überhöhten Kohärenzerwartung an das „männliche“ Genre Autobiographie verwehren. Die Analyse der Werke gibt Aufschluss über die Möglichkeit der Literatur, Handlungsoptionen zu reflektieren und Sexualität in der Deckung durch Fiktionslizenzen zu verhandeln („in autobiography only gay people have sexuality“), um Imaginationsangebote zu schaffen.

Der „Autobiographie des Anderen“ widmete sich MRUNMAYEE SATHYE (Tübingen) und gab Einblick in ihre abgeschlossene Masterarbeit. Ausgehend von Hegels Subjektbegriff und de Beauvoirs Konzept des „männlichen Subjekts und des weiblichen Anderen“ hinterfragte sie binäre Dichotomien und die konzeptionelle Verknappung auf eine bestimmte Identitätsgruppe (cis-gender, männlich, westlich, christlich, heteronormativ). Die männliche Hegemonie zeige sich nicht zuletzt in dem Befund, dass Frauen historisch erst stark verzögert schriftstellerisch tätig werden konnten, da zuvor Machtstrukturen, fehlende Vorbilder und die vermeintlich fehlende Erzählwürdigkeit aus nicht-männlichen Perspektiven die Möglichkeit von Autorinnenschaft verhinderten. Autobiographische Erzählungen, die das „Ich des Anderen“ in den Vordergrund stellen, hinterfragen inzwischen das dominante männliche Narrativ und können Dichotomien aufbrechen, indem sie auf keiner der beiden Seiten zu verorten sind, sondern gewissermaßen auf deren Grenze, z.B. als „embodied narratives“. Vor diesem emanzipativen Ansatz der Subjektwerdung durch Schreiben „als sich selbst“ wird die Frage nach Faktizität suspendiert: Hauptsache, es wird geschrieben. Sathye widmete sich der Analyse von genrebrechender „Biomythography“ in Audre Lordes Zami (1982) und Cancer Journals (1980). Mit The Weave of My Life: A Dalit Woman’s Memoirs (2003) von Urmila Pawar kam ein weiteres Werk zur Sprache, das das Fazit noch weiter stützte, dass Autorinnen in ihren Gegengeschichten eine Welt voller solidarischer Frauen schaffen, um die Dominanz männlicher Perspektiven zu brechen.

LISA MARIA PREGITZER (Gießen) widmete sich den Topoi der Künstlerlegenden in autobiographischen Schriften und gab damit einen Einblick in ihr Promotionsprojekt zu Selbstbildnissen und Schriftzeugnissen und der Frage nach Authentizität und Fiktion. Ihre These, dass (auch) Künstlerinnen in ihren Selbstzeugnissen die Fremdwahrnehmung antizipieren und dafür bewusst mythenbildende Topoi der Kunstgeschichte als Ressourcen nutzen, verfolgte sie insbesondere am Beispiel der Malerin Marie Bashkirtseff. Bashkirtseff (1858-1884) schildert in ihren Tagebuchaufzeichnungen die Ausbildungsmöglichkeiten für Künstlerinnen ihrer Zeit und greift auf etablierte Muster der Künstlerlegende zurück, indem sie sich beispielsweise mit der Darstellung ihrer frühkindlichen Begabung Narrative des „göttlichen Willens“ und des „zum Künstler geboren“ zu Nutze macht. Wichtiger als der Wahrheitsgehalt dieser Topoi ist deren Nutzbarmachung für die Identität als Künstler(in).

Aus ihrem Forschungsprojekt zu weiblichen Lebensgemeinschaften und Liebesbeziehungen im Bürgertum zwischen 1880 und 1940 berichtete BIANCA WALTHER (Siegen). Die Literaturnobelpreisträgerin Selma Lagerlöf publizierte drei Bände mit Kindheitserzählungen, die als Schlussstein ihres Lebenswerks zu verstehen sind. Sie spart in diesen publizierten Selbstzeugnissen allerdings romantisches Interesse aus, da sie aufgrund der historischen Konventionen der Entstehungszeit darin nicht ihre Homosexualität thematisieren konnte. In ihrem Dag-Bok (1934) hatte sie noch zu einer heterosexuellen Nebelkerze gegriffen und einen erfundenen „Studenten aus Uppsala“ als Liebesobjekt behauptet, um mögliche Verdachtsmomente zu zerstreuen. Ihre lebenslange Ehelosigkeit wurde als Autonomie einer Erfolgsautorin gedeutet. Erst durch ihren Entschluss, alle 6.000 Briefe von und an die beiden Frauen ihres Lebens posthum unzensiert zu publizieren, wurde öffentlich, dass sie ihr homosexuelles Liebesleben verborgen hatte. Auch in diesem Vortrag ergab sich ein neuer, komplexerer Blick auf die Frage nach dem autobiographischen Pakt, denn: „Wer paktiert mit wem, wenn eine Wissenschaftlerin 2020 ihrem Publikum erzählt, was eine Autorin 1932 ihrem Publikum erzählte?“

Insgesamt offenbarte der Workshop ein weiteres Mal die vielseitigen Synergien interdisziplinären Diskurses: Die unterschiedlichen disziplinären Zugänge und ihre zugrundeliegenden heterogenen Forschungsmaterialien – biographisch-narrative Interviews, Film, (Pseudo-)/(Semi-)Autobiographien, Selbstzeugnisse, Romane und verschiedene Hybridformen dazwischen – zeigten die grundsätzliche Gemeinsamkeit in der Suche nach dem Verhältnis zwischen Wahrheitsanspruch und Fiktionslizenz, „authority of nonfiction“ und „liberty of fiction“. Das durchgängige Abarbeiten an Lejeunes Denkfigur des „autobiographischen Paktes“ sensibilisierte die Teilnehmenden weiter für die Frage danach, wer wem welche Geschichte erzählt und erzählen darf (und wer nicht) und wieso und dass die Frage der narrativen Adressierung komplexer ist, als ein einfaches Produktion-Rezeption-Modell vielleicht erahnen lässt.

Konferenzübersicht:

Katrin Horn (Bayreuth): Begrüßung

Selina Foltinek (Bayreuth): Einführung

Shevek K. Selbert (Freiburg): Autobiografiktionalität? Überlegungen zum Geltungsanspruch von Lebenserzählungen im Rahmen autobiographischen Wiedererzählens

Anna Magdalena Bredenbach (Erfurt): „Lücken überschreiben“: Die Konstruktion von Genderstereotypen in der fiktiven Autobiographie Little Chronicle of Magdalena Bach

Keynote
Antje Kley (Erlangen-Nürnberg): Tod – Körper – Geschlecht: Literarische Freiheit und moralische Verantwortung in aktuellen US-amerikanischen Memoiren

Kathrin Engelskircher (Mainz): Der Songtext als autobiografisches Machwerk? John Lennons (De-)Konstruktion von Männlichkeit in ausgewählten Lyrics der Beatles

Jörg Holzmann (Leipzig): Maurice Guest und die Auflehnung durch literarisierte Musik

Selina Foltinek (Bayreuth): Semi-autobiographische Erzähltexte über gleichgeschlechtliche Beziehungen zwischen Frauen (1859-1987): Handlungsräume und Genre-Fragen

Mrunmayee Sathye (Tübingen): Sitting Down to Write and Standing Up to Speak: Das subversiv-emanzipative Potential der Auto/Biographie des Anderen

Lisa Maria Pregitzer (Gießen): Topoi der Künstlerlegenden in autobiographischen Schriften von Künstlerinnen am Beispiel vom Marie Bashkirtseff und Vally Wygodzinski

Bianca Walther (Siegen): „Ein Student aus Uppsala“. Weibliche Lebensgemeinschaften und Liebesbeziehungen im Bürgertum, 1880-1940

Abschlussdiskussion