Zu den Vortragenden des interdisziplinären Workshops zählten Mitglieder des SFB 933 „Materiale Textkulturen“ und des Graduiertenkollegs 2196 „Dokument – Text – Edition“, die in virtueller Runde ihre laufenden Forschungsprojekte präsentierten.
Im Fokus der Zusammenkunft stand die Diskussion sichtbarer und unsichtbarer Textgrenzen in vormodernen Texten. Dabei wurden sowohl handschriftliche als auch gedruckte Texte von der Spätantike bis in die frühe Neuzeit in den Blick genommen. Anhand der Abbildung einer Initiale aus einer Abschrift von Boethius‘ Consolatio philosophiae aus dem 13. Jahrhundert zeigte Paul Schweitzer-Martin in seinen Eröffnungsworten zentrale Fragen der Tagung auf: Wie wurden Texte und einzelne Text- und Seitenelemente gegeneinander abgegrenzt? In welcher Beziehung stehen sie zueinander? Warum wurden diese Grenzen produziert und welche Entwicklungslinien zeichnen sich ab? In den Vorträgen wurden theoretische Ansätze diskutiert und an verschiedenen Fallbeispielen unterschiedliche Phänomene der Textgrenzen quellengattungs- und epochenübergreifend beleuchtet. Auch moderne Quelleneditionen wurden einer kritischen Neubetrachtung unterzogen.
Kompilatorische Textaneignungen in lateinischen Manuskripten des Frühmittelalters und daraus hervorgehende Textgrenzen sowie deren Potenzial als dem Werk inhärente Gestaltungsräume standen im Fokus des Vortrags von OLIVER GLASER (Wuppertal). Am Beispiel verschiedener Handschriften, darunter die Epistola de Gradibus Consanguinitatis, zeigte er die unterschiedlichen Kompilierungsstrategien auf, derer sich ihre AutorInnen bedienten. Während die multitextuelle Zusammensetzung bei vielen Abschriften visuell stark hervorgehoben wurde, stellten sich andere Handschriften ohne binnentextliche Differenzierung en bloc dar. In beiden Fällen ließe sich jedoch mit einiger Berechtigung auf eine bewusst inszenierte Zusammenstellung und Anordnung von Texten schließen, die die zeitgenössischen Leser nicht nur durch ihren Inhalt, sondern auch durch ihre Form, heißt ihre visuelle Ausgestaltung, zu erreichen suchten. In ihrer spezifischen Komposition kommentierten, revidierten und ergänzten sich die Texte gegenseitig. Textgrenzen ermöglichten nach Glaser damit Gegenüberstellungen und boten den Raum für Diskurs.
SYLVIA BROCKSTIEGER und REBECCA HIRT (beide Heidelberg) nahmen ebenfalls Kotextualität in den Blick, legten jedoch einen anderen Fokus: Anhand von frühneuzeitlichen Schreibkalendern fragten sie nach der Wechselwirkung zwischen Drucktext und Handschrift. Der Drucktext sei primär, weil er den handschriftlichen Eintragungen vorausgehe. Statisch und unveränderbar gebe er Wissen wieder und organisiere den weiteren Gebrauch des Buches. Die spezifische Affordanz des Gedruckten bilde den überindividuellen Rahmen für die individuelle Bearbeitung per Hand. Die handschriftlichen Eintragungen richten sich, weil sekundär, zwar am Angebot des Gedruckten aus, doch lassen sich, so die Referentinnen, verschiedene Arten des Umgangs mit der Affordanz unterscheiden. Diese variieren je nach Grad der Autonomie der Handschrift gegenüber dem Gedruckten und reichen von einer gänzlichen Erfüllung der Affordanz, über eine Dynamisierung des Drucktextes sowie ihrer selbst bis hin zu einer scharfen inhaltlichen wie formalen und visuellen Abgrenzung. Die Referentinnen stellten nicht nur auf eindrückliche Weise die Potenziale von Drucktext und Handschrift sowie ihren besonderen Verflechtungs- und Abgrenzungscharakter heraus, sondern regten auch zu terminologischen Grundsatzdebatten an. Es bedürfe schließlich eines geeigneten Begriffes, der weniger Haupt- und Nebentext scheide, als vielmehr die dynamisierenden, reziproken Aspekte von Kotextualität hervorhebe und Text als gesamtheitliches Endprodukt fasse.
Fränkische Annalen werden in frühneuzeitlichen Drucken und modernen Editionen nicht selten aus ihrem ursprünglichen Überlieferungskontext herausgerissen. Dieser gebe laut BART VAN HEES (Wuppertal) aber Aufschluss über die Rolle, die die Annalen gegenüber anderen Texten im Manuskript spielten und bedürfe eingehender Untersuchungen. Van Hees fasste seine Beobachtungen zusammen, indem er zunächst auf die nach zeitgenössischer Auffassung augenscheinlich eigenständige Textgattung der Annalen hinwies, die er aus der konsequent einheitlichen Betitelung der Texte ableitete. Dabei seien die Annalen von anderen Formen der frühmittelalterlichen Geschichtsschreibung abzugrenzen, wie etwa von den sogenannten Osterannalen. Er stellte zudem fest, dass die Annalen mit anderen im Manuskript enthaltenen Texten in einem synergetischen Verhältnis stehen konnten, wenn es beispielsweise darum ging, in Kombination mit exegetischen Texten fränkische Herrschaftsgeschichte und christliche Heilsgeschichte miteinander zu verweben. Derartige Erkenntnisse seien nur durch eine ganzheitliche Betrachtung der Annalen unter besonderer Berücksichtigung ihrer Einbettung in ihren jeweiligen kodikologischen Kontext zu ziehen.
Die Rolle von Textgrenzen in spätantiken Chroniken und deren editorische Aufbereitung seit dem 19. Jahrhundert standen im Fokus des Vortrags von NIKLAS FRÖHLICH (Wuppertal). Wesentliche Kennzeichen von Chroniken seien ihre kompilatorische Zusammenstellung aus unterschiedlichen Texten und deren kontinuierliche Neubearbeitung im Lauf der Zeit. Anhand der dabei entstandenen, und zum Teil explizit hervorgehobenen, textgenetischen Grenzen habe die Editorik des 19. Jahrhunderts laut Fröhlich versucht, durch Zergliederung der Chroniken und Neukompilierung der Bruchstücke die jeweiligen „Urtexte“ zu rekonstruieren. Resultat dieser Unternehmung seien Werkschöpfungen gewesen, die der kompilatorischen und der entstehungsgeschichtlich prozesshaften Eigenart spätantiker wie mittelalterlicher Chronistik wenig Rechnung trügen. Stattdessen seien im Zuge dessen künstliche Werkgrenzen gezogen worden, die den geschichtswissenschaftlichen Umgang mit diesen Quellen bis heute prägen. Fröhlich gelang schließlich eine fruchtbare Gegenüberstellung der zeitgenössischen Auseinandersetzung mit Textgrenzen und deren Auslegung in der modernen Editionswissenschaft unter Berücksichtigung der damit verbundenen forschungsrelevanten Folgen.
PAUL SCHWEITZER-MARTIN (Heidelberg) richtete seinen Blick auf die Abgrenzung der Paratexte vom Haupttext in Inkunabeln, d.h. mit beweglichen Lettern gedruckten Büchern des ausgehenden 15. Jahrhunderts. Zwar gehören auch Titelblätter, Widmungsvorreden usw. zum paratextlichen Repertoire, doch konzentrierte sich der Referent auf die Kolophone. Diese Paragraphen befinden sich am Ende eines Buches und liefern, so Schweitzer-Martin, nicht nur Informationen zum Druckort, -datum und dem Drucker selbst, sondern lassen durch ihre graphische Ausgestaltung auch Rückschlüsse auf Intention und Selbstverständnis des Druckers zu. In den meisten Fällen seien die Kolophone durch Einrückung, Absetzung oder auch durch Änderung der Schriftgröße oder Druckfarbe vom Text abgehoben worden, wobei die Abgrenzungen teils sehr unterschiedlich ausfallen. Schweitzer-Martin bemerkte, dass eine graphisch besonders akzentuierte Kolophongestaltung je nach intendierter Abnehmerschaft und Verkaufssituation variieren konnte und sich so auf eine frühe Form der Profil- und Markenbildung im Buchdruck schließen ließe. Diese These erfreute sich im Anschluss des Vortrags reger Diskussion und verweist, wie der gesamte Vortrag, auf das Erkenntnispotenzial einer direkten Auseinandersetzung mit der Materialität eines Werkes.
Mit einer ganz anderen Quellengattung befasste sich MATTHIAS KUHN (Heidelberg). Er zeigte die Besonderheiten des Zusammenspiels von Bild und Text in spätmittelalterlichen genealogischen Rollen des Adels am Beispiel der Markgrafen von Baden auf. Graphische Elemente nehmen, so Kuhns These, darin eine dem Text deutlich übergeordnete Stellung ein. Genealogische Rollen seien Medien, die in der Hofgesellschaft Narrative zu vermitteln und Status zu bekunden suchten. Eine Schwerpunktsetzung auf ikonographische Mittel habe zur erfolgreichen Kommunikation jener Inhalte in Adelskreisen beigetragen. Im Falle der Stammbaumrollen sei dies durch eine aufwendige Ausgestaltung der Wappen geschehen, die häufig vorgezeichnet und koloriert worden seien und dabei einen beträchtlichen Platz auf der Rolle eingenommen haben. Im scharfen Kontrast dazu stehen die erst in einem zweiten Anfertigungsschritt hinzugefügten dicht beschriebenen und wenig ausgefallenen Erklärungstexte zu den Wappen und Personen im Stammbaum. Aus seinen Beobachtungen schlussfolgerte Kuhn schließlich sowohl auf die repräsentative Funktion der genealogischen Rolle am Hof als auch die Rezeptionsgewohnheiten des Adels.
Wie ihr Vorredner beschäftigt sich auch ABIGAIL ARMSTRONG (Heidelberg) mit Codices und Rollen, jedoch vorrangig in deren administrativem Gebrauch landesherrlicher Verwaltungsapparate im England des 14. und 15. Jahrhunderts. Im Fokus ihrer Aufmerksamkeit standen in diesem Kontext die Nutzungs- und Editionsmöglichkeiten sowie deren Grenzen bei Codices und Rollen durch ihre Benutzer. Anhand finanzieller Aufzeichnungen aus dem Bistum Durham und der Grafschaft Northumberland beleuchtete Armstrong die materiellen Grenzen beider Medien: Während die Codices gebunden sind und damit durch ihre fixierte Form und ihren festumrissenen Umfang spätere Nachträge der Nutzer erschwerten, konnten Rollen – besonders die sogenannten chancery-style rolls – am oberen, vor allem aber am unteren Ende beliebig erweitert werden. Auch die leichtere Transportfähigkeit spreche zugunsten der Rolle. Durch die größere Praktikabilität im alltäglichen Gebrauch sei die Rolle in den meisten von Armstrong untersuchten Fällen daher dem Codex vorgezogen worden. Das Format und damit die Materialität des Mediums übten letztlich also maßgeblich Einfluss auf den Gebrauch und die Präferenzen der Nutzerschaft aus.
Text ohne Grenzen ist kaum denkbar. Bereits das Material und das Format des Beschreibstoffes setzen Grenzen und geben den Nutzungsrahmen vor. Eine Seite endet schließlich zunächst einmal am Rand. Dass dem nur in der Theorie so ist, bezeugen die nachträglichen Erweiterungen von Codices und Rollen um zusätzliche Seiten oder Papier- bzw. Pergamentstreifen. Der gedruckte Text besitzt ebenfalls begrenzenden Angebotscharakter, dem jedoch nicht immer Folge geleistet wurde. Werk und Nutzer traten demnach in ein konkurrierendes, aber gleichzeitig auch synergetisches Verhältnis. Auch binnentextlich existieren Grenzen, die teils bewusst, teils unbewusst gewählt wurden und mal sichtbar, mal unsichtbar in Erscheinung traten. Entscheidend dabei ist die visuelle Gestaltung der Text- und Bildgrenzen. Auffällige bzw. unauffällige Kolophone erlauben so Rückschlüsse auf Intention und Selbstbild des Druckers, während in genealogischen Rollen im Vergleich zum Text ausgesprochen aufwendig gestaltete Wappen auf Funktion und Gebrauch der Stammbäume hindeuten können. Die kompilatorische Tradition mittelalterlicher Geschichtsschreibung setzte sich zudem selbst mit Werkgrenzen auseinander, denn Texte wurden oftmals ent- und übernommen, kommentiert, ediert und ergänzt sowie schließlich in neuen Werken vereint. In ihrer dezidierten Zusammenstellung spiegelt sich dabei auf inhaltlicher, nicht zuletzt aber auch visueller Ebene ein bewusstes Kommunikationsbestreben der Verfasser wider. Aus verschiedensten Blickrichtungen warfen die Referierenden Licht auf die unterschiedlichen Facetten von vormodernen Textgrenzen. Dabei machten sie deutlich, welche zentrale Stellung die Form von Text und Bild in den Schriftstücken jener Zeit einnahm und wie wichtig eine eingehende Untersuchung der spezifischen Materialität und der Grenzen, die sie hervorbringt, für eine umfassende Quellenkritik ist. Den TeilnehmerInnen des Workshops gelang damit die Eröffnung vielversprechender Forschungsperspektiven, die die Tagung zu einem für alle Beteiligten gewinnbringenden Abschluss brachte.
Konferenzübersicht:
Sektion I
Moderation: Aaron Vanides (Heidelberg)
Oliver Glaser (Wuppertal): Textgrenzen in lateinischen Manuskripten des früheren Mittelalters. Analyse und Deutung von Multi-Text-Handschriften diesseits und jenseits von Werk und Autor
Sylvia Brockstieger / Rebecca Hirt (beide Heidelberg): Rethinking the paratext between handwriting and print: the case of the calendaric diary
Sektion II
Moderation: Saskia Limbach (Mailand/Heidelberg)
Bart van Hees (Wuppertal): The whole is greater than the sum of its parts: The case of Frankish annals
Niklas Fröhlich (Wuppertal): Hucusque Hieronymus – Werkgrenzen und Werkschichten in der Überlieferung spätantiker Chronistik und ihre editorische Rekonstruktion
Sektion III
Moderation: Lisa Horstmann (Heidelberg)
Paul Schweitzer-Martin (Heidelberg): Abgrenzung von Text und Paratext in Inkunabeln
Matthias Kuhn (Heidelberg): Die Stammrollen der Markgrafen von Baden – Ein Einblick in die Materialität der Genealogie
Abigail Armstrong (Heidelberg): The Materiality of the Records of the Bishop of Durham’s Lordly Administration