Der östliche Teil Europas wird oft als homogener Block postsowjetischer Staaten wahrgenommen. Die teilweise fundamentalen Differenzen zwischen den Staaten erhalten ebenso wie deren nationale Besonderheiten selten Aufmerksamkeit. Seit einigen Jahren ändert sich das Bild und die Betrachtung dieses geographischen Raumes rückt in den Fokus der Öffentlichkeit. Die russische Einflussnahme auf Konflikte und kriegerische Auseinandersetzungen in Georgien, die autoritären Entwicklungen in Polen unter der PiS-Regierung und die beständige Auseinandersetzung mit der Geschichte der deutschen Besatzung im Zweiten Weltkrieg sind nur einige Beispiele für eine notwendige Thematisierung des (mittel-)osteuropäischen Raumes.
Im Rahmen des Workshops wurden vor dem Hintergrund zunehmender diskursiver Stränge die nationalen und staatenübergreifenden Charakteristika betrachtet, analysiert und diskutiert. Der Workshop musste aufgrund der gegenwärtigen Covid-19-Pandemie verschoben werden und fand als Online-Format statt. Beteiligt an der Organisation und Durchführung der Veranstaltung waren Eva Brinken (Marburg), Blondrit Demiri (Marburg), Dóra Hollstein (Marburg), Emely Keyn (Wien) und Momo Matern (Gießen). Der Workshop gliederte sich in zwei Panels.
HANS-JÜRGEN BÖMELBURG (Gießen) leitete in das Panel „Narrative und Nationalismen“ ein, indem er auf die Bedeutung des Austausches zwischen Studierenden, Promovierenden und Lehrenden verwies, der bereits während des Studiums stattfinden und über das eigene Institut hinausgehen sollte. Im Anschluss betrachtete er kritisch die zentralen Begriffe “Narrative” und “Nationalismen”. Ein Vergleich der beiden Begriffe sei wichtig, um diese zu analysieren und zu dekonstruieren. Bömelburg umriss Narrative als sinnstiftende Erzählungen. Ein Gegenentwurf könne in der Betrachtung von Praktiken und deren sinnstiftender Wirkung bestehen. Er betonte, dass mit der Dekonstruktion von bestehenden Narrativen zugleich eigene Narrative konstruiert würden. Die Betrachtung von Nationalismen und deren Konstruktion sei ein wichtiger Forschungsansatz in der Osteuropaforschung, dessen vergleichende Untersuchungen beispielsweise zu Typologisierungen (u.a. Kultur-, Religions- oder Sprachnationen) geführt habe, auf die heute auch andere Disziplinen zurückgreifen.
TIM KUCHARZEWSKI (Potsdam) untersuchte die Rezeption des russischen Militärs in der Popkultur her. Dabei wählte er mit Afghanistan, Tschetschenien und Georgien drei Fallbeispiele aus, anhand derer er die Darstellung des Krieges betrachtete. Nach einer Begriffseinführung stellte Kucharzewski einige Bilder vor, um auf den Aspekt der Popkultur einzugehen: Konflikte werden im Rahmen der Popkultur aufgegriffen und in Büchern, Filmen und Computerspielen verarbeitet. Die Auswirkungen von diesen popkulturellen Weitererzählungen können zur Entstehung von imaginary wars führen und die Wahrnehmung (perception) der Konflikte prägen. Am Beispiel des Georgienkrieges betonte Kucharzewski die Darstellung Georgiens als ursächlich verantwortlich für den Krieg in russischen Filmen. Im Gegensatz dazu werden in westlichen Filmen Russland Kriegsverbrechen vorgeworfen. Durch die entsprechende popkulturelle Darstellung, die geschichtsvermittelnd wirke, würden RezipientInnen ein einseitiges Bild des Konfliktes erlangen, das unliebsame Aspekte ausblendet.
Mit religiösen Narrativen im bulgarischen Nationalismus setzte sich VICTORIA VITANOVA (Leipzig) auseinander. Sie betrachtete diese am Beispiel der Inneren Mazedonischen Revolutionären Organisation – Bulgarische Nationale Bewegung (VMRO-BND). Ausgehend von einer historischen Einordnung stellte sie die Operationalisierung sowie theoretische Grundlagen ihrer Arbeit vor. Dabei betonte sie den theoretischen Ansatz des symphonischen Säkularismus. Vitanova nutzte eine qualitative Methodik, um die zentralen pejorativen sowie meliorativen Parteinarrative herauszuarbeiten.
FRIEDERIKE JAHN (Oldenburg) stellte die Thesen ihrer gerade begonnenen Arbeit vor, in der sie sich mit antideutschen Ressentiments in der Nachkriegszeit der Volksrepublik Polen beschäftigen wird. Das Ziel der Arbeit besteht in der Identifikation von historisch gewachsenen Ressentiments und Stereotypen in Bezug auf den Mythos der „Ziemie Odzyskane“ („Wiedergewonnenen Gebiete“). Jahn beschrieb in ihren Thesen die Angst vor einem deutschen Revanchismus mit Blick auf die polnischen Westgebiete.
MATTHIAS CICHON (Münster) setzte sich mit der slawischen Idee in Polen im Zeitraum 1944-1948 auseinander. Zum einen betrachtete er vor dem komplexen historischen Hintergrund die Art und Beständigkeit, in der diese Idee verfolgt wurde, zum anderen fokussierte er die beteiligten Akteure. Vor diesem Hintergrund führte Cichon in die Begriffe des Panslawismus und der panslawischen Idee ein. Sein Forschungsstand verdeutlichte, dass die slawische Idee in Polen sowohl Skepsis als auch begeisterte Unterstützung hervorrief.
In seiner Einführung in das Panel „Geschichtspolitik und Erinnerungskultur“ verwies CHRISTIAN LOTZ (Marburg) auf die Recherchemöglichkeiten des Herder-Instituts für historische Ostmitteleuropaforschung in Marburg, unter anderem auf dessen Bild- und Kartenkatalog. Anschließend führte er den Begriff der Erinnerungskultur ein. Erinnerungskultur sei stets von verschiedenen Faktoren beeinflusst, wie etwa Ökonomie, Gender, sozialem Status und den verschiedenen Perspektiven, durch die ein Ereignis erlebt wurde. Außerdem gehe es in der Forschung zur Erinnerungskultur auch darum zu untersuchen, wie dominante Diskurse und Narrative in Beziehung zu marginalisierten Diskursen stehen.
Der politische Faktor als Einfluss auf die Erinnerungskultur und -politik wurde im Beitrag von ALEXANDER SZALAPSKI (Berlin) deutlich. Er zeigte den Wandel der Geschichtsdarstellung Polens im Zweiten Weltkrieg durch die Einflussnahme der PiS-Regierung auf. Dieser Wandel werde im Ausstellungsabschnitt zum Holocaust im Museum des Zweiten Weltkrieges in Danzig sowie im Museum für die Familie Ulma in Markowa sichtbar. Er betonte, dass mittlerweile PolInnen als Opfer statt als ZeugInnen des deutschen Nationalsozialismus im Vordergrund stehen. Ergänzend dazu würden PolInnen eher als HeldInnen oder RetterInnen dargestellt. Die kritische Auseinandersetzung mit TäterInnen auf polnischer Seite käme zu kurz.
Mit einem weiteren Aspekt der polnischen Erinnerungskultur beschäftigte sich GREGOR CHRISTIANSMEYER (Göttingen). Er untersuchte, welche Rolle die deutsch-polnische Erinnerungskultur im Rahmen der Arbeit des Deutsch-Polnischen Jugendwerks (DPJW) seit seiner Gründung Anfang der 1990er Jahre spielt. Als problematisch beurteilte er, dass zahlreiche Unterlagen in Warschau aus den 1990er Jahren bereits vernichtet wurden. Zwar sei die Geschichte Deutschlands und Polens im Nationalsozialismus der Gründungsimpuls des DPJW gewesen, im Laufe der Zeit hätten sich die Prioritäten in der Arbeit des DPJW aber verschoben. Auf die Frage nach den ökonomischen Abhängigkeiten erklärte Christiansmeyer, dass das DPJW paritätisch organisiert sei und dass seit der PiS-Regierung die Förderungen erhöht wurden. Durch Bottom-up-Strukturen sei das DPJW dennoch kaum politisiert.
NATALIE STASIEWICZ (Freiburg) beschäftigte sich mit dem Einfluss von Frauen und Feminismus in polnischen Oppositionsbewegungen in den 1980er Jahren. Sie ging der Frage nach, welche Rolle Frauen in der Oppositionsbewegung spielten. Ergänzend betrachtete sie die Darstellung und Selbstdarstellung der historischen Akteurinnen. Da die Arbeit noch nicht weit fortgeschritten ist, ging es im Beitrag vor allem um die Herausforderungen der methodischen Arbeit, insbesondere narrativer Interviews unter Pandemiebedingungen. Generell sei das Thema von Frauen in Oppositionsbewegungen, mit Ausnahme der Solidarność-Bewegung, in der Forschung unterrepräsentiert. Daher beabsichtigt Stasiewicz, sich in ihrer Arbeit mit den Bewegungen „Orange Alternative“ und „Wolność i Pokój“ auseinanderzusetzen. In der Diskussion verdeutlichte sie, dass der Feminismusbegriff diskutiert werden müsse, da die gegenwärtige theoretische Perspektive sich vom staatlich-sozialistischen Feminismusbegriff der 1980er Jahre unterscheide.
Anschließend betrachtete JOHANNES SCHMIDT (Budapest) konfligierende Erinnerungen in Ostmitteleuropa, konkret setzte er sich mit unterschiedlichen Erinnerungskulturen an den Prager Frühling und den Polnischen März 1968 in Polen, Tschechien und der Slowakei auseinander. Im Vergleich zu Tschechien und dem Prager Frühling nehme der Polnische März eine erinnerungskulturell geringere Stellung in Polen ein. In beiden Fällen lasse sich aber erkennen, dass kein geeintes Narrativ existiere, sondern Erinnerungskonflikte offenbart werden.
Der studentisch und stipendiatisch organisierte Workshop ermöglichte NachwuchsforscherInnen, ihre Arbeiten vorzustellen und gemeinsam in Diskussion zu treten. Ein Großteil der Arbeiten beschäftigte sich mit der polnischen Geschichte. Durch diesen Umstand konnten intensive Diskussionen über den Forschungsstand zur polnischen Nachkriegszeit geführt werden. Einen besonderen Gewinn konnten die Teilnehmenden durch die interdisziplinäre Zusammensetzung der Gruppe erzielen. Die eingereichten Beiträge wurden aus verschiedenen Blickwinkeln betrachtet. Dies öffnete den Blick für die Auseinandersetzung mit und den Einbezug von weiteren Geisteswissenschaften in Bezug auf den Untersuchungsgegenstand.
Konferenzübersicht:
Emely Keyn (Wien): Begrüßung und Einführung
Panel I: Narrative und Nationalismen
Moderation: Hans-Jürgen Bömelburg (Gießen)
Tim Kucharzewski (Potsdam): Wars and the World. Russian Military in Afghanistan, the Caucasus and Popular Culture
Victoria Vitanova (Leipzig): Religiöse Narrative im gegenwärtigen bulgarischen Nationalismus. Eine religionswissenschaftliche Forschung am Beispiel der Inneren Mazedonischen Revolutionären Organisation – Bulgarische Nationale Bewegung (VMRO-BND)
Friederike Jahn (Oldenburg): The Rise and Function of Anti-German Resentment in Poland after the Transition and its Historical Foundations
Matthias E. Cichon (Münster): Aus der Moskauer Retorte? Die Slawische Idee in Polen 1944-1948
Panel II: Geschichtspolitik und Erinnerungskultur
Moderation: Christian Lotz (Marburg)
Alexander Szalapski (Berlin): Der Zweite Weltkrieg in polnischen Museen am Beispiel des polnischen Selbstbildes angesichts des Holocaust
Gregor Christiansmeyer (Göttingen): Reconciliation through Youth Exchange? Die erinnerungskulturelle Dimension der Arbeit des Deutsch-Polnischen Jugendwerks
Natalie Stasiewicz (Freiburg): Mütter, Töchter und Schwestern in Opposition. Frauen und Feminismus in polnischen Oppositionsbewegung der 1980er Jahre und ihre historiographische Aufarbeitung
Johannes Schmidt (Budapest): Konfligierende Erinnerungen an 1968 in Ostmitteleuropa. Eine Analyse unterschiedlicher Sichtweisen auf den Prager Frühling bzw. den Polnischen März in der Tschechischen Republik, der Slowakei und Polen
Emely Keyn (Wien): Schlussworte